Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2006. Die NZZ vermisst den Islamismus in der arabischen Literatur. In der Welt schwelgt Woody Allen im Nihilismus. Der taz sind die kulturellen Ambitionen der neuen Suhrkamp-Anteilseigner unheimlich. Die SZ stört es nicht, dass Neo Rauch manchmal an den Fernsehmaler Bob Ross erinnert. Die FAZ legt ihre Wochenendbeilage "Bilder und Zeiten" wieder auf und echauffiert sich ansonsten über Günter Grass.

NZZ, 11.11.2006

Je bedeutender der Islamismus in den arabischen Ländern wird, desto weniger schlägt er sich in der dortigen Literatur nieder, beobachtet Mona Naggar in der Beilage Literatur und Kunst. Die einzige Ausnahme bildet Algerien. "Seit Mitte der neunziger Jahre liegen etliche Prosawerke vor, von Rachid Boudjedra, Waciny Larej, Tahar Wattar, Salim Bachi oder Assia Djebar, die eine Antwort zu finden versuchen auf die radikalen Phänomene in der algerischen Gesellschaft Ende der achtziger Jahre und auf die Gewaltexzesse, die nach der Annullierung der Parlamentswahlen 1991 einsetzen. Der Grund dafür liegt sicherlich in den Besonderheiten der algerischen Literatur, die sich intensiv mit der jüngeren Geschichte auseinandersetzt. Der Rückhalt im französischen Kulturraum und die Nähe zur französischen Sprache erleichtern den Algeriern den Umgang mit Themen, die um Religion, Sexualität und Politik kreisen."

Fakhri Saleh sucht nach islamischen Reformatoren. "Die heutigen Ansätze zur Neuinterpretation des heiligen Textes richten ein besonderes Augenmerk auf die historische Situation zu Lebzeiten des Propheten, die den Hintergrund für die koranischen Offenbarungen und ihre Rezeption bildete. Obwohl progressive Denker wie Mohammed Arkoun, Abu Zaid und al-Qimni keineswegs auf eine Dekonstruktion der koranischen Botschaft hinarbeiten, wird ihr Denkansatz von konservativen Religionsgelehrten und islamischen Fundamentalisten als Bedrohung empfunden."

Außerdem besucht Susanne Schanda den ägyptsichen Schriftsteller Alaa al-Aswany, dessen Roman "Das Haus Yacoubian" mittlerweile erfolgreich (und wunderbar!) verfilmt wurde. In Auszügen abgedruckt wird ein Essay von Hans Magnus Enzensberger über die Sinnlosigkeit von Intelligenztests, der Anfang Dezember unter dem Titel "Im Irrgarten der Intelligenz" erscheinen wird.

Im Feuilleton deutet Andrea Köhler den Sieg der US-Demokraten im Repräsentantenhaus und im Senat als Wählerwunsch nach mehr Innenpolitik. Peter Hagmann berichtet vom Musikfestival "wien modern", das sich in diesem Jahr dem Komponisten Bernhard Lang widmete.

Besprochen werden eine Ausstellung über die spanische Künstlerenklave Cadaques im Museu d'Art Contemporani in Barcelona, und Bücher, etwa eine Prachtausgabe von Jonathan Swifts "Gullivers Reisen" oder der Catalogue raisonne von Kurt Schwitter (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

SZ, 11.11.2006

Holger Liebs ist durchaus begeistert nach Besichtigung der großen - und, wie der Maler ankündigt, bis 2010 auch letzten - Neo-Rauch-Großausstellung im Wolfsburger Kunstmuseum. Aber Rauch ist ganz offensichtlich keiner, bei dem Weihrauchkessel geschwenkt werden müssten: "Er sei erwachsen, ihm sei nichts mehr peinlich, hat Rauch bekannt. Und so dürfen bärtige Malerfürsten Forscherkittel und Converse-Turnschuhe tragen, dürfen Abstraktion und Figuration einen wilden Schwertkampf ausfechten, kommen Frack und Zylinder bei ihm ebenso vor wie heroische Landschaften. Und so mancher Baum sieht gar aus wie von Rob Ross gemalt. Es ist nicht die geringste Qualität dieser Bilder, dass man sie dennoch ernst nehmen muss. Und dass es Rauch gelingt, die Kunstgeschichte noch einmal durchzuarbeiten und dabei weiterhin originäre Bildschöpfungen zu produzieren."

Weitere Artikel: Ijoma Mangold klärt über die auch den Beteiligten selbst offenbar nicht sehr deutlichen Zusammenhänge von Suhrkampkultur, Stiftungsrecht und Weltzukunftsrat auf. Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg erklärt, warum Sprachcoachs wie Bastian Sick ein allzu simples Bild von der Sprache verbreiten. Sonja Zekri kommentiert die zu recht ungemütlichen Ergebnissen gelangende Rechtextremismus-Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung. Felix Denk gratuliert dem Verleger Reinhold Neven Du Mont zum 70. Als "Jahrhundert Geiger" wird Bronislaw Huberman vorgestellt.

Die Literaturseite gehört heute dem Schriftsteller Martin Mosebach. Abgedruckt wird - wenig gekürzt - seine Dankesrede bei Verleihung des Großen Literaturpreises der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er beantwortet in dieser Rede die selbst gestellte Frage: "Kann man den epischen Roman, wie er sich seit dem Beginn des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hat, als ein Mittel der Geschichtsschreibung betrachten?" Die Antwort lautet "Ja", fällt freilich ein wenig epischer aus.

Besprochen werden eine Pariser Ausstellung über den Blick Europas auf den "Wilden", das Sony-Animations-Debüt "Jagdfieber", Stefan Kaegis LKW-Dokutheaterprojekt "Cargo Sofia" und ein Münchner Konzert, bei dem Christian Thielemann Beethovens zweite und siebte Sinfonie dirigierte.

Im Aufmacher der SZ am Wochenende hält Christopher Schmidt eine Philippika gegen die Gegenwart des deutschen Theaters, die in in der gänzlich rhetorisch gemeinten Frage gipfelt: "Könnte es sein, dass unser Theater heute das Blut so liebt, weil es selbst blutleer ist?" Im Interview spricht Jack Nicholson über "Wirkung" - und übers Ficken: " Ich kümmere mich darum, wen ich ficke. Ich kümmere mich aber wirklich nicht darum, wen andere ficken."

TAZ, 11.11.2006

Mulmig wird es Dirk Knipphals angesichts der neuesten Suhrkamp-Querelen. Wäre ja gut, wenn die Anteilskäufer einfach nur "Heuschrecken" wären, meint er, freilich "gibt es Hinweise darauf, dass Barlach und Grossner übers Finanzielle hinaus tatsächlich Interesse an der kulturellen Sphäre des Geschäfts haben - und da weiß man nun nicht recht, ob man das süß altmodisch finden oder für besonders ungemütlich halten soll. Denn so leicht es ist, finanzielle Transaktionen für ein zu unterkomplexes Vorgehen zu halten, um an kulturellen Prozessen zu partizipieren, so schwierig ist es, mit Leuten, die sich qua finanziellem Engagement kulturelle Mitsprache und Anerkennung kaufen wollen, tatsächlich umzugehen."

Weitere Artikel: Helmut Höge stellt die Ausstellung "For Sale" in Dresden von Adam Page und Eva Hertzsch vor, die sich mit sozialkritischen Hintergedanken an der Umnutzung aufgelassener Plattenbauten und Flughäfen versucht. Der polnische Autor Edwin Bendyk ist in die Provinz gezogen und erläutert das spezielle Verhältnis seiner Nation zur Zeit. Auf der Meinungsseite plädiert Harald Fricke für Zigarettenentgiftung statt Rauchverbot.

Im taz mag denkt Margret Fetzer anlässlich des Karnevalsbeginns über die gelegentlich ungute Mischung von Karneval, Hitler, Comics und Theater nach. In einem Auszug aus seinem jüngsten Buch erklärt Bahman Nirumand, dass auch Ahmadinedschad die Modernisierung des Iran nicht wird umkehren können. In der zweiten taz berichtet Irene Mosbring über ihre Erfahrung mit dem Sterben - und Sterbenlassen - ihrer Mutter. Gemeldet wird, dass es in der Streitsache "Bild" gegen den von Charlotte Roche im "Stern" erhobenen Schweinejournalismus-Vorwurf nicht zum Vergleich gekommen ist.

Besprochen wird Jan Jelineks neues Album "Tierbeobachtungen" und die CD "Hier: Die Aeronauten" der Schweizer Band Aeronauten, und Bücher, darunter Stephen Kings in den USA und Deutschland gleichzeitig erschienenem neuen Roman "Love", Wolfgang Welts drei Romane in einem Band "Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe", sowie Reza Aslans Geschichte des Islams (Leseprobe hier) "Kein Gott außer Gott" (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 11.11.2006

Im Interview mit Julia Zimanofsky und Rüdiger Sturm erklärt Woody Allen, dessen Krimikomödie "Scoop" demnächst in die Kinos kommt, warum die Welt ein so schrecklicher Ort ist: "Das Problem ist die Beliebigkeit und die zeitliche Begrenztheit unserer Existenz. Alle Menschen, die wir lieben, werden wir verlieren oder sie uns. Und das gleiche Problem gibt es auf noch viel größerer Ebene. Unser Universum entstand per Zufall in einer völlig sinnlosen Explosion, es wird ebenso wieder enden, und alles wird verschwinden - Shakespeare, Beethoven, Kunst und Literatur."

Peter Dittmar porträtiert den Kosmetik-Erben Ronald Lauder als den Mann, der einfach nicht anders kann, als für zwei Bilder mal eben 130 Millionen auszugeben. Gerhard Charles Rump freut sich, dass demnächst auch in Berlin ein wenig Luxus zu sehen sein wird, bei der "Ars Nobilis" nämlich. Marianne Hoffmann berichtet von der Kölner Art-fair mit junger Kunst. Michael Pilz preist das neue Cat-Stevens-Album "An Other Cup": "geschmackvoll arrangierte, helle, schwerelose Lieder".

In der Literarischen Welt ist Cees Nootebooms Laudatio auf Rüdiger Safranski zu lesen, der den Welt-Literaturpreis erhalten hat. Besprochen werden unter anderem Joseph Stiglitz' neues Buch "Die Chancen der Globalisierung", Oliver Maria Schmitts Punkroman "Anarchoshnitzel schrieen sie" und Ben Schotts neues Sammelsurium "Almanach 2007".

FR, 11.11.2006

Im Blick zurück auf andere Zeiten und als Nachtrag zur Unterschichten-Debatte stellt der Publizist Michael Rutschky erfreut fest, dass immerhin niemand mehr hungern muss. Michael Helbing porträtiert den jungen Regisseur Tilmann Köhler, der am Nationaltheater Weimar Furore macht. Max Hollein, Leiter der Frankfurter Schirn, spricht im Interview über den Umgang mit Restitutionsforderungen. Hilal Sezgin bespricht in der Seitensprung-Kolumne Eva Rices Roman "Die verlorene Kunst, Liebschaften zu pflegen". In ihrer Bonanza-Kolumne schreibt Karin Ceballos Betancur diesmal über das Kochen.

Besprochen werden die Neo-Rauch-Retrospektive in Wolfsburg (Elke Buhr lobt Rauch als Meister der "Beklemmung"), die Inszenierung "City of Angels" im Frankfurter "English Theater" und ein Konzert von Willy DeVille in der Darmstadter Centralstation.

FAZ, 11.11.2006

Auf der ersten Seite im Feuilleton widmet sich die FAZ noch einmal Günter Grass. Joseph Croitoru berichtet, dass Grass zwei Wochen vor der Veröffentlichung seiner Autobiografie zugestimmt hatte, die Ehrendoktorwürde einer israelischen Hochschule anzunehmen. Edo Reents untersucht den gestern in der FR veröffentlichten Brief, in dem Günter Grass gegenüber dem ehemaligen israelischen Botschafter Yitzchak Mayer die SS-Rune als Kainsmal bezeichnet, mit dem er den Rest seines Lebens gezeichnet ist. "Mit dem Brief ist zweierlei klar: Erstens passt Günter Grass die Äußerungen zu seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS der jeweiligen Situation und dem Gesprächspartner an; denn bisher tat er so, als wäre sie eine Formalie, ein Detail seiner Biografie. Niemand aber würde ein Kainsmal an der Stirn tragen, wenn es sich auf ein Detail bezöge. Und zweitens macht Grass nun selber und sehr zu Recht einen Unterschied zwischen der moralischen Substanz dieser Mitgliedschaft, die sich aus individuellem Verhalten ergibt, und der Bedeutung, die das SS-Zeichen für Zeitzeugen und Überlebende bis heute hat."

Weiteres: Eberhard Rathgeb und Hannes Hintermeier versuchen sich ein Bild von Claus Grossner zu machen, der zusammen mit Hans Barlach vor kurzem Anteile des Suhrkamp Verlages erworben hat, und erfahren immerhin, dass das ehrwürdige Haus in seinen Augen zu einem "Braintrust der Republik" werden soll. Dass das Bundesverfassungsgericht das 11 Jahre alte Einreiseverbot für den Gründer der Vereinigungskirche Reverend Mun aufgehoben hat, zeigt Patrick Bahners die neuerlich betonte Neutralität des Staates in Religionsfragen. Andreas rossmann gratuliert Reinhold Neven DuMont zum Siebzigsten. Andreas Kilb bewundert im neuen kleinen Berliner Museum zu John F. Kennedy die "ewig formvollendete Jaqueline".

Im Medienteil begutachtet Jürgen Thomann die Online-Satire-Angebote von Spiegel (Spam) und Welt (Glasauge). Letzteres ist wegen diverser Polen-Witze in die Kritik geraten. Auf der Schallplatten- und Phonoseite kürt Jürgen Kesting Rene Jacobs Neueinspielung der Mozartschen Seria-Oper "La Clemenza di Tito" zur mutigsten Unternehmung des Mozart-Jahrs. Vorgestellt werden außerdem das Folk-Album "The Gulag Orkestar" von Zach Condons Band "Beirut" und Wiederveröffentlichungen der aus Dithmarschen stammenden Gruppe Elektrikchina.

Nach fünf Jahren Pause liegt der FAZ am Samstag nun wieder "Bilder und Zeiten" bei. Das von Niklas Maak und Felicitas von Lovenberg betreute sechsseitige Supplement soll eine Brücke zwischen der täglichen Zeitung und der FAS sein, heißt es in der Pressemitteilung. Mit einem "anspruchsvollen und zugleich unterhaltenden Journalismus" sollen " neue, auch jüngere Leser" gewonnen werden (sind deshalb die Texte so kurz und der Durchschuss so groß?). Zum Auftakt soll das mit Besuchen bei Nicole Krauss und Richard Ford, einer Entschlüsselung von häufigen Symbolen bei Neo Rauch und einem Interview mit der Schauspielerin Sibel Kekili gelingen. Außerdem gibt es Buchbesprechungen und die Frankfurter Anthologie.

Besprochen werden eine Schau mit Porträtfotos von Schriftstellern im Schiller-Nationalmuseum Marbach, die Ausstellung "Paul Virilio und die Künste" im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie, die Schau "Kosmos der Architektur" über Oswald Mathias Ungers in der Neuen Nationalgalerie Berlin, die Uraufführung von Bernhard Langs und Michael Sturmingers Oper "I hate Mozart" am Theater an der Wien, ein Konzert von Bernard Hatink und dem Concertgebouw Orkest in Frankfurt, und Bücher, darunter Chen Jianghongs Bilderbuch "Junger Adler" und Nico Bleutges Gedichtband "klare konturen" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).