Im Kino

Das bisschen Licht

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Thekla Dannenberg
25.11.2020. Arnaud Desplechin erzählt in "Roubaix, une lumière" von einem sinnlosen Mord an einer alten Frau im armen und grauen Norden Frankreichs. Ben Wheatleys Remake von Daphne du Mauriers "Rebecca" setzt weniger auf Grusel als auf sentimentale Umdichtung.


Selbst am Tag herrscht Düsternis in Roubaix. Auf der Stadt im Norden Frankreichs lastet das ganze Jahr über schwerer Dunst, bedrückender jedoch ist die Armut, in der die Hälfte der Bevölkerung lebt. Roubaix hält den traurigen Rekord, die ärmste Stadt Frankreichs zu sein. Elender ist es nur jenseits der Grenze, in Belgien.

Selbst die Verbrechen in Roubaix sind jämmerlich: Betrunkene Nachbarn gehen mit Messern aufeinander los. Kleingangster erbeuten beim Überfall auf eine Boulangerie für zwanzig Euro. Ein Mann fackelt sein Auto ab, um von der Versicherung Geld zu kassieren, er verbrennt sich dabei selbst und schiebt die Schuld auf Araber. Verbrechen der Armut und der Verzweiflung. Sie zeugen von sozialer Misere ebenso wie von menschlicher. Das bisschen Licht in dieser Stadt kommt von der künstlichen Weihnachtsbeleuchtung, die über den verwaisten Einkaufsstraßen hängt, oder vom Blaulicht der Polizeiwagen, das die Nacht zerschneidet.

Besonders schäbig war der Mord an einer alten Frau im Jahr 2008. Zwei Nachbarinnen haben sie getötet, aus Wut, Frustration oder Langeweile. Viel war bei der alten Dame nicht zu holen, ein paar Medikamente, ein Fernseher, Putzmittel. Ein abscheulicher, sinnloser Mord. Kein Aufstand gegen das eigene Unglück, kein Versuch, sich aus dem Elend zu befreien. Ganz Frankreich kennt den Fall, der Dokumentarfilmer Mosco Boucault hat mit ihm Sensation gemacht: Die beiden Frauen gestanden den Mord vor laufender Kamera. True Crime meets Reality-TV.



Gut zehn Jahre später eignet sich Regisseur Arnaud Desplechin den Stoff an. Desplechin kommt aus Roubaix, etliche seiner - stets erstklassig besetzten - Filme spielen dort, wie etwa sein zärtliches Familiendrama "Ein Weihnachtmärchen". Mit seinem dunkel schillernden Noir "Roubaix, une lumière" setzt er dem wahren Fall eine Fiktion entgegen. Als könne er den Mord in seiner Sinnlosigkeit nicht stehen lassen. Er erhebt die traurig-kaputte Geschichte des Verbrechens zu einem tragischen Gesang.

Der junge Inspektor Coterelle (Antoine Reinartz) kommt in die Stadt, er hatte eigentlich Priester werden wollen, nun folgt er einer anderen Berufung. Er will für die Seelen der Stadt sorgen, von denen er weiß, dass sie verloren und schuldig sind. Er glaubt an seinen Chef, den Kommissar Daoud, eine Autorität innerhalb der Polizei und in der Stadt. Roschdy Zem verleiht diesem Kommissar, der im Kampf gegen das Böse so viele Niederlagen hat einstecken müssen, Züge von Demut und Erhabenheit zugleich. Daoud ist in der Stadt aufgewachsen, in Epeule, der Rest seiner Familie ist längst nach Algerien zurückgekehrt, nur sein Neffe ist noch da. Er sitzt im Gefängnis und weigert sich, mit seinem Onkel zu sprechen. Er will ihm nicht einmal in die Augen blicken.



Der Kommissar kennt das soziale und menschliche Elend, die verlorenen Kinder der Stadt, ihre Mütter, ihre Väter. Die Eltern der siebzehnjährigen Nadia melden erst nach fünf Wochen, dass sie von zu Hause weggelaufen ist. Warum sie immer wieder vor ihrem Vater flieht, lässt sich nur ahnen. Geht sie schon in Belgien auf den Strich? Ihr Onkel nimmt sie auf, aber er verständigt auch den Kommissar: "Mein Bruder ist, wie er ist", sagt er nur traurig. Dafür bekommt er die ganz Verachtung seiner Nichte zu spüren. Verräter. Doch der Kommissar gebietet ihr Einhalt: "Dein Onkel war ein Prinz." Schön, kraftvoll, voller Leben. Aber wenn sie tanzen gehen wollten, mussten sie bis Ostende fahren. Und auch das vergeblich. "Keine Hunde und keine Araber" stand auf den Türen der Diskotheken. "Also, senke Deinen Blick!"

Der Mord an der alte Dame ereignet sich in der Mitte des Films, zu dem Zeitpunkt kennen wir die Täterinnen schon. Claude und Marie, grandios besetzt mit Léa Seydoux und Sara Forestier, haben bereits eine Nachbarwohnung ausgeraubt und in Brand gesteckt und anschließend zwei völlig unschuldige Männer belastet. Kommissar Doaud genügt ein Blick auf die beiden Frauen, um ihr Spiel zu durchschauen.

Doch damit will er sich nicht zufrieden geben. Er will, dass die beiden ihre Tat gestehen. Mehr Priester als Polizist drängt er die beiden zur Wahrheit. Doch sie leugnen. Hart, manipulativ und schön die eine, schwach und kindisch die andere. Claude hat einen sechsjährigen Sohn, für den zu kämpfen sich lohnt und den sie geschickt als Waffe einzusetzen versteht. Marie hat nur Claude. Léa Seydoux und Sara Forestier fügen sich mit beachtlicher Bescheidenheit in ihre trostlose Rollen, ohne sie je zu denunzieren.

Alles in dem Film ist dunkel und trist, die Straßen der Stadt, die Räume im Polizeirevier, die Hinterhöfe, die Wohnungen. Türen sind geschlossen, die Gänge eng, die Zellen vergittert. Der ernste, einsame Kommissar, der sein Herz lieber an Katzen und Pferde hängt als an Menschen, sucht das Licht, die Erlösung durch die Wahrheit. Doch wenn er lächelt, erkennt man: Er selbst ist die Lichtgestalt. In diesem geradezu metaphysischen Noir ist der Kommissar mit algerischen Wurzeln, der von seinem katholischen Inspektor bewundert, angebetet und verklärt wird, die Gnade, auf die Roubaix hoffen darf.

Thekla Dannenberg

Roubaix, une lumière - Frankreich 2019 - Regie: Arnaud Desplechin - Darsteller: Avec Roschdy Zem, Léa Seydoux, Sara Forestier und Antoine Reinartz - 120 Minuten. "Roubaix, une lumière" im Online Programm der Französischen Filmwoche von 26. November bis 2. Dezember.

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Ein Remake von "Rebecca", ist das Adaptionsarbeit an Daphne du Mauriers Erfolgsroman oder Neuauflage des berühmten Hitchcock-Films, ein bisschen von beidem oder etwas ganz anderes? Mit den intertextuellen Verlockungen nicht totzukriegender Stoffe fängt es nämlich schon an. Sie werfen die Frage auf, wie eine Bearbeitung sich zum Originalmaterial und bisherigen Bearbeitungen verhält und was davon im Einzelnen überhaupt noch Bearbeitung ist. Ob sie als Reaktion auf die Summe ihrer Vorlagen zur Verbindlichkeit neigt oder einem diffusen Originalitätsdruck erliegt.

Originell ist Ben Wheatleys "Rebecca" eher nicht, was man sehr angenehm finden kann. Prononciert scheinen die Erzählung und ihre zeitlichen wie geografischen Bezugspunkte am Ursprungstext ausgerichtet. Also lernt auch in der neuen Version ein junges Mündel (deren Namen wir auch diesmal nicht erfahren) im Jahr 1938 den forschen Gutsbesitzer im sonnigsten aller filmischen Monte Carlos kennen, um dann als Lady de Winter das prunkvolle Anwesen Manderley zu beziehen - ein von der Allgegenwart ihrer auf mysteriöse Weise verstorbenen Vorgängerin im Leben des Mannes Rebecca heimgesuchter Ort unterdrückter Begehrlichkeiten, die mit Neuverheiratung und Rückkehr zur Ordnung nicht unter Verschluss zu halten sind.

Mit der Treue zum Roman treten einerseits die Unterschiede gegenüber Hitchcocks gründlich ins Sinistre verschobenen Interpretation des Stoffes zutage (am Beginn der Geschichte stand da noch ein Selbstmordversuch des unglücklichen Maxim de Winter, dessen von männlicher Versagensangst herrührende Virilität jetzt wieder romantischer Undurchsichtigkeit weicht); andererseits werden gerade die Gemeinsamkeiten oder vielmehr Anerkennungsgesten in Richtung des Großmeisters unterstrichen. Wie bei Hitchcock wirft das Schicksal Manderleys auch diesmal lange Schatten voraus, weisen die leuchtenden Augen der heimtückischen Haushälterin Mrs. Danvers durch das Dunkel der Schlosswindungen.



Es wäre verwunderlich, würde der gleichermaßen körperlichen ("Kill List") wie psychologischen ("Sightseers") Horrorvorstellungen zugeneigte Genrefilmemacher Ben Wheatley die ohnehin allgegenwärtige Kinosemantik Hitchcocks nicht lebhaft umarmen. So umkreisen in seiner "Rebecca"-Variante nicht nur Unheil verkündende Vogelscharen das Grundstück des Wohnsitzes, und Reflexionen eines bunten Feuerwerks bringen nachtschwarze Räume zum Glühen, wie einst in "Über den Dächern von Nizza" Grace Kellys Hotelzimmer (eines der schönsten Hitchcock-Zitate seit langer Zeit).

Mit seiner Doppelstrategie aus Textnähe und Filmhuldigung sucht Wheatley gewissermaßen einen Mittelweg, platziert "Rebecca" dadurch allerdings auch zwischen den Stühlen. Ästhetisch macht die gediegene, mit diskreten Anflügen von Grusel untersetzte Neufassung einen unerwartet beherrschten Eindruck - aber es gelingt ihr nicht, Manderley selbst, dem zentralen Ort der Handlung, der in der ersten Verfilmung als ein von riesigen Vorhängen bedeckter, schauerlicher Aristokratentempel inszeniert war, einen eigenen Charakter zu verleihen. Diese Zurückhaltung überträgt sich auch auf jene Motive, die den eigentlichen Reiz des abgründigen Stoffes ausmachen. Vom Beziehungssadismus der Hauptfiguren oder den nekrophilen Gelüsten der Hinterbliebenen, die Rebeccas Vermächtnis fetischisieren, möchte Wheatley jedenfalls nicht viel wissen.



Dass aus dem asexuellen Zweckbündnis schließlich ein Liebespaar auf Augenhöhe wird, das sich am Strand der Côte d'Azur zärtlich vergnügt (so weder im Roman noch bei Hitchcock zu finden), ist als sentimentale Umdichtung der Geschichte andererseits vielleicht der interessanteste Aspekt des neuen "Rebecca"-Films. Die einst noch Unbehagen evozierende Homoerotik der ihrer Hausherrin nachtrauenden Mrs. Danvers kann unter diesen Voraussetzungen aus dem Subtext gelöst und gefühlvoll umgedeutet werden. "Rebecca war mein Leben", versichert sie der neuen Lady de Winter gänzlich unverblümt, während sie das Negligé der Verstorbenen trägt.

"Rebecca" hat es nicht ins Kino geschafft, war jedoch als Netflix-Produktion schon lange vor der Coronavirus-Pandemie auf eine Veröffentlichung per Streaming festgelegt. Alfred Hitchcocks nunmehr 80 Jahre alte Version sucht man bei kommerziellen Streaming-Anbietern hingegen vergebens. Immerhin die deutsche Synchronfassung lässt sich in spärlicher Qualität legal auf YouTube ansehen.

Rajko Burchardt

Rebecca - GB 2020 - Regie: Ben Wheatley - Darsteller: Lily James, Ann Dowd, Kristin Scott Thomas, Armie Hammer, Ashleigh Reynolds - Laufzeit: 121 Minuten. "Rebecca" bei Netflix.