Heute in den Feuilletons

Generalverdacht gegen die Wirklichkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
14.03.2013. Als Bildungsrevolution feiert die Zeit die wachsende Zahl der im Netz zugänglichen Hochschulvorlesungen. Die Blogs reagieren bestürzt auf das angekündigte Ende des Google Reader. Die taz klagt über die spezifisch deutsche Hysterie gegenüber Googles Datenbrille. In der Welt pocht Henryk Broder auf Pornografie. Der Freitag untersucht die Rückkehr des Politischen in der deutschen Literatur. Die SZ bewundert die Ausdauer der Protagonisten von 1968. Und die FAZ spricht mit Simon Rattle über seinen Rücktritt und Mozarts 'Zauberflöte'.

TAZ, 14.03.2013

Maik Söhler klagt über die spezifisch deutsche Hysterie gegenüber Googles Datenbrille: "Es braucht weder neue Konventionen, Regeln oder gar Gesetze, wenn 'Google Glass' in Deutschland irgendwann frei erhältlich sein sollte. Im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht und speziell im Recht am eigenen Bild ist gerade im deutschen Rechtsraum alles klar und deutlich festgelegt."

Ambros Waibel erklärt, worum es bei Literaturpreisen eigentlich geht: "um die Eitelkeit der Auszeichner, nicht um die Förderung der Macher". Dokumentiert wird die Laudatio der Filmemacherin Angela Schanelec auf den Kameramann Reinhold Vorschneide, der mit dem Marburger Kamerapreis ausgezeichnet wurde. Hengame Yaghoobifarah wirft einen Blick in die jüngste Ausgabe des Popmagazins Testcard, in dem es in 27 Texten um das Thema Fleisch geht.

Besprochen werden Judd Apatows neuer Film "Immer Ärger mit 40", Leander Haußmanns und Sven Regeners Komödie "Hai-Alarm am Müggelsee", der Comic "Verbotene Kunst. Eine Moskauer Ausstellung" der russischen Zeichnerin Wiktoria Lomasko und eine als Präzise gelobte Marx-Biografie des US-Historikers Jonathan Sperber (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Freitag, 14.03.2013

Ekkehard Knörer, Redakteur des Merkur (und Ex-Perlentaucher) denkt in einem kundigen Überblick über die Rückkehr des Politischen in der neuesten Literatur nach. Einer seiner Favoriten ist FAZ-Redakteur und Romancier Dietmar Dath: "'Pulsarnacht' ist ein tolles Buch, ein ohne Rücksicht auf Verluste in eine ferne Zukunft fabulierter alternativer Gesellschaftsentwurf, der selbstredend auf das Hier und Jetzt zielt. Dath nutzt das Genre der Weltraumoper, um den Erdlingen der Gegenwart ihre Beschränktheit in Sachen Zusammenleben, Miteinanderschlafen und Lebenssinn vor Augen zu führen."

Außerdem: Christine Käppeler trifft den EU-Parlamentarier und Buchautor Martin Schulz. Und Jakob Augstein unterhält sich mit Marina Weisband.

Aus den Blogs, 14.03.2013

Google schafft etwas ab, von dem man eigentlich dachte, dass es zu den Standardanwendungen des Netzes gehört wie die Mailprogramme, Kalender oder Browser: den Google Reader. Ab 1. Juli wird der Dienst eingestellt - Google scheint die Nutzer, koste es was es wolle, zu Google plus treiben zu wollen. Mashable gibt dazu die pragmatischen Tipps: "Check Out These Google Reader Alternatives... For many users, Feedly may provide the most direct route of keeping their Google Reader experience intact. The service, which offers web, Android and iOS apps, can interact with your existing Google Reader account or store feeds on its own backend." Aber auch der Mashable-Artikel "Hey Google, We Still Love Reader" wurde nach fünf Stunden schon 6.500 mal geteilt. Hier ein anderer Artikel zu Alternativen aus Lifehacker mit Bedienungsanleitung zum Export der Feeds.

Martin Weigert erzählt auf Netzwertig, wie schockiert er von der Nachricht war: "Der Betrieb des Services, zu dem keine Anwenderzahlen bekannt sind, dürfte den Internetgiganten nicht sonderlich viel kosten, gleichzeitig handelt es sich bei der Nutzerschaft um eine einflussreiche, laute und meinungsstarke Gruppe, die selbst Google nicht ohne große Not gegen sich aufbringen sollte." Und Weigert zieht daraus einen Schluss, der nicht für Google spricht: "Mit der Einstellung des Readers betont Google, dass es künftig andere Pläne verfolgt, als noch länger die Mission eines offenen Webs zu unterstützen."

Oder, um (via Netzwertig) es mit Tim Maly zu sagen:

Welt, 14.03.2013

Einen für seine Verhältnisse ziemlich ernsten Alarmruf lässt Henryk Broder gegen eine EU-Initiative erschallen, die uns künftig vor Pornografie bewahren will: "Es geht nicht um solche Banalitäten wie 'die Frau als Lustobjekt' - wäre Unlustobjekt besser? - oder 'Heimchen am Herd'. Es geht darum, wie wir leben, was wir lesen und, am Ende, was wir denken sollen. Und wer darüber bestimmen darf."

Weitere Artikel: Hanns-Georg Rodek beobachtet mit Interesse, dass auch das Festival von Cannes nun Filme als Eröffnungsspekakel akzeptiert, die bereits in anderen Ländern gestartet sind - und "Der große Gatsby", der zum Teil in Cannes spielt, startet nicht nur vorher in den USA, sondern auch In Taiwan und Indien! Michael Pilz gratuliert Quincy Jones zum Achtzigsten.

Besprochen werden Filme, darunter Kerstin Giers deutsche "Mädchen-Fantasy" "Rubinrot" und "Kabale und Liebe" im Berliner Ensemble.

NZZ, 14.03.2013

Hans-Christoph Zimmermann schreibt über eine Begegnung mit dem kasachischen Theaterregisseur Bolat Atabajew, der im deutschen Exil einen künstlerischen Neuanfang unternimmt: "Man spürt regelrecht den pädagogischen Eros, der in dem erfahrenen Theatermann offenbar noch glüht." Die Düsseldorfer Innenstadt wird neu sortiert, berichtet Paul Andreas. Claus Lochbihler gratuliert Quincy Jones zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Filme, darunter Sacha Gervasis Biopic "Hitchcock" ("von einem Regisseur, der ein so gelungenes Spielfilmdebüt feiert, darf man noch viel erwarten", meint Susanne Ostwald) sowie Bücher, darunter Wolfgang Kraushaars Studie über "München 1970" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

SZ, 14.03.2013

Die Auseinandersetzungen um 1968 werden auch heute noch in erster Linie von damaligen Protagonisten geführt, stellt Gustav Seibt mit anerkennendem Blick auf Götz Aly, Gerd Koenen und Wolfgang Kraushaar fest. Er beobachtet Generationsgenossen im Gespräch zwar jenseits der Gemütlichkeit, "aber doch mit dem Einverständnis, das aus urtümlicher Vertrautheit mit den Codes jener Zeit kommt. ... Das heißt, es geht immer noch ums Aufdecken und Abarbeiten, ums Distanzieren oder ums Retten, auch um das 'blame game' der Frage, wem genau was in die Schuhe geschoben werden kann. Das ist vermutlich unvermeidlich, und es dient auch der Erkenntnis. Jeder spätere Historiker nutzt solche Forschungen aus der Sicht der Zeitgenossen und Beteiligten immer aus zwei Gründen: erstens, weil viel faktisch Richtiges und Wichtiges durch sie gesichert wird, zweitens aber, weil etwas Unwiederbringliches in ihnen aufgehoben ist, die Lebhaftigkeit der eigenen Beteiligung."

Weitere Artikel: Burkhard Müller wundert sich, dass die Architektur des Klassenzimmers so beständig ist. Cornelia Fiedler besucht das Deutsche Literaturinstitut in Leipzig, wo jungen Leuten die Schriftstellerei beigebracht wird. Gottfried Knapp besucht das neue Kunstmuseum in Ravensburg. Fritz Göttler blättert in Stephen Rebellos Buch (Leseprobe) über die Entstehung von Alfred Hitchcocks "Psycho", das anlässlich des aktuellen Films "Hitchcock" nach 13 Jahren nun auch in Deutschland erschienen ist. Susan Vahabzadeh gratuliert Michael Caine und Karl Bruckmaier Quincy Jones zum jeweils 80. Geburtstag.

Besprochen werden Armin Petras' Inszenierung von Brechts "Leben des Galilei" am Staatsschauspiel Dresden, Herbert Fritschs Operndebüt "Drei Schwestern" in Zürich, Bryan Singers Fantasy-Blockbuster "Jack the Giant Slayer" und Bücher, darunter Götz Alys "Die Belasteten", in das wir bereits an dieser Stelle vorblätterten (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 14.03.2013

Im ausführlichen Gespräch lässt sich Eleonore Büning von Simon Rattle nicht nur dessen überraschenden (allerdings überhaupt erst in fünf Jahren zu vollziehenden) Rücktritt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker erklären, sondern auch, warum er im Wagner-Jahr Mozarts "Zauberflöte" aufführen will, vor der er einen Heidenrespekt hat: "Man sagt immer, die 'Zauberflöte' sei ein Spätwerk, ein letztes Werk. Ich glaube, das ist falsch. Für Mozart selbst war diese Oper ja kein Schlusspunkt, sondern ein Werk des Übergangs, er war auf der Suche nach etwas Neuem, er war auf dem Sprung in eine Festanstellung, und er hat alles verwendet, was ihm zur Verfügung stand - so, wie es auch Haydn tat in seiner 'Schöpfung', die ähnlich vielschichtig ist wie die 'Zauberflöte'."

Weitere Artikel: Michael Siebler berichtet von neuen archäologischen Erkenntnissen bezüglich des merowingerzeitlichen Vorgängerbaus der Ingelheimer Kirche St. Remigius (mehr dazu hier). Außerdem setzt die FAZ ihre Reihe mit Auszügen aus Gerd Gigerenzers Buch "Risiko" fort (hier die erste Lieferung).

Besprochen werden Ilian Metevs Dokumentarfilm "Sofia's Last Ambulance", eine Ausstellung mit konstruktivistischen Gemälden aus der Sammlung Hupertz im Hamburger Ernst Barlach Haus, Judd Apatows neuer Film "Immer Ärger mit 40" und Bücher, darunter Jérôme Ferraris mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Predigt auf den Untergang Roms" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 14.03.2013

Auf den Wissensseiten geht es in zahlreichen Artikeln um Moocs (massive open online courses), abgefilmte und im Internet frei zugängliche Vorlesungen insbesondere von Elitehochschulen. Christoph Drösser und Uwe Jean Heuser stellen die wichtigsten Akteure dieser "Bildungsrevolution" vor, etwa den Stanford-Professor und Google-Entwickler Sebastian Thrun, der versucht, die Bildung an die Lerngewohnheiten einer mit Computerspielen sozialisierten Generation anzupassen: "'Sehen Sie sich nur das Online-Spiel 'Angry Birds' an, da lernt der Spieler etwas. Er wird ständig bewertet, kriegt die Ergebnisse sofort und bekommt neue Aufgaben, die exakt dem persönlichen Lernniveau entsprechen', sagt Thrun. 'Wenn man diese Mechanismen auf die Vorlesungen im Netz überträgt, hat man den heiligen Gral der höheren Bildung gefunden.'" (Hier ein fundierter Nature-Artikel über die Entstehung und Möglichkeiten von Moocs.)

Schwerpunkt des Feuilletons ist "der neue Proletkult", als dessen Symptome unter anderem Cindy aus Marzahn (in einem längeren Porträt von Kilian Trotier), Daniela Katzenberger und Silvio Berlusconi herhalten. Jens Jessen schreibt dazu den Aufmacher, Nina Pauer analysiert die Werbestrategie der Hamburger Biermarke Astra. Adam Soboczynski und Alexander Cammann sprechen mit dem Historiker Götz Aly und dem Fernsehproduzenten Nico Hofmann über dessen ZDF-Dreiteiler "Unsere Mütter, unsere Väter". Der NDR-Redakteur Wolfgang Müller erklärt, weshalb Deutschland als einziges Land der Erde mit einem großen Abschaltplan auf die Atomkatastrophe von Fukushima reagiert hat: die Erfahrung des NS-Terrors hat den Deutschen einen nachhaltigen "Generalverdacht gegen die Wirklichkeit" eingeimpft.

Hat Friedenspreisträger Liao Yiwu die Misshandlungen, die er in seinem Buch "Für ein Lied und hundert Lieder" beschreibt, frei erfunden? Angela Köckritz geht in Berlin und Peking diesem Gerücht nach, das der Sinologe Wolfang Kubin im Oktober in der Zeit verbreitet hatte, und kann keine Beweise für Verzerrungen oder Übertreibungen finden. Günter Wallraff erklärt Annabel Wahba, warum er Amazon boykottiert (und seinen Verlag Kiepenheuer & Witsch angewiesen hat, es ihm gleichzutun). Thomas Assheuer informiert über die Kontroverse um die zwischenzeitliche Echo-Nominierung der Rechtsrock-Band Frei.Wild. Ingeborg Harms sieht in dem Internet-Phänomen "Harlem Shake" eine "Antwort auf den sexuellen Autismus unserer Gegenwart". Nach längerer Pause schreibt Harry Rowohlt wieder seine Kolumne "Pooh's Corner".

Tobias Timm hat das Museum Berggruen besucht, das am Wochenende wiedereröffnet wird, allerdings, wie Timm findet, "durch die Vergrößerung auch viel von seinem Charme verloren" hat. Besprochen werden Johan Simons Münchner Inszenierung von "König Lear", Herbert Fritschs Zürcher Inszenierung von Peter Eötvös' Oper "Drei Schwestern" ("es ist eine Lust, so viele Hüllen fallen zu sehen", schwärmt Christine Lemke-Matwey) sowie die Filme "No!" von Pablo Larraín und "Hitchcock" von Sacha Gervasi (in dem Thomas E. Schmidt jegliche suspense vermisst: "Das Schauerlichste, das wir zu sehen bekommen, ist die kompakte Gummimaske, unter der Anthony Hopkins den Hitch spielen muss").

Im Dossier wirft Diana Laarz einen Blick in die Welt Bolschoiballetts, die erstaunlich exakt ihrem Klischee entspricht. In der Zeit im Osten werden die jungen Chefs zweier Ost-Blätter vorgestellt: Tom Strohschneider vom Neuen Deutschland und Robert Schneider von der SuperIllu. Madlen Ottenschläger beschreibt in der Rubrik Wissen, wie selbstverlegte E-Books den Buchmarkt verändern. Außerdem gibt es Beilagen mit Besprechungen von neuer Musik, von Kinder- und Jugendbüchern sowie eine umfangreiche Literaturbeilage.