Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2006. Die Feuilletons spekulieren: Was wollen die neuen Minderheitseigner des Suhrkamp Verlags? Sind sie überhaupt Minderheitseigner? Die taz fragt, ob wirklich beide Körper Saddam Husseins hingerichtet werden können. Außerdem bekennt Wolfgang Templin seine anhaltende Verachtung für Markus Wolf. Die NZZ liest die auflagenstärkste Zeitschrift der Welt - die Zeitschrift des amerikanischen Seniorenverbands

Berliner Zeitung, 10.11.2006

Der Schweizer Unternehmer Andreas Reinhart hat seine Anteile an Suhrkamp an die beiden Unternehmer Hans Barlach und Claus Grossner verkauft, meldete gestern die Berliner Zeitung. Heute spekuliert Christian Esch über die Motive der neuen Miteigentümer Hans Barlach und Claus Grossner: "Auf die Frage nach Einflusswegen erklärt Hans Barlach am Telefon, dass er ja gar nicht bloß einen Minderheitsanteil halte. Das treffe zwar für die Frankfurter Verlage Suhrkamp und Insel zu - aber da gebe es ja auch noch den Schweizer Verlag Suhrkamp Zürich! Eine eigenständige AG, wie er betont, und 'da sind wir mehrheitlich im Verwaltungsrat'. Die 'Siegfried und Ulla Unseld Familienstiftung' hält hier nur 30 Prozent, 20 Prozent gehören Joachim Unseld, dem Sohn des verstorbenen Suhrkamp-Verlegers, die restlichen 50 Prozent - indirekt - den Hamburgern. Ist die Zürcher Dependance vielleicht der Schwachpunkt, an dem die Investoren die ansonsten wasserdicht wirkende juristische Konstruktion des Suhrkamp-Verlags aufbrechen wollen? Wenn Barlach für Suhrkamp Zürich von einer Mehrheit im Verwaltungsrat redet, obwohl er mit Grossner nur 50 Prozent hält, dann haben die beiden offenbar die Anteile des Sohnes Joachim Unseld schon eingerechnet. Ist er ihr Verbündeter?"

FAZ, 10.11.2006

Hubert Spiegel schildert die komplizierten Besitzverhältnisse im Suhrkamp Verlag und hat Reinhart zu den Motiven für den Verkauf seiner Anteile befragt: "Suhrkamp, sagt Reinhart, sei über viele Jahre ein sehr erfolgreicher Verlag gewesen. Das sei nun seit drei, vier Jahren anders. Er nennt zwar keine Zahlen, wird aber im Gespräch recht konkret: 'Der Verlag wächst seit fünfzehn Jahren nicht mehr. Die Kosten-Umsatz-Schere öffnet sich immer mehr. Ein Verlag muss weiterwachsen, und wenn er es nicht tut, dann geht das auf Dauer nicht gut.'" In einem zweiten Artikel porträtiert Michael Hanfeld den Untenehmer und Barlach-Erben Hans Barlach.

Weitere Artikel: Gemeldet wird, dass die Programmmittel des Goethe-Institutes zum ersten Mal seit Jahren deutlich aufgestockt werden, sofern der Personalbestand in der Münchner Zentrale um 70 Stellen reduziert wird. Reinhard Wandtner weigert sich in der Leitglosse einzusehen, dass der Genbestand des Menschen mit dem des Seeigels zu großen Teilen identisch ist. Christian Schwägerl kritisiert jenseits aller bioethischen Debatten einen allenfalls provinziellen Stand in der deutschen Stammzellforschung. Dieter Bartetzko feiert die neue Münchner Hauptsynagoge des Architektenteams Wandel, Hoefer, Hirsch und Lorch. Rose-Maria Gropp meldet, dass Ludwig Kirchners jetzt für 38 Millionen Dollar versteigerte Berliner "Straßenszene" in Ronald Lauders New Yorker "Neue Galerie" kommt. Regina Mönch teilt eine der ersten Entscheidungen des Berliner Kultursenators Wowereit mit: Es wird keine mobile Kunsthalle auf dem Berliner Schlossplatz geben. Kerstin Holm berichtet kurz über einen internationalen Architekturwettbewerb für die Petersburger Gasprom-Zentrale mit Entwürfen von Herzog de Meuron und Rem Kohlhaas und weiteren Stars. Und Mark Siemons berichtet über Initiativen gegen die traditionelle Medizin in China.

Auf der Medienseite stellt Michael Seewald die Pläne des ehemaligen Bavariachefs Thilo Kleine vor, der einen Film über den jungen Hitler produziert. Michael Hanfeld meldet, dass Silvio Berlusconis aus dem Bieterrennen für Pro Sieben Sat. 1 aussteigt - jetzt sind nur noch Investoren im Spiel.

Auf der letzten Seite unterhält sich Hans-Joachim Müller mit dem spät gefeierten Künstler Gustav Metzger, der bei der Documenta 1972 die Abgase von vier Autos in einen Plastikkubus leiten wollte - ein Projekt, das dem damaligen Kurator Harald Szeemann zu gefährlich war. Metzger beschreibt es so: "In regelmäßigen Abständen hätte man den Plastikkubus durchlöchern müssen, und dann wäre die Luft sehr schädlich gewesen, und man hätte beobachten können, was drinnen und ringsum passiert. Möglicherweise wären die Autos durch die Umleitung ihrer Abgase kaputtgegangen. Und wenn das nicht geschehen wäre, dann hätten sie am Ende der Ausstellung gesprengt werden sollen." Außerdem meldet Hannes Hintermeier, dass die Verlegerin Doris Janhsen bei Droemer aus- und bei Pendo einsteigt und dass ihr Mann Christian Strasser (ehemals Heyne-Ullstein-List) möglicherweise ein neues Imperium aufbauen will. Und Klaus-Dieter Leciejewski träumt von einer kubanischen Zigarrenkiste für Millionäre - jede Zigarre kostet 375 Dollar.

Besprochen werden die große Neo-Rauch-Retro in Wolfsburg ("man muss lange suchen, bis man weltweit einen anderen Maler der Generation nach Baselitz, Hockney, Kiefer, Richter und Polke findet, der auch nur annähernd an den 1960 geborenen Leipziger Rauch heranreichte", schreibt ein hingerissener Thomas Wagner), Christian Wagners Film "Stille Sehnsucht - Warchild", Luca De Fuscos Inszenierung von Shakespeares "Kaufmann von Venedig" ebendort und Ereignisse des Berliner Chorfestivals "Tenso Days".

TAZ, 10.11.2006

Markus Wolf, früherer Chef der DDR-Auslandsspionage, ist tot. "Hassen konnte ich sie später alle nicht, da ging es mir wie Biermann, verachten schon. Verachten ging bei Ulbricht und Mielke einfach, bei der Vaterfigur Pieck und dem gebrochenen Grotewohl schon nicht mehr so. Welches Gefühl sollte ich bei Markus Wolf haben?", überlegt der Bürgerrechtler Wolfgang Templin, der 1988 wegen "landesverräterischer Agententätigkeit" verhaftet und in die Bundesrepublik abgeschoben worden war. "Alle westlichen Geheimdienste haben genug Dreck am Stecken, die spätere kollegiale Fraternisierung ihrer Vertreter mit Markus Wolf hat mich immer angeekelt. Dennoch gibt es entscheidende Unterschiede. Die Hauptverwaltung Aufklärung der DDR war zu keiner Stunde ihres Bestehens ein 'normaler' Spionagedienst. Abgesehen von den Mord- und Terrorkommandos, den zahllosen Entführungen und anderen Verbrechen, in die die HVA verstrickt war, bestand ihr Hauptauftrag darin, das 'Operationsgebiet' Bundesrepublik für die feindliche Übernahme reif zu machen."

Auf der Meinungsseite kommentiert Norman Birnbaum den Wahlsieg der Demokraten ohne große Freude: "Die Macht ist in der Legislative an eine Partei gefallen, die zerstritten und unsicher ist. Die internen Streitigkeiten der Demokraten werden schon bald ihr Bild in der Öffentlichkeit bestimmen."

Im Feuilleton fragt sich Christian Kortmann anlässlich Benjamin Kunkels Roman "Unentschlossen" (Leseprobe) über die Willenspille Abulinix: "Wo genau liegt die Grenze zwischen preiswürdiger Literatur und einer gekonnten PR-Kampagne rund um eine attraktive Debütantenfigur?" Schweres diskurstheoretisches Geschütz und Ernst Kantorowiczs Lehre von den "Zwei Körpern des Königs" fährt Isolde Charim auf, die überlegt, wie man die beiden Körper Saddam Husseins los wird: "Des natürlichen Körpers kann man sich leicht entledigen, aber der Reste des erhabenen Körpers, der Reste der Herrschaftsaura?" Harald Fricke beleuchtet noch einmal die Hintergründe des Verkaufs von Kirchners "Straßenszene" in New York und das den Kunstmarkt aufheizende Agieren des Ronald Lauder.

Und noch Tom.

NZZ, 10.11.2006

"Wer gibt weltweit mit 22 Millionen Exemplaren die auflagenstärkste Zeitschrift heraus? Es ist die American Association of Retired Persons (AARP). Der Seniorenverband lässt sein AARP - The Magazine alle zwei Monate mit 80 bis 140 Seiten erscheinen. Das Magazin ist in den USA einer von 400 Titeln, die Senioren - in Industriestaaten die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe - gewidmet sind", berichten Reto Eugster und Manfred Weise auf der Medien- und Informatikseite. Auch in der Schweiz gibt es zahlreiche Zeitschriften für ältere Menschen, die aber meist dazu tendieren, "ja niemandem weh tun... Kritische Themen wie: 'Altersdiskriminierung', 'Warum verschwinden Moderatorinnen ab 50 von der Mattscheibe?' und 'Senioren in Entwicklungsländern' sucht man vergebens." Dabei sind ältere Menschen "Mediennutzer par excellence. Von allen Altersgruppen sehen sie nicht nur am meisten fern und hören am längsten Radio, sie werden am erfolgreichsten von Tageszeitungen erreicht."

Im Feuilleton stellt Charlotte Schmitz in einem Schauplatz Mosambik das Teatro Avenida vor. Joachim Güntner warnt vor einer bedrohlichen Entwicklung in Deutschland: der Auswanderung von Akademikern. Die Deutschen, schreibt er, werden "ärmer, älter, kleiner - und dümmer. Fast 145 000 Deutsche sind nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden im vorigen Jahr aus ihrem Heimatland fortgezogen, so viele wie seit den 1950er Jahren nicht mehr." rbl. meldet den Rückzug der Winterthurer Volkart-Holding von Suhrkamp. Ulf Meyer feiert die neue Münchner Synagoge als "ein Meisterwerk zeitgenössischer Sakralarchitektur". Besprochen wird die große Yves-Klein-Retrospektive im Pariser Centre Pompidou.

Welt, 10.11.2006

Auch Uwe Wittstock macht sich Gedanken über die neuen Verwerfungen bei Suhrkamp. Der Schweizer Geschäftsmann Andreas Reinhart hat seine 29-prozentige Beteiligung an den Medienunternehmer Hans Barlach und den Investmentbanker Claus Grossner verkauft: "Bemerkenswert ist auch, dass Suhrkamp, wie der stellvertretende verlegerische Leiter des Hauses, Thomas Sparr, bestätigt, von Reinharts Verkauf aus der Zeitung erfahren hat. Das spricht nicht eben für freundliche Umgangsformen unter Geschäftspartnern, die jahrzehntelang zusammengearbeitet haben."

Manfred Quiring meldet, dass Sacha Baron Cohens Kasachen-Komödie "Borat" in Russland verboten wurde, von der Föderalen Agentur für Kultur und Kinematografie: "Der Film enthalte Material, das einige Zuschauer als Angriff auf bestimmte Nationalitäten und Religionen auffassen könnten, begründete Juri Wasjutschkow die Weigerung seiner Agentur, die entsprechende Aufführungslizenz zu erteilen. Die Zensur, die es offiziell in Russland nicht mehr gibt, erhebt ihr erneut ihr Haupt."

Weiteres: Anlässlich der Neo-Rauch-Retrospektive in Wolfsburg erklärt Uta Baier, wodurch der Maler die Bedürfnisse der Kunstkonsumenten so perfekt befriedigt ("Die Figur, die unpolitische Erzählung, die Behauptung, Malerei sei die wichtigsten deutsche Kunstform"). Barbara Kutscher berichtet von der teuersten Auktion aller Zeiten bei Christie's in New York, bei der die Bilder zu zweistelligen Millionenbeträgen wie Brötchen über den Ladentisch gingen. Im Interview mit Gernot Facius verkündet der Theologe Christian W. Troll, was wir von Islam und Koran lernen können. Wieland Freund meldet, dass Amazon den Eintrag zu Joachim Fests Erinnerungen "Ich nicht" komplett gelöscht hat. Freund stellt auch Stanley Corens Buch "Hunde, die Geschichte schreiben" vor. Manuel Brug war bei der Eröffnung der Münchner Tanz-Biennale "Dance".

FR, 10.11.2006

Der Sieg der Demokraten wird die amerikanische Politik nur homöopathisch verändern, stellt Marcia Pally (homepage) fest und will damit überzogene Erwartungen dämpfen. "Der diplomatische Umgang mit Europa würde bestimmt wieder freundlicher werden. In Angelegenheiten der Diplomatie sind gute Umgangsformen bestimmt sehr wichtig - doch werden sich die Amerikaner ihnen nur solange verpflichtet fühlen, solange ihre substanziellen Interessen unberührt bleiben. Und was diese Interessen angeht, werden die Verheißungen ökonomischer Freiheit und politischer Stabilität stets dazugehören, ebenso wie auch der regime change ein probates Mittel der Außenpolitik bleiben wird."

Weiteres: Das finanzielle Engagement von Hans Barlach und Claus Grossner wird an den Mehrheitsverhältnissen im Hause Suhrkamp nichts ändern, konstatiert Ina Hartwig. Harry Nutt diskutiert angesichts der Flucht von Mario M. auf das Dach des Dresdner Untersuchungsgefängnisses die steigende Mediengewandtheit der Beteiligten im Justizsystem. Nicht um Berlusconis Übernahmegelüste, sondern um die Digitalisierung sollten sich die Medienverantwortlichen Gedanken machen, rät Daland Segler auf den Mainzer Medientagen. Peter Michalzik nutzt ein Times mager, um Jürgen Habermas' "pointierte" Bonner Dankesrede zu Europa zu kommentieren.

Außerdem dokumentiert die FR einen Briefwechsel zwischen Günter Grass und Mitgliedern der israelischen Netanya-Akademie, die ihm die Ehrendoktorwürde verleihen wollte, was jedoch nach Grass' Geständnis, Mitglied der Waffen-SS gewesen zu sein, nicht geschah. Die Hintergründe beschreibt Inge Günther.

SZ, 10.11.2006

Zum Wahlsieg der Demokraten druckt die SZ das Manifest, in dem der Politikwissenschaftler Bruce Ackerman und der Soziologieprofessor Todd Gitlin vor drei Wochen ihre liberalen Gesinnungsgenossen wieder aufs politische Parkett gerufen haben. Internationale Interventionen könnten seltener werden. "Wir Liberale möchten die öffentlichen Debatten wieder zu den zentralen Fragen hinlenken, die einfache Amerikaner beschäftigen: ihr Recht auf Wohnraum, bezahlbare ärztliche Behandlung, gleiche Chancen auf dem Arbeitsmarkt und gerechter Lohn, leibliche Sicherheit und eine nachhaltige Bewirtschaftung unserer Umwelt, uns selbst und künftigen Generationen zuliebe."

Weitere Artikel: Nicolas Richter und Felix Denk verabschieden Donald Rumsfeld mit einer Auswahl seiner eigenen Bonmots. "Wie wird es enden? Es endet. Das ist es." Christian Kortmann hält die medial aufgeklärten You-Tube-Besucher für durchaus fähig, die Inszeniertheit der dargebotenen Filme zu durchschauen und zu genießen. Bei der Herbstauktion für impressionistische und zeitgenössische Kunst hat Christie's am Mittwoch in New York mit 491,4 Millionen Dollar einen neuen Rekord aufgestellt, meldet Andrian Kreye. Dabei war Picassos Porträt von Angel Fernandez de Soto gar nicht dabei, wie Stefan Koldehoff ergänzt, weil der Historiker Julius H. Schoeps das Bild für seine Familie zurückfordert. Clemens Tesch-Römer schreibt zum Tod des Alterungsforschers Paul B. Baltes. Wolfgang Schreiber verabschiedet den gestorbenen Musikjournalisten Heinz Josef Herbort. Fritz Göttler stellt den kanadischen Filmemacher Guy Maddin vor, dessen Werke derzeit in Retrospektiven in einigen deutschen Städten zu sehen sind.

Besprochen werden die Uraufführung von Michael Sturmingers Oper "I hate Mozart" mit der Musik von Bernhard Lang im Theater an der Wien, Christian Wagners Film "Stille Sehnsucht - Warchild", eine Ausstellung über die Arbeit des Bestatters im Museum für Sepulkralkultur in Kassel, und Bücher, darunter Hannes Steins "Enzyklopädie der Alltagsqualen"und Marina Lewyckas "knalliger" Roman "Die Geschichte des Traktors auf Ukrainisch" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).