Im Kino

Gehobener Weltschmerz

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
12.05.2010. Aus einer Roald-Dahl-Welt eine Wes-Anderson-Welt machen: In "Der fantastische Mr. Fox" gelingt das mit links. Von einem türkischen Sozialisten, den das Gefängnis zum lebenden Toten gemacht hat, erzählt Özcan Alper in "Herbst".


Erst eine stille Welt, handgemacht, Flickwerk, Landschaft von oben, wie gemalt. Dann kommt Leben rein, zunächst in Form von Schrumm-Schrumm-Musik. Nächstes Bild: Eine animierte Menschenhand hält ein Buch: Roald Dahls "The Fantastic Mr. Fox". Im Titel selbst der Verweis aufs andere Medium und man liegt wohl nicht falsch mit der Vermutung, dass die Hand, die man sieht, die von Wes Anderson selbst sein muss, die Pranke eines sehr zahmen Löwen. Eines zahmen Löwen, der Welten schafft und um die von ihm geschaffenen Welten luftdichte Rahmen zieht, dafür im Innern des Rahmens alles umso mehr vollstopft: mit Anspielungen, Mise-en-abyme-Verdopplungen (zum Beispiel wird in der wie gemalten Landschaft Landschaftsmalerei auftauchen, später), mit gehobenem Weltschmerz, gepflegten Neurosen und vermittelten Ausdrucksformen fürs Gefühl, insbesondere Popmusik.

Nach der Pranke des Löwen (Wes Andersons Menschenhand): Eine symmetrisch geordnete Totale (immer ist äußerlich Ordnung in der Anderson-Welt), in der Totale unter vorüberziehendem feuer-erd-farbenem Himmel ein Hügel, in der Mitte ein erdfarbener Baum, vor dem Baum ein Fuchs, der Sportübungen macht. Dazu spielt im Walkman-Radio das Lied von Davy Crockett, legendärer Ur-Amerikaner, der in der heroisch verlorenen Schlacht um den Alamo starb. In San Antonio, Texas, Wes Andersons Heimatstaat. Das nebenbei, aber es ist eine typische Intarsie, mit der der britische Fuchs nach Amerika übergesiedelt wird, und zwar noch bevor er den Mund aufmacht und mit der Stimme George Clooneys spricht. Im Original nur, aber niemand wird ausgerechnet diesen Film synchronisiert sehen wollen, der Stimmen Meryl Streeps (Mrs. Fox), Jason Schwartzmans (Sohn Ash), Bill Murray (der Anwalt, ein Dachs) oder Willem Defoes (übergelaufene Ratte) wegen, aber auch deshalb, weil zusätzlich die bösen Bauern (Boggis, Bunce and Bean - Grob, Grimm, Greulich auf Deutsch, das allein schon) Britisch sprechen und die wilden Tiere Amerikanisch.

Der Fuchs auf dem Hügel trägt einen erdfuchsfarbenen Cord-Anzug, sehr elegant, und gemeinsam mit seiner Füchsin geht er Täubchen rauben beim Bauern Berk. Damit geht es schwungvoll hinein in die Handlung, mit Stibitzen, mit Rennen und Flüchten. Und schwungvoll heißt hier: Da ist nicht nur Bewegung, sondern es ist da ein Vergnügen am Bewegungsüberschuss zu schmissigster Popmusik. Diebin und Dieb flitzen wie beim Parkours durch ein Gelände, in dem ihnen alles, was Widerstand bietet, zum Überwindungslust-Objekt wird. Sie robben über den Boden, schlagen Rad, flanken im gemeinsamen Hand-in-Handstand über den Zaun. Von links nach rechts, im Grunde videospiellogisch tun sie das, in einer flüssigen Seitwärtsbewegung folgt ihnen die Kamera auf dem Fuß.



Wundersame, wunderbare Ökonomie: Eine Bewegung, die Ziele, Effizienz, Nutzen hinter sich lässt, eine Bewegung allerdings, die mit einer Stillstellung endet. Fuchs und Füchsin aus eigener Dummheit (seiner) hinter Gittern. Damit ist der Prolog vorbei, die ökönomische Logik bleibt erhalten. Feier des Überschusses, etwa, wenn der etwas großmäulige Mr. Fox immer wieder schön überflüssig sein Trademark-Zeichen von sich gibt - ein Pfeifen, ein Handschnippen -, eigentlich etwas alberner, vielleicht sogar peinlicher Blödsinn. Es ist aber dieser Zusammenstoß von Rahmungs- und Ordnungs-Obsession mit der Ineffizienz des Exzentrischen (oder der Zusammenstoß von Totalitarismus und Anarchie), der den Reiz und den Reichtum nicht nur dieses Wes-Anderson-Films ausmacht. Hier kommt dazu, dass dies im durchregulierbaren Traumland der Animation sich ereignet, jenem Unterbereich der Bewegtbildkunst also, in dem sich dem Macher und seiner Machwut in letzter Instanz nichts entziehen muss. Bild für Bild, Kader für Kader, Ruck um Ruck der Kamera wie der Puppen: nichts gerät, von einer gewissen Widerständigkeit des Materials einmal abgesehen, zwischen Wille und Ausführung.

Aus diesen schönen Widersprüchen strickt Anderson (Drehbuch gemeinsam mit "Greenberg"-Regisseur Noah Baumbach) die Dahl-Geschichte der Vorlage um. Er erzählt von wilden - naja, "wilden" - Tieren, die nicht aus ihrem Fell können und einem Anführer, der mit seiner Selbstüberschätzung Unheil meist eher als Heil anrichtet und dem man dennoch seine Sympathie nicht versagen kann. Und er erzählt von wilden Tieren, denen böse Bauern ans Leder wollen, nur weil diese tun, was ein wildes Tier nun mal tun muss: Lebendes und Eingemachtes stibitzen. Umgestellt wird dabei, von Dahl zu Anderson, fraglos von Klassenkampf auf Psychodrama - jeder kämpft hier, bei seinem lateinischen Namen gerufen, psychotherapeutisch sehr viel eher für sich als für eine bessere Gesellschaft. Neurosen interessieren Anderson weit mehr als Eigentumsverhältnisse und wenn darin eine politische (oder auch nur überpersönlich-gesellschaftliche) Sicht auf die Gesellschaft steckt, dann wäre es die, dass nur, wer mit sich selbst und seinen Neurosen halbwegs im Reinen ist, in einer Gesellschaft der stets Beschädigten keinen anderen mehr beschädigt. ("Hurt people hurt people" - "Verletzte verletzen" - lautet der zentrale Aphorismus in Noah Baumbachs "Greenberg".)

Ja, es ist dies - bei Baumbach wie Anderson - eine Wohlstandsjüngelchenweltsicht. Was aber wieder für diese Sicht spricht, bei Anderson jedenfalls, ist: sein Wille zur Künstlichkeit einerseits, denn in diesem liegt programmatisch ein fraglos popgeschulter Verzicht auf authentizistische Unterkomplexität; und sein Wille andererseits, dem Schmerz in seiner destruktiven und selbstdestruktiven Kraft auf den Grund zu gehen, ohne die Verstrickung von Lust und Schmerz aus dem Blick zu verlieren, die Möglichkeit also nicht zuletzt, aus dem Schmerz auch Lust zu ziehen (durch Sublimierung - in/als Anderson-Kunst).



Und dies alles, Schmerz wie Lust, Lust am Schmerz, Schmerz über Lust, findet zur Form, die den Widerspruch austrägt: in ihrer obsessiven Fetischisierung des Aufgeräumten, des Abgedichteten, des Verpackten und des Verdosten ebenso wie in ihrer Lust an mal sanfter, mal rabiater Exzentrik, an anarchischem Handstandüberschlag, an der Bewegung des Wolfs vor der Stadt und dem Tanz von Familie und Freunden im Supermarkt. Das bleibt gewiss deformiert von einem oft bestürzenden Zwang, bei alledem immer cool auszusehen, die richtige Musik zu spielen und hippe Kleidung zu tragen. Wenn man ehrlich ist, lehren die stets hinreißenden Filme von Wes Anderson aber mindestens dies: Auch fantastische Hipster-Füchse kennen echten Schmerz.

Ekkehard Knörer


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Der Film beginnt im Gefängnis: Zehn Jahre lang war Yusuf (Onur Saylak), ein ehemaliger kommunistischer Aktivist, inhaftiert, den letzten Abschnitt der Strafe musste er in einer Typ-F-Hochsicherheitsstrafvollzugsanstalt für Schwerkriminelle absitzen. Deren Einführung war im Jahr 2000 Anlass einer politischen Krise in der Türkei. Zahlreiche Häftlinge in verschiedenen Gefängnissen begannen einen Hungerstreik, der erst 2006 beendet wurde und hunderte Todesopfer forderte. Yusuf hat überlebt, aber ist gesundheitlich schwer angeschlagen; sein keuchendes Husten durchdringt den gesamten Film. Vor der Entlassung untersucht ihn ein Arzt. Yusufs Blick schweift aus dem Fenster, auf einen Vogel, der direkt hinter der Scheibe sitzt.

Yusuf blickt viel und tut wenig in diesem Film. Er kehrt per Bus in seine Heimat zurück, in ein kleines Dorf am schwarzen Meer im Nordosten des Landes, seine Mutter und die anderen Alten sprechen nicht Türkisch, sondern Hemsin, einen armenischen Dialekt. Er steht dann vor der Hütte, schaut Kindern beim Spielen zu, blickt übers Tal, hustet. Auch die bittersüße und - wie im türkischen Kino nicht unüblich - schwermütig-melodramatische und zumindest latent tränenselige Romanze mit einer georgischen Prostituierten funktioniert fast nur über Blicke: in Kneipen bei trauriger Musik, im Buchladen, durch Fenster. Zu sagen haben die beiden sich nicht viel: "Du hast also die besten Jahre deines Lebens im Gefängnis verbracht, weil du den Sozialismus wolltest? Bist du verrückt?" Er steht vor der Hütte und blickt auf die Hügel, sie steht hinter ihrem Fenster und blickt aufs Meer.



Man muss diesen Film im Kino sehen, weil erst die Materialität des 16mm-Materials die entrückte Schönheit dieser Natur zur Geltung bringt. Und weil nur im Kino die defizitären Fernsehbilder, die zwischendurch in den Film eindringen, eben als Eindringlinge, als Disruptionen erkennbar sind. Diese defizitären Bilder sind Originalaufnahmen sowohl aus der Zeit des Hungerstreiks als auch vom brutalen Vorgehen der Polizei gegen linke Demonstranten in den Neunziger Jahren. Die eindrücklichste derartige Sequenz wird getriggert durch einen gepfiffenen Protestsong und durch alte Fotografien aus Yusufs Vergangenheit. Für einige Momente verwandelt sich der Film ganz dem revolutionären Pathos der dokumentarischen Bilder an. Aber deren Nachhall verpufft schnell wieder in den Naturbildern. Einige Kritiken haben Regisseur Özcan Alper den emphatischen Einsatz dieser Bilder übelgenommen. Aber sie wegzunehmen, hieße, diesen Film seines politischen Kerns, seiner konkreten Referenz zu berauben. Übrig bliebe dann ort- und zeitloses world cinema. Eher verzichten können hätte man auf die eine oder andere etwas aufdringliche Metapher: Aufs hallende Ticken der Uhr auf der Tonspur, das Yusufs ablaufende Lebenszeit anzeigt, zum Beispiel.

Aber man verzeiht diesen Bildern derart kurze Momente ihrer semantischen Überformung. Meistens spricht die Natur für sich selbst. Nebel über malerischen Wäldern, Tau auf Blättern, das Rauschen des Winds, später majestätische Schneelandschaften. Wunderschön ist die Natur, aber diese Schönheit ist in "Sonbahar" immer nur Teil, Aspekt oder Spiegel des Leids. Weil sie für Yusuf nichts anderes mehr ist als ein Objekt seiner Blicke. Oft ist die Natur gerahmt: Durch geöffnete Türen und Fenster blickt die Kamera ins Grüne. Yusuf selbst ist ein lebender Toter, der kaum noch einen Bezug hat zu dem, was ihn umgibt. Der alte Kumpel Mikhail, einst ebenfalls politisch agitiert, hat sich mit dem langsamen Leben in der Provinz abgefunden. Mit ihm unternimmt er Ausflüge, in die nahe gelegene Kleinstadt, in die Berge. Aber viel kann dabei nicht herauskommen für Yusuf. Die großen Schlachten sind geschlagen, es bleiben nur noch die Blicke. 

Lukas Foerster


Der fantastische Mr. Fox. USA 2009 - Originaltitel: The Fantastic Mr. Fox - Regie: Wes Anderson

Herbst. Deutschland / Türkei 2008 - Originaltitel: Sonbahar - Regie: Özcan Alper - Darsteller: Onur Saylak, Megi Kobaladze, Raife Yenigül, Serkan Keskin, Nino Lejava, Sibel Öz