Im Kino

Mensch und Ding

Die Filmkolumne. Von Sebastian Markt, Fabian Tietke
21.04.2021. Ghassan Salhabs Vampirfilm "The Last Man" begleitet einen Arzt mit einer Faszination für Hälse durch das vom Bürgerkrieg gezeichnete Beirut. Und Ben Falcones Superheldinnenfilm "Thunder Force" mit Octavia Spencer und Melissa McCarthy quetscht seine üppigen Heldinnen in einen lilafarbenen Dienstlamborghini, womit der Witz des Films auch schon beschrieben ist.


"The Last Man" beginnt mit Versatzstücken. Meeresbrandung an der Küste, eine Tote im Bett, eine Flamencotänzerin, Unterwasseraufnahmen. Mit einem Mal blendet den Arzt Khalil, als er von einem Tauchgang vor der Küste von Beirut zurückkommt, die Sonne. Die Polizei hat unterdessen alle Hände voll zu tun. Opfer nach Opfer wird in den Straßen von Beirut mit seltsamen Wunden am Hals aufgefunden. Regisseur Ghassan Salhab lässt die Handlung seines Films erst allmählich zu Tage treten, verwebt aber von Beginn an die Leiden des Arztes mit den Toten, die in immer kürzeren Abständen gefunden werden.

Die Leichen werden zur Obduktion in jenes Krankenhaus gebracht, in dem Khalil als Arzt arbeitet. Dieser Kunstgriff erlaubt es Salhab, die Handlungsorte reduziert zu halten. Oft wird nur kurz das Auffinden der Leichen gezeigt, dann kehrt der Film wieder zu Khalils Pendeln zwischen der Arbeit im Krankenhaus und seiner Freizeit zurück.

Während draußen der Regen in Strömen fällt, sitzt Khalil plaudernd mit Freunden in einem Restaurant. Inmitten des Gesprächs weicht der Regen strahlendem Sonnenschein. "Verdammte Sonne!" entfährt es Khalil. Die Szene ist eine der wenigen, die den Arzt in einer Gruppe von Menschen zeigt. Die meiste Zeit bewegt sich Khalil durch die Welt, als bliebe er von ihr unberührt. Die Umgebung scheint sich an ihm vorbei zu schieben. Die Kameraarbeit betont diese Entrücktheit, indem sie ihn vom Hintergrund löst. Khalils einzige erkennbare Faszination sind Hälse. Immer wieder starrt Khalil versonnen auf Hälse. "The Last Man" ist - die Faszination für Hälse, die Wirkung des Sonnenlichts haben es schon vermuten lassen - ein Vampirfilm.

Salhabs Film entstand in einer Zeit der Transformation. Der Abzug der israelischen Truppen im Jahr 2000 gilt gemeinhin als Ende des Bürgerkriegs, der den Libanon seit 1975 erschüttert hatte. Die folgenden Jahre brachten dem Land etwas größere Unabhängigkeit von Syrien, die Ermordung des Premierministers Rafik Hariri und in der Folge die Zedernrevolution. Diese wurde kurz darauf zwischen dem Krieg gegen Israel, den die Hisbollah 2006 vom Zaun brach, und dem Konflikt zwischen der islamistischen Terrororganisation Fatah al-Islam und der libanesischen Armee zerrieben. Tony Chakar schreibt in einer Besprechung des Films: "Wenn man die Reflexion eines Vampirs nicht sehen kann, wie kann er dann in einem Film erscheinen? Wenn eine Stadt so darauf aus ist, ihre Abgründe zu verbergen und zu vergessen, wie kann man sie dann darstellen?" Die Sprachlosigkeit über die Spuren und Ursprünge des Bürgerkriegs in Beirut, die Chakar anspricht, bilden den Hintergrund von "The Last Man".

"The Last Man", der als Fernsehfilm entstand, sind die Manierismen von Salhabs übrigen Filmen nicht fremd, doch kontrastiert der Regisseur sie dieses Mal mit einer subtilen Spannung. Der Film wird getragen von seinem Hauptdarsteller, Carlos Chahine. Chahine spielt Khalil mit großer Zurückhaltung und Sinn für Details. Auch körperlich erweist er sich als Idealbesetzung. Durch seine Größe überragt er sein Umfeld um einen Kopf. Chahines Khalil ist hervorgehoben, ohne dass es dafür inszenatorische Sperenzchen braucht. Die Mordermittlungen spielen eine untergeordnete Rolle. Ihr zentraler Teil scheint sich überdies im Krankenhaus abzuspielen. Es ist mehr von den Untersuchungen der Toten durch die Ärzte zu sehen als von den Ermittlungen der Polizei. Als die Polizei schließlich einen Verhafteten präsentiert, bleibt unklar, ob es sich um den wahren Täter handelt oder nur ein schneller Ermittlungserfolg her musste.

Ghassan Salhabs "The Last Man" spielt mit Genrekonventionen und Zeithintergründen und kondensiert diese zu einem klugen Film über den Libanon zum Zeitpunkt seiner Entstehung. Sichtbares und Unsichtbares, Bewusstes und Unbewusstes durchwogen den Film. Diese Vagheit gibt Salhab die Freiheit für die kommentierenden Elemente des Films: die Darstellung der Behörden. Ein Film, der eine Wiederentdeckung lohnt.

Fabian Tietke

The Last Man - Libanon 2006 - OT: Atlal - Regie: Ghassan Salhab - Darsteller: Carlos Chahine, Raia Haidar, Faek Homaissi, Raymond Hosni - Laufzeit: 101 Minuten.
"The Last Man" läuft im Rahmen des Programms "Genre revisited" des arabischen Filmfestivals Alfilm.

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Gemessen daran, wie sehr die Figur des Superhelden (seltener: der Super-Heldin) in Franchiseform das aktuelle Kinogeschehen und vor allem auch dessen Business derzeit bestimmt, sind Filme, die einen reflexiven Bezug auf das Genre (oder aber wenn man gewissen alt-ehrwürdigen Autoren folgt, auf etwas, das man in seiner gegenwärtigen Emanation aus dem übrigen Kino am besten herausrechnet) verhältnismäßig selten. Dabei läge es durchaus nahe, der marktträchtigen Faszination für Figuren, die die Fähigkeit besitzen, Schicksal wie Naturgesetzen zu trotzen, auch mit filmischen Mitteln nachzugehen, nicht zuletzt in einer (Kino-)Gegenwart, die ansonsten eher von gespenstischen Subjektivitäten heimgesucht ist, im beständigen Zweifel über die eigene Wirksamkeit, fragilen Präsenzen, die aus der Welt zu fallen drohen. Was hat es da mit Figuren auf sich, die - in halbwegs origineller Konsequenz - etwa in Zack Synders Fantasien als spektakulär ganze Häuserblocks durchschlagende Projektil-Männer so sehr über-menschlich sind, dass sie fast den Unterschied zwischen Mensch und Ding kassieren?

Reflexive Momente finden sich durchaus in den Filmen selbst, allen voran als die Frage danach, was denn nun das Heldenhafte an den Held*inne sein möge, aber auch als spielerische Miniaturen, wenn zum Beispiel in "Thor - Tag der Entscheidung" die Figuren auf sich selbst blicken, als "ironisch" mit Matt Damon besetztes Theaterstück im Film, als augenzwinkernde Selbstpersiflage. So etwas hat allerdings selten den Effekt, die eigenen Voraussetzungen zu hinterfragen und mit unserer realen Welt abzugleichen, und stellt eher den Versuch dar, sich selbst in Richtung universeller Gültigkeit abzudichten.

Die Welt in Ben Falcones "Thunder Force" ist mit schnellen - im Prolog tatsächlichen Comiczeichnungen nachempfundenen - Strichen skizziert: In den 80er Jahren verleiht plötzlich auftretende kosmische Strahlung manchen Menschen übermenschliche Kräfte; aber ausgerechnet nur jenen, die soziopathische Tendenzen haben. Die filmische Gegenwart wird daraufhin von bemerkenswerterweise hauptsächlich lokal, und das heißt in diesem Fall: in Chicago agierenden Superkriminellen heimgesucht. Ihrem Treiben ein Ende zu bereiten hat sich Emily (Octavia Spencer) zur Lebensaufgabe gesetzt, seit jene Unholde sie in Kindheitstagen zur Vollweise gemacht haben. Seither hat sie es immerhin schon zur forschenden Konzernchefin gebracht. Ihre ehemals beste und mittlerweile gänzlich entfremdete Freundin Lydia (Melissa McCarthy) hingegen fährt Gabelstapler.

Als Lydia, enttäuscht darüber, Emily nicht beim 25-jährigen Schulabschlussjubiläum anzutreffen, diese in ihrem Labor besucht, injiziert sie sich versehentlich mit einem Serum, dass ihr Superkräfte verleiht. Für Emily, die das Serum entwickelt hatte, um sich selbst Kräfte zu verleihen und auf Feldzug gegen die Superschurken gehen zu können, bleiben noch unsichtbar machende Pillen. In ihrem Kampf, der insbesondere dem Oberschurken William 'The King" Stevens (Bobby Cannavale) gilt, der sich unter Geheimhaltung seiner Kräfte gerade anschickt, Bürgermeister zu werden, muss sie sich nun wohl oder übel darauf einlassen, mit der ex-besten Freundin ein Team verteilter Fähigkeiten zu bilden. Der weitere grobe Verlauf der Komödie folgt recht vorhersehbaren Bahnen.

So sehr der Film in seinem Pitch signifikante Abweichungen zu dem, worauf er sich bezieht, skizziert, so wenig mag er damit anzufangen. Aus der Idee, dass Superkräfte zuallererst Soziopathen zukommen, folgt weiter nichts, am ehesten bleibt von den farblosen Antagonist*innen noch Jason Batemans "The Crab" in Erinnerung, dessen recht zweifelhafte Suprigkeit in der Tatsache besteht, halb Mensch, halb Schalentier zu sein. Dass in den Rollen der Heldinnen zwei 50-jährige komödiantische Ausnahmeschauspielerinnen divergenter Physis agieren, hilft wenig, wenn das, was ihnen das Drehbuch an komödiantischem Spielraum zur Verfügung stellt, sich bestenfalls in den Lücken ausbreiten kann, die der Plot lässt. So etwa in einem Moment, in dem Spencer und McCarthy sich vergeblich mühen, halbwegs behende aus den tiefen Schalensitzen ihres lilafarbenen Dienstlamborghinis zu steigen. Das ist für einmal tatsächlich komisch, aber auch schon alles, was von der an sich recht bestechenden Idee bleibt, in dem Koordinatensystem, das zuweist, welche Körper wozu fähig sind, Unruhe zu stiften.

Abgesehen davon, dass viele der vermeintlichen Späße reichlich blass bleiben, ist das vielleicht das Grundproblem des Films: Anstatt die erhellenden Momente komischer Verschiebung zum Grundprinzip zu machen, wird es zu einer mehr schlecht als recht funktionierenden Beigabe. Die wiederum einen Film zieren soll, der ansonsten allen Konventionen des Genres treu bleibt, dessen Funktionieren er sich zunutze machen möchte. Man mag es verfehlt nennen, "Thunder Force" ein anderes Ziel zu unterstellen als das, das der Film sich nun einmal selbst gesetzt hat; schade bleibt die verpasste Chance allemal. Der Schluss, den der der Film manchmal zu suggerieren scheint, dass das Superheld*innen-Kino eine selbstgenügsame Form erreicht hat, die kein Außen mehr kennt, wäre jedenfalls der falsche.

Sebastian Markt

Thunder Force - USA 2021 - Regie: Ben Falcone - Darsteller: Melissa McCarthy, Octavia Spencer, Jason Bateman, Bobby Cannacale, Pom Klementieff, Melissa Leo - Laufzeit: 106 Minuten. "Thunder Force" auf Netflix.