Im Kino

Ein ziemlich kleiner Traum

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
23.02.2011. "Der ganz große Traum" ist ein Fußballfilm sehr mittleren Formats. Vor allem aber auch ein Werk, das deutlich macht, wie bescheiden in der deutschen Filmlandschaft vom großen Kino geträumt wird. Ein Porträt des Produzenten Anatol Nitschke und seiner Firma deutschfilm.


Das ist entschieden eine der interessanteren Karrieren in der spätestens seit Bernd Eichingers frühem Tod restlos verlangweiligten deutschen Filmförderproduktionslandschaft, die nur, wer sich wirklich nicht auskennt, als "Filmindustrie" bezeichnen kann. Anatol Nitschke war einmal Punk, in München, damals, in den Achtzigern. Er programmierte Filmreihen im zwischen den Extremen anregend hin- und herschleudernden winzigen Werkstattkino, das seinesgleichen in ganz Deutschland kaum kennt. Er inszenierte eigene Underground-Filme, machte mit Rainald Goetz und Romuald Karmakar die Stadt und das Kino unsicher und spielte unter anderem in des letzteren Super-8-Masturbations-Film über Adi Hitler (Führer cum Cum) "Eine Freundschaft in Deutschland".

Während jedoch Romuald Karmakar und Rainald Goetz ihren Weg zu Ruhm und Ansehen ohne große Zugeständnisse an den Mainstream und andere mittwärts der Gesellschaft gelegene Erwartungen gingen, marschierte Nitschke stracks hinein ins Populäre und den Kern des Ödnis-Betriebs. Bei Filmwelt-Prokino erst, dann Senator, dann der wichtigsten Schmiede für einen gewissen Anspruch behauptende, in Wahrheit aber sehr glattgeschmirgelte Sachen aus Deutschland, nämlich X-Filme. Nitschke war Vertriebschef, der Erfolg von - neben vielem anderen - "Goodbye, Lenin" geht zu nicht geringen Teilen auf seine Kappe und auch jene, die mit seiner X-Linie wenig anfangen konnten, gestehen Anatol Nitschke zu, dass er vom Geschäft viel versteht und es leidenschaftlich betreibt.

Dann packte ihn mit kurz vor fünfzig noch einmal der Ehrgeiz. Er ging zurück zu Senator, aber als - gemeinsam mit Christoph Müller - sein eigener Mann. In enger Verflechtung ("Joint Venture") mit der großen Firma im Rücken spezialisiert sich das neue Projekt auf "Produktion, Akquise, Marketing" von deutschen Filmen. Daher der Name, der - vorsichtig gesagt - doch gewöhnungsbedürftig ist: "deutschfilm". Das Programm ist nachlesbar auf der Website: um das "gesamte Spektrum" von der "Mainstreamkomödie über großes deutsches Kino bis hin zu aufregenden Debüts" soll es gehen. Dass in diesem "gesamten Spektrum" weder der Dokumentarfilm noch - wie immer man es nennen mag - die ästhetisch am Weltkino orientierte Filmkunst vorkommt, ist, versteht sich, alles andere als ein Zufall: das Provinzielle ist, noch bevor man auf Ergebnisse sieht, schon Programm.

2009 wurde die Firma gegründet, drei deutsche Filme sind seither unter mindestens prägender Beteiligung von Nitschke fertig geworden. Nun, da einer von ihnen mit nicht unbeträchtlichem Erfolg den Kinostart absolviert hat ("Goethe!"), ein zweiter - Andres Veiels "Wer wenn nicht wir" - im Wettbewerb der Berlinale zu sehen war, und der dritte - "Der ganz große Traum" - von sehr vielen realen und virtuellen Plakatwänden strahlt und morgen die deutschen Lichtspielhäuser erreicht, kann man eine erste vorsichtige Bilanz ziehen. Positiv ausfallen kann sie, so viel vorweg, nur für den, der vom Kino - aus Deutschland oder auch nicht - recht klein gebackene Brötchen erwartet. Andererseits, man sollte fair bleiben: Offensiv schlecht, schlimm oder böse ist - mit teilweiser Ausnahme des Veiel-Werks - keiner der Filme.

Das Ausrufezeichen bei Goethe verrät schon fast alles. Unausgesprochene, ins Satzzeichen verlegte Voraussetzung des Werks ist die Annahme, dass ein deutscher Klassiker, soll er dem heutigen Publikum noch etwas sagen, vor allem eines braucht: Schwung. Also wird sich auf den jungen Sturm- und Drang-Goethe konzentriert und dessen Biografie mit Versatzstücken aus dem "Werther"-Roman aufgepeppt. Das alles als ästhetisch außerordentlich konservativer Historienfilm, der sich auf die Liebesgeschichte zu Lotte konzentriert, ersichtlich viel Geld in historische Bauten investiert, ganz sicher zu Goethe und seinem Werk rein gar nichts zu sagen hat und, immerhin, nicht mehr und nicht weniger als ein läppisches Ding ist, am ehesten für den Einsatz in Schulklassen optimiert, an denen der Deutschlehrer bei der "Werther"-Lektüre verzweifelt.



Sehr Vergleichbares gilt nun für "Der ganz große Traum". Der Film funktioniert - und das tut er immerhin tatsächlich - als ganz schön dreiste Kopie von "Club der toten Dichter". Ein junger Lehrer mit Flausen im Kopf bringt die Moderne in eine konservative Schule in Deutschland. Der Schönheitsfehler: Es wird mal wieder anno dunnemals revoltiert. Da nimmt ein Film des Jahres 2011 seinen ganzen Gratismut zusammen, um der wilhelminischen Gesellschaft des langsam ausgehenden 19. Jahrhunderts mit Hilfe des Fußballs und der englischen Sprache den Marsch zu blasen. Weg mit Turnvater Jahn, her mit dem Ball, weg mit dem verstaubten Latein, her mit dem Englisch, oder wie es ungefähr in einem sehr viel besseren Historienfilm heißt: Kaiserreich eunt domus.

Im Zentrum steht - an historischen Tatsachen etwa so wie bei Goethe-Ausrufezeichen orientiert, also irgendwie ja, aber eigentlich nein - ein Lehrer (Daniel Brühl), der an einem deutschen Gymnasium den Fußball einschleppt. Versöhnt werden die Ober- und die Unterschicht, andeutungsweise auch mit Liebe. Das Buch ist nicht schlecht, aber gewiss auch nicht herausragend gut. Mit Burghart Klaußner und Axel Prahl gibt es mittlere deutsche Fernseh- und Filmgrößen, darunter sind viel versprechende Newcomer gemischt. Die Regie ist gleichfalls einem Nachwuchstalent übertragen. Sebastian Grobler liefert in seinem Spielfilmdebüt - eine Episode "Sturm der Liebe" ist in der bisherigen Filmografie noch verzeichnet - solides Handwerk, was noch ein kleines bisschen weniger ist als das gute Handwerk von Philipp Stölzs "Goethe!".

Autorenfilme freilich sind beide ganz sicher nicht, sondern solche, die sich der Produzent als paketschnürender Hintergrundmann zusammengebaut hat. Sie haben eine Grundintelligenz, sie unterschreiten ein gewisses, bescheidenes Niveau nicht, sie wollen unterhalten, ohne zu fordern. Sie haben eine präzise Idee vor allem von einem: Kino als Entertainment, dem eine in süßer Verpackung verabreichte Botschaft nicht schadet. Diese Botschaft ist auf der vorsichtig progressiven Seite, nichts tut hier weh, die Geschäftsrisiken, die es natürlich gibt, sind auf jeden Fall wohl kalkuliert. Ein Kino, das ein ganz kleines bisschen was wagt, sich dabei aber thematisch, handwerklich und in der Besetzung nach Möglichkeit absichert. Mit anderen Worten: durch und durch sozialdemokratisches Kino, in der Gesamtnote irgendwo zwischen befriedigend und ausreichend. Man kann sagen: Da weiß einer, was er tut. Man kann über Anatol Nitschke aber auch feststellen: Nach ganz anderen Anfängen ist hier einer, obwohl er nach der Auskunft aller Insider noch immer mit Leidenschaft bei der Sache ist, sehr gründlich und tief im Mittelmäßigen versackt.

Der ganz große Traum. Deutschland 2010 - Regie: Sebastian Grobler - Buch: Johanna Stuttmann, Philipp Roth. Darsteller: Daniel Brühl, Burghart Klaußner, Justus von Dohnanyi, Thomas Thieme, Kathrin von Steinburg, Axel Prahl