Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2006. In der Welt erinnert sich Rolf Schneider an die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR. Die taz fürchtet Überproduktion bei Neo Rauch: "Die sozialistischen Abziehbildhelden mutieren ins Altdeutsche, die Muttis changieren zu Trümmerfrauen." Die SZ bringt ein Porträt des ALS-kranken Jörg Immendorff und seines Arztes Thomas Meyer, der einer der wenigen Spezialisten für die Krankheit ist. In der NZZ schreibt Mark Lilla über den Konflikt zwischen religiöser Orthodoxie und modernem Liberalismus.

Welt, 13.11.2006

Der Schriftsteller Rolf Schneider erinnert sich an die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR und den Protest der Künstler und Intellektuellen, die sich bei Stefan Hermlin versammelt hatten: "Ich betrat das Wohnzimmer, in dem bereits zahlreiche Besucher saßen: das Ehepaar Gerhard und Christa Wolf, Sarah Kirsch, Volker Braun, Günter Kunert (mit Ehefrau Marianne), Heiner Müller und auch Stefan Heym, dazu noch eine mir unbekannte Dame. Sie äußerte den gesamten Vormittag über kein Wort; später sagte mir Hermlin, dies sei Katja, Ehefrau des Westberliner Verlegers Klaus Wagenbach, der, da er außer Hermlin auch Biermann gedruckt hatte, selber in die DDR nicht einreisen durfte. Heym hatte einen Text formuliert, der in zwei Sätzen gegen Biermanns Ausbürgerung protestierte und die Rücknahme der Maßnahme verlangte. Hermlin hatte auch einen Text geschrieben, der den gleichen Inhalt unterbreitete, etwas ausführlicher. Wir einigten uns auf Hermlins Fassung, zu Heyms Verdruss. Volker Braun meinte, das von Hermlin verwendete Marx-Zitat entstamme nicht dem 'Kapital', sondern dem '18. Brumaire'. Hermlin schlug nach. Braun hatte Recht; unvorstellbar, wir hätten uns blamiert."

Elmar Krekeler kommentiert die jüngsten Entwicklungen bei Suhrkamp, Andreas Reinharts Verkauf seiner Anteile: Selbst der "gehirngewaschenste Suhrkampianer" müsse registrieren, "welch eines Grads der Erschütterung es bei Reinhart bedurft hat, mit der Familientradition zu brechen (ohne die Investition der Reinharts hätte es nie einen Suhrkamp-Verlag gegeben) und derart deutlich sein zerrüttetes Verhältnis mit der Witwe öffentlich zu machen. Selbst dem muss das groteske Missverhältnis zwischen dem medialen Hype um Suhrkamp und seiner derzeitigen Bedeutung auffallen."

Weiteres: Wahre Wunder hat Kai Luehrs-Kaiser in Tokio von Claudio Abbado und seinem Lucerne Festival Orchestra erlebt: "Der legendär schlechte Prober, als der Abbado seit Jahrzehnten gilt, wandelt sich in Asien zum grandios aufgelegten Motivator, der mit jedem Konzert freier, frischer, im Grunde jünger wirkt als in vergangenen Jahren." Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit dem Regisseur Alfonso Cuaron über seinen sehr katholischen Film "Children of Men". Rainer Haubrich berichtet von der Urban-Age-Konferenz in Berlin. Holger Kreitling schreibt zum Tod des Schauspielers Jack Palance. Robert Schäfer gratuliert dem Landschaftsarchitekten Hinnerk Wehberg zum Siebzigsten.

NZZ, 13.11.2006

Mark Lilla, Professor im Committee on Social Thought der Universität Chicago, sieht einen Abgrund zwischen religiösem Liberalismus und Orthodoxie: "Einer der zahlreichen Mythen, die der religiöse Liberalismus über die Jahrhunderte hinweg gepflegt hat, ist die Behauptung, dass Dialog und gegenseitiger Respekt zwischen den Glaubensgemeinschaften stets möglich seien. ... Im heutigen Konflikt zwischen religiöser Orthodoxie und modernem Liberalismus geht es letztlich nicht um Werte wie Frieden oder Toleranz; es geht um die Frage, ob die Religion die Dienerin einer guten Politik sein soll oder ob die Politik lediglich ein Werkzeug im Dienst der wahren Religion sei."

Urs Schoettli, China-Korrespondent der NZZ, hat sich auf die Suche nach der historischen Mandschurei begeben. Beat Ammann schwärmt vom Teatro Colon in Buenos Aires, das gerade zur Renovierung geschlossen wurde, damit es zu seinem 100. Geburtstag im Mai 2008 wieder in voller Pracht dasteht.

Laut einer Agenturmeldung freut sich Suhrkamp-Chefin Ulla Berkewicz nicht recht auf die Zusammenarbeit mit den neuen Gesellschaftern: "Die von Barlach und Grossner erwartete Mitsprache lehnte Berkewicz mit den Worten ab: 'Das ist absurd! Absolut absurd!'"

Besprochen werden Birgit Dolls Inszenierung von "Warten auf Godot" im Theater St. Gallen und die Architektur-Biennale ArchiLab in Orleans.

TAZ, 13.11.2006

Verflacht Neo Rauch? Liest man Ulf Erdmann Zieglers Rezension der Retro des Künstlers in Wolfsburg, dann scheint es so: "Während vor fünf Jahren noch klar war, wogegen sich die Bilder richteten, verlieren sie nun an Widerstand. Vage schimmert ein Ressentiment gegen die Moderne durch." Und das sieht so aus: "Es soll heute sein und Biedermeier, Tag und Nacht, Krieg und Spiel zugleich. Mal schlagen die Formate, große nun, aus in Richtung Phantasia, dann wieder neigen sie zur Collage von Klischees. Die Figuren fliegen wie bei Chagall, die Szenerien glühen in Apokalypse wie bei Radziwill, die Himmel stehen in Brand wie bei Grosz. Die sozialistischen Abziehbildhelden mutieren ins Altdeutsche, die Muttis changieren zu Trümmerfrauen."

Weitere Artikel: Tobias Rapp hört sich das neue Album des ehemals als Cat Stevens bekannten Singer Songwriters Yusuf Islam an. Holger Römers schildert Reaktionen auf die Meldung, dass Angelina Jolie eine Schwarze spielen wird. Und Kirsten Riesselmann geht in Istanbul spazieren. Und für tazzwei besucht David Denk das Hauptquartier der "digitalen Boheme" in Berlin, das Cafe Sankt Oberholz am Rosenthaler Platz.

Schließlich Tom.

FAZ, 13.11.2006

Im Medienteil empfehlen Michael Hanfeld und Thomas Purschke eine Dokumentation über die Ausspitzelung des ZDF durch die Stasi. In zweijähriger Recherchearbeit hat Christhard Läpple 69 Bundesbürger gefunden, die daran beteiligt waren. "'Die Feindzentrale' handelt von Tätern und Opfern, von dem legendären Gerhard Löwenthal, den die Stasi bekämpfte wie keinen zweiten; von einer jungen Frau aus der DDR, die jahrelang im Gefängnis saß, nur weil sie Kontakt zum ZDF-Studio in Ost-Berlin hatte; von einem Kameramann, der für das ZDF in alle Welt fuhr, von Saigon bis ins Kanzleramt, und alles nach Ost-Berlin kabelte; von einem DGB-Funktionär, der weitergab, was er als Fernsehrat des ZDF mitbekam; und nicht zuletzt geht es um zwei Korrespondenten, die noch im Dienst des Senders stehen."

Das Feuilleton: Dieter Bartetzko wähnt sich in dem von Norman Foster modernisierten Dresdner Hauptbahnhof wie in einem rasend stillstehenden Raumschiff. Julia Encke trifft den französischen Schriftsteller Philippe Djian, der mit den Kollegen Michel Houellebecq und Jonathan Littell nichts anfangen kann. Catherine Newmark resümiert die jüngste Auflage der Tagungsreihe "Urban Age" zur Stadtentwicklung, die am Wochenende in Berlin stattfand. Mark Siemons beobachtet chinesische Wanderarbeiter beim Open Air-Karaoke an einer Ausfallstraße am Nördlichen Ring in Peking. Julia Bähr gibt die Ergebnisse des Poetry Slams in München durch. Christian Schwägerl hofft, dass sich für die Renovierung des Berliner Naturkundemuseums noch spendable Gönner finden. Ingeborg Harms blättert in Zeitschriften, darunter Mittelweg, Universitas und Sprache im technischen Zeitalter.

Auf der letzten Seite berichtet Rainer Hermann aus dem Jemen, wo deutsche Archäologen das antike Reich der Sabäer ausgraben. Gerhard Stadelmaier feiert die siebenhundertste Aufführung von Fitzgerald Kusz' Stück "Schweig, Bub!" in Nürnberg. Ohne erkennbaren Anlass widmet sich Elmar Schenkel schließlich Sir Arthur Conan Doyle.

Besprochen werden Jörg Mannes Einstand als Balletdirektor in Hannover mit der zweieinhalbstündigen Choreografie "Moliere", das Eröffnungskonzert von Nick Caves Deutschlandtournee in Nürnberg, und Bücher, darunter Ernst Schuberts Geschichte über das "Essen und Trinken im Mittelalter", Alfred Bioleks Autobiografie "Bio" und Marc Buhls Roman "Das Billardzimmer" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 13.11.2006

Christine Lemke-Matwey erfährt im Gespräch mit dem Dirigenten Christian Thielemann, wie gut seine Münchner Philharmoniker sind (ein "absolutes Präzisionsinstrument") und wie unsinnig er es findet, "dass in den zu verhandelnden Begehrlichkeiten ausgerechnet die Lindenoper nun zu einer Art Nationalheiligtum hochstilisiert wird: Sonst will man in Deutschland mit Preußen doch nie etwas zu tun haben. Auf die Stiftung Preußischer Kulturbesitz mögen wir alle stolz sein, aber wenn man laut überlegt, ob sich Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern nicht zu einem neuen Bundesland Preußen vereinigen sollten, dann wird laut aufgeschrien. Nur bei der Lindenoper ist plötzlich unser preußisches Erbe ausschlaggebend. Und ich persönlich bin ja nun sehr für Preußen! Aber wäre es nicht, so frage ich mich, ein ebenso mutiges wie nötiges Signal für den mehr und mehr ins Abseits geratenden Westen dieser Stadt, die Deutsche Oper, das größte Haus am Platz, in den Rang einer Bundesoper zu erheben?"

FR, 13.11.2006

Frankfurt hat jetzt auch ein Internationales Filmfestival, das nach Meinung von Daniel Kothenschulte durchaus das Zeug hat, etwas der "Herrschaft des Kunstgewerbes" entgegenzustellen. Was seiner Meinung nach ein Segen wäre angesichts der immer zahlreicheren Glamour-Events: "Natürlich gab es künstlerische Oasen im Schatten des Glamours; der aber hatte monströse Ausmaße angenommen. Man hatte den Wunsch sie zu entführen, so wie Wim Wenders einmal, in einem kurzem Filmauftritt im Blumenberg-Film 'Tausend Augen', eine Kassette aus dem Videoladen stahl. Warum tun sie das, wurde der Ertappte gefragt. Seine Antwort ist ein Wort in Gottes Ohr: 'Es gibt Filme, die muss man da einfach rausholen.'"

Weiteres: Im Interview mit Mirja Rosenau plädiert Städel-Direktor Max Hollein für einen neuen Umgang mit Restitutionsforderungen: Der Staat müsse die Museen finanziell in die Lage versetzten, "ganze Forschungsabteilungen zu gründen", um die Provenienzen der Bilder zu klären. Petra Kohse schreibt zum Tod des Schauspielers und DDR-Kulturfunktionärs Hans-Peter Minetti, Daniel Kothenschulte verabschiedet den Schauspieler Jack Palance. In Times mager verarbeitet Judith von Sternburg die Meldung, dass die Nachfrage nach der kasachischen Währung Tenge sprunghaft gestiegen ist. Besprochen wird die Uraufführung von Ingomar Grünauers Oper "Cantor" in Halle.

Berliner Zeitung, 13.11.2006

Die CDU-Kulturpolitikerin Monika Grütters plädiert mit einer an John F. Kennedy geschulten Rhetorik für die Förderung der Kulturhauptstadt und der Hauptstadtkultur. "Kulturelle Existenz ist keine 'Ausstattung', die eine Nation sich leistet, sondern sie ist eine Vor-Leistung, die allen zugute kommt - nicht zuletzt deshalb, weil sie Eliten an den Ort bindet und das Prestige des Standortes hebt. Die Kultur in Berlin ist nicht Teil des Problems, sondern - in Anbetracht des wirtschaftlichen Ertrags und des geringen Aufwands - Teil der Lösung. An ihrer Humanität spiegelt sich unser öffentliches Bewusstsein. Es ist eine traurige und kurzsichtige Politik, die nur fragt, wo man bei Kultur und Wissenschaft noch sparen kann, statt zu fragen, was alle gemeinsam für Kultur und Wissenschaft tun können."

SZ, 13.11.2006

Jan Brandt hat ein beeindruckendes Porträt des ALS-kranken Jörg Immendorff und seines Arztes Thomas Meyer geschrieben - Meyer ist einer der wenigen Spezialisten für die Krankheit und übrigens selbst Dichter. Unter anderem beschreibt Brandt, wie Immendorff, der seine Hände nicht mehr benutzen kann, heute malt: "Aus seinem Hals ragt ein Plastikstutzen für das Beatmungsgerät, an dem er nachts und nachmittags, wenn er im Bett liegt, angeschlossen wird. Aber jetzt sitzt er in seinem Atelier, einem hohen, hellen Raum im zweiten Stock einer ehemaligen Fadenfabrik unweit des Düsseldorfer Hauptbahnhofes. Er sitzt im Rollstuhl wie in einem mobilen Kommandosessel und dirigiert von dort aus sieben Assistenten, gibt ihnen Anweisungen, wie die Zeichnungen, die sie gemeinsam auf dem Computerbildschirm entwerfen, auf die Leinwände zu übertragen sind. Vierzehn Hände, die seinen Willen ausführen und die er, weil sie eigenwillig sind, mit Worten bändigen muss."

Weitere Artikel: Im Aufmacher geißelt Alexander Kissler neue Techniken der Stammzellforschung, wo inzwischen im Reaganzglas Mensch-Tier-Chimären gezüchtet werden, und kritisiert besonders SPD-Politikerin Dagmar Roth-Behrendt, die sich für diese Techniken einsetzt. Lothar Müller berichtet über den Brief Günter Grass' an seine Leser in Israel, in dem er noch einmal über seine frühe und spät bekannte SS-Mitgliedschaft spricht. Stefan Koldehoff berichtet über den Kampf Julius Schoeps' um ein Picasso-Gemälde, das einst zur Sammlung Mendelssohn-Bartholdy gehörte und das jetzt in New York versteigert werden soll. "tsr" schreibt zum Tod des Schauspielers und DDR-Funktionärs Hans-Peter Minetti. Fritz Göttler schreibt zum Tod des Hollywoodstars Jack Palance. Gemeldet wird, dass die Verlegerin Ulla Berkewicz keine Einflussnahme der neuen Minderheiteneigener des Suhrkamp Verlags zulassen will.

Besprochen werden die Ausstellung "Set in Stone - The Face in Medieval Sculpture" im New Yorker Metropolitan Museum, neue Inszenierungen unter der Intendanz Barbara Mundels in Freiburg, eine Aufführung von Hans Werner Henzes Oratorium "Floß der Medusa" unter Simon Rattle in Berlin und Filme von Rivette und Tsui Hark auf DVD.