Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2005. In der Welt weist Thea Dorn auf einen seltsamen Umstand dieses Wahlkampfs hin: Die aussichtsreichste Kandidatin ist eine Frau, und 90 Prozent ihrer Gegner im Feuilleton sind es auch. Die FAZ erlebte das TV-Duell Schröder/Merkel als Komödie des pädagogischen Eros. In der FR erkennt Sighard Neckel in Angela Merkels Sozialpolitik eine späte Rache von Erich Honecker. Die SZ versinkt in der Tiefe von Gerhard Richters Grau. Und die taz untersucht Spuren der 68er im Kursbuch und im Ikeakatalog.

Welt, 06.09.2005

Autorin Thea Dorn wundert sich über ihre für die SPD trommelnden Kolleginnen wie Eva Menasse oder Katja Kullmann. "Zum ersten Mal sind 90 Prozent aller Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, die sich wahlkämpferisch aus dem Elfenbeinfenster hängen, Frauen. Frauen, deren größte Angst es ist, dass Angela Merkel Kanzlerin wird. (...) Ob einer meiner frauenbesorgten Kolleginnen schon einmal der Gedanke gekommen ist, die Tatsache, dass im Augenblick sie die politische Feuilleton-Debatte bestimmen, könnte eine erste Auswirkung davon sein, dass Angela Merkel Kanzlerkandidatin ist?"

In einem ziemlich gepfefferten Beitrag rechnet der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit der Irakpolitik der Regierung Bush ab: "Wir wissen nicht, wie die Sache im Irak für uns ausgehen wird. Wir wissen aber, dass vier Jahre nach dem 11. September der Erfolg der gesamten Außenpolitik der USA offenbar vom Ausgang eines Krieges abhängt, der nur am Rande mit dem zu tun hat, was Amerika an jenem Tag widerfuhr. Nichts an diesem Kriege war unvermeidlich. Fast alles an ihm ist bedauerlich."

FAZ, 06.09.2005

Auch Patrick Bahners hat gesehen, was alle gesehen haben: das Duell. Er hat es als Schulstunde von Gerhard Schröder für Angela Merkel erlebt: "Dass Schröder sich wie ein Lehrer gab, löste sein delikatestes Rollenproblem: Wie sollte er einer Frau Widerworte geben? Die Schülerin hat ein Recht auf Zurechtweisung. Die schönsten Momente in dieser Komödie des pädagogischen Eros waren die stummen. Da Schröder beim Zuhören keinen Gemütsausdruck erkennen ließ, war es jedesmal höchst wirkungsvoll, wenn er dann doch eine Miene verzog - wenn er aus der Versteinerung erwachte, als verlangte es Übermenschliches von ihm, sich weiter auf seine Würde zu versteifen."

Weitere Artikel: Heinrich Wefing begrüßt den jetzt restaurierten und also wieder wirkliches Feuer speienden künstlichen Vulkan im Park von Wörlitz (Website) geradezu enthusiastisch zurück im Kreis europäischer Spektakel: "ein wundervoller Irrsinn, eine köstliche Verschwendung". Dirk Schümer hat in Venedig Filme von Ron Howard und Cameron Crowe gesehen, die er entsetzlich amerikanisch fand. Frank Pergande informiert über eine Studie, die die wenig erfreuliche und bis in die Gegenwart hineinreichende Vergangenheit des Literaturzentrums in Neubrandenburg aufrollt. In der Reihe Entrümpelung (XI.Folge) lässt es sich Wirtschaftsredakteur Hans D. Barbier nicht nehmen, mit viel Schwung die Windräder zu beschimpfen. Dietmar Dath berichtet vom amerikanischen Sensationsprozess um den Mörder Scott Peterson (Wikipedia), der Frau und Kind tötete und zu Erwägungen über "Familienwerte" Anlass gibt.

Beim "Blick in amerikanische Zeitschriften" stößt Jordan Mejias auf Probleme mit den Ölvorräten. Vorgestellt wird Xavier Chambon, der in Frankreich Bücher jetzt über Automaten vertreibt. Den in Berlin allgegenwärtigen Einstein-Zitaten ist Iris Hanika nachgegangen. Kurz kommentiert wird eine Abstimmung, bei der die Briten William Turners Darstellung der letzten Reise der Temeraire zu ihrem liebsten Gemälde gewählt haben.

Besprochen werden die Platte "Für die nicht wissen wie" der Band Erdmöbel, der Tourneeauftakt des Folkrockers Richard Thompson in Hamburg, Konstantin Faigles Film "Die große Depression", die Ausstellungen "Ein Fest der Malerei" und "Slow Art" im Düsseldorfer Museum Kunst Palast. Auf der DVD-Seite geht es um Filme mit Steve McQueen und Isabelle Adjani, um Blaxploitation und ein neues deutsches Arthouse DVD-Label. Die Literatur-Rezension ist Kenzaburo Oes Künstlerroman "Tagame. Berlin-Tokyo" (hier eine Leseprobe) gewidmet. (Mehr in der Bücherschau des Tages.)

FR, 06.09.2005

In einer heute beginnenden Interviewreihe dazu, was eigentlich am 18. September zur Wahl steht, geht es in einem Gespräch mit dem Gießener Soziologen Sighard Neckel um die soziale Frage, genauer darum, ob "die projektierte Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik von Angela Merkel womöglich eine späte Rache von oder an Erich Honecker" sei. "Dass der Wahlkampf den Eindruck vermittelt, die Krise in Deutschland könne mit dem Stimmzettel beendet werden, ist nicht überraschend. Die Politik bedarf dieser Illusion, um sich von der Wählerschaft Handlungskapazitäten zuschreiben zu lassen, die sie in Wirklichkeit vielfach eingebüßt hat. Umso emphatischer setzen die Parteien Losungen wie 'soziale Gerechtigkeit', 'Vorfahrt für Arbeit' oder 'mehr Wachstum' ein, um Unterschiede zu signalisieren, an deren Einebnung sie selbst mitgewirkt haben.... Zur Wahl stehen daher viel bescheidenere Alternativen, vielleicht allein jene, über Alternativen politisch überhaupt nur verfügen zu wollen."

Weiteres: Monika Krause legt dar, dass der Umgang mit dem Hurrikan Katrina soziologisch als "Konsequenz des radikal freigesetzten Individuums" gelesen werden könne. In Times mager erklärt Ursula März, warum es für Gerhard Schröder im TV-Duell durch seine Selbstinszenierung als "Spätwerk" zwar "ein Kinderspiel" gewesen sei zu "triumphieren. Und dennoch unmöglich zu siegen." Daniel Kothenschulte analysiert bei den Filmfestspielen in Venedig den "wechselnden Erfolg" des "Kinos des Virtuellen".

Besprochen werden Bücher, darunter eine Werkausgabe des "begnadeten Anachronisten" Gregor von Rezzori, ein Band mit Berlin-Gedichten von Bora Cosic und ein Buch der autistischen Anthropologin Temple Gradin über die Parallelen zwischen Mensch und Tier (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 06.09.2005

Andreas Breitenstein vermisst beim Sanssouci-Kolloquium, auf dem hundert Journalisten in Potsdam über Europa diskutierten, ein wenig die gute alte Übersichtlichkeit des Kalten Krieges. Nick Liebmann hat auf dem Jazzfestival Willisau europäischen Jazz der Spitzenklasse gehört, von den Amerikanern aber nur "Tiefschläge" erhalten. Maike Albath gratuliert dem italienischen Bestsellerautor Andrea Camilleri zum Achtzigsten.

Besprechungen widmen sich Igor Strawinskys abendfüllender Oper "The Rake's Progress" in einer "streng stilisierten" Version von Christian Schmidt auf dem Lucerne Festival, der Uraufführung von Christoph Klimkes Stück "Spiegelgrund" bei der Saisoneröffnung des Wiener Volkstheaters, und A. L. Kennedys Trinkerroman "Paradies".

TAZ, 06.09.2005

Jan-Hendrik Wulf untersucht "unterschiedliche Spuren der 68er-Generation" im neuen Ikea-Katalog und im "runderneuerten" Kursbuch. Für einen Beitrag zu Letzterem gibt er SZ-Redakteurin Franziska Augstein eins auf die Nase: Den "berüchtigten studentisch versnobten Kulturpessimismus" meine man "nur noch in ihrem Beitrag zu verspüren: Sie hadert mit dem Umstand, dass sich ausgerechnet die unterprivilegierten Habenichtse im Lande als treue CDU-Wähler erwiesen, obwohl ihnen solche Politik doch gar nichts nütze: 'Im 19. Jahrhundert hatten diese Leute kein Wahlrecht. Im 21. Jahrhundert werden es die herrschenden Klassen nicht nötig haben, ihnen das Wahlrecht abzuerkennen.' Man will Augstein gar nicht widersprechen. Aber wenn ihre Analyse nicht als Aufruf zum revolutionären Umsturz gemeint wäre, steckte dahinter wirklich nicht mehr als ein in elitärer Demokratieverdrossenheit gekräuseltes Näschen."

Im letzten Teil der Serie "Political Studies" räsoniert Jan Engelmann darüber, welche Rolle Politik in seinem Leben spielt. "Politik ist (...) ein seltenes Gut, das ohne Beteiligung zu Grunde geht. Das einfach verschwindet, wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand. Alle wissen das und betätigen sich trotzdem als Totengräber der Partizipation."

Cristina Nord meinte, nach Takashi Miikes Film "The Great Yokai War" die Filmfestspiele von Venedig verlassen zu können - und sah dann mit Philippe Garrels "Les amants reguliers" über den Straßenkampf des Jahres 68 "den bisher besten Film des Wettbewerbs". Robert Misik entwirft nach zweimonatigem Landaufenthalt eine "Theorie des Gemüsegartens" ("Keine Sorge: Ich denke nicht, dass ich in all dem Grün endgültig verblöde."). Besprochen wird schließlich der Thriller "11:14" von Greg Marcks.

Und hier TOM.

SZ, 06.09.2005

Drei lange Lesestücke sind heute zu bewältigen. In einem Essay lotet Gottfried Knapp die "Tiefe der Farbe Grau" in der Malerei von Gerhard Richter aus: "Die Mischfarbe Grau kann, wie Richter mit seinen vielen unterschiedlich grautönigen Bildern beweist, in jede Richtung des Farbkreises hinüberchangieren, ja wenn alle Farben gemischt werden, entsteht ein gedecktes Grau. In einem monochrom grauen Bild kann also das gesamte Farbenspektrum eines pulsierenden Gemäldes enthalten sein, ja alle malerischen Stile der Vergangenheit und der Gegenwart vereinigen sich potenziell in diesem Mischton. Das Grau steht im Spektrum der Farben also für Verdichtung und für eine Reinheit, die alles enthalten kann und doch fast nichts bedeuten muss."

In der Reihe "Der große Graben" widmet sich Petra Steinberger heute dem Kapitel Frauen gegen Männer. Eingangs betreibt sie zunächst einmal Grundlagenforschung: "Wer jung ist, wird alt, Gesunde können auch mal krank werden, und heutzutage ist kein Job mehr sicher. Genau das unterscheidet den uralten Zwist zwischen Männern und Frauen - was das Geschlecht angeht, steht man das ganze Leben nur auf einer Seite."

Im Vorabdruck der gekürzten Fassung seines Vorworts zu seinem Essayband "Musikzimmer. Avantgarde und Alltag", der Ende September bei Kiepenheuer & Witsch erscheinen wird, erläutert schließlich Diedrich Diederichsen, warum sich mit Pop keine Revolution mehr machen lässt.

Weiteres: Susan Vahabzadeh berichtet aus Venedig über Filme von Werner Herzog, Philip Gröning, John Madden und Patrice Chereau. bgr kommentiert die Indizierung der Musik-Tausch-Software Kaaza. Jens Bisky informiert über die Kritik Berliner Architekten an der Machbarkeitsstudie des Schlossneubaus. In der Zwischenzeit erzählt Harald Eggebrecht eine hübsche Anekdote über den "Fantasieforscher" Oskar Sahlberg.

Besprochen werden eine Ausstellung in Istanbul, in der die Türkei erstmals nach 50 Jahren das Pogrom an den Istanbuler Griechen aufarbeitet, Johann Kresnicks "Spiegelgrund" am Wiener Volkstheater und Bücher, so Philip Roths Roman "Verschwörung gegen Amerika", drei neue Bücher von Andrea Camilleri, eine Biografie über Charles Lindbergh und ein Handbuch der Ikonographie (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).