Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

Film

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Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.03.2024 - Film

Wird nie kalt: "Das Signal" (Netflix)

Florian David Fitz hat mit "Das Signal" einen deutschen Science-Fiction-Vierteiler für Netflix gedreht. Elmar Krekeler packt da in der Welt ein derart überschäumend-ergriffener Enthusiasmus, das man fast gewillt ist, das Lob als Ironie zu verstehen. Jedenfalls "geht es - das nebenbei - in den vier Stunden, die man dem 'Signal' unbedingt geben sollte, vor allem ums Hören, ums Zuhören, ums Verstehen von dem, was man hört, ums Senden und ums Empfangen. ... Die Erzählökonomie kann einen geradezu glücklich machen. Zumal es nie kalt wird in den auch philosophisch und historisch weiten Räumen, durch die 'Das Signal' hallt. Weil eine unheimliche Wärme von Paula und Sven und Charlie ausgeht, Peri Baumeister und Florian David Fitz und der ganz wunderbaren Yuna Bennett. Um sie herum kreist im Cast ein ziemlich großes System von Sternen - Katharina Thalbach, Meret Becker, Uwe Preuss, Katharina Schüttler. Und allesamt nutzen sie die wenige Zeit, die ihnen oft bleibt, zu feinen Charakterstudien." Matthias Kalle auf Zeit Online hingegen streckt bei all dem Mystery-Mumpitz die Waffen: "Mit den Mitteln der Kritik kann ich dieser Serie nicht gerecht werden, denn ich habe im Prinzip gar nichts verstanden." Weshalb er es mit dem Rezensieren auch sein lässt und stattdessen 33 Verständnisfragen an Netflix formuliert.

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Im Tagesspiegel-Gespräch mit Werner Herzog über das Wesen der Wahrheit (darüber hat der Filmemacher gerade einen Essay geschrieben) gibt sich der bajuwarische Autorenfilmer erneut kampfeslustig. Unter anderem kommt die Sprache auch darauf, wie sich KI auf Drehbücher auswirkt. "Vermutlich werden sie schlechter. Künstliche Intelligenz wird niemals in der Lage sein, ein Drehbuch von dem Kaliber zu schreiben, wie ich es kann. Sie wird auch niemals Filme herstellen, die so großartig sind wie meine."

Auf Artechock kommt Rüdiger Suchsland Oliver Stone zu Hilfe, dem nach Recherchen vorgeworfen wird, sich von autoritären Machthabern für schmeichelhafte Filme bezahlen zu lassen (unser Resümee): Der Regisseur "ist sicherlich jemand, der von der Macht fasziniert ist, auch von ihren Abgründen. ... Auch mit Filmen, die vom Ausland erzählen, kritisiert er eigentlich seine eigene Heimat. Er ist ein Linker, ein Contarian, einer der selten viel Geld vom großen Hollywood bekommt. Man sollte diese ganzen Enthüllungen darum jetzt zumindest auch daraufhin befragen, warum es denn ausgerechnet einen unabhängigen linken Filmemacher trifft? Einen der immer umstritten war? Es trifft dagegen nicht die Hollywood-Konzerne, die sämtlich sehr wohl mit den ganzen Ländern, die hier erwähnt werden, Geschäfte machen."

Weitere Artikel: Wolfgang Lasinger resümiert für Artechock die iranischen Filme, die in diesem Jahr auf der Berlinale liefen. Dazu passend ist in Berlin gerade die fünfzehnminütige Videoinstallation "The Fury" der iranisch-stämmigen Filmemacherin und Künstlerin Shirin Neshat zu sehen, berichtet Birgit Rieger im Tagesspiegel. Thomas Willmann spricht für Artechock mit der Filmemacherin Helen Britton über ihren Dokumentarfilm "Hunter from Elsewhere". Magdalena Pulz stellt in der SZ das TikTok-Comedyphänomen Paloma Diamond vor, eine fiktive Schauspielerin, die angeblich schon neunzehnmal - und jedes Mal erfolglos - für den Oscar nominiert wurde. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl der Filmproduzentin Regina Ziegler zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Michael Manns "Ferrari" (critic.de, unsere Kritik), Ethan Coens "Drive-Away Dolls" (critic.de, unsere Kritik), Severin Fialas und Veronika Franz' Arthaus-Horrorfilm "Des Teufels Bad" (Standard) und Stephen Frears' Serie "The Regime" mit Kate Winslet (NZZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 07.03.2024 - Film

Anmut in der Trauer ums Paradies: "Ferrari" von Michael Mann

Michael Manns neuer Film "Ferrari" ist leider nur auf Amazon Prime und nicht im Kino zu sehen. Seinen Titel trägt das Biopic dabei wohl eher aus Marktkalkül, glaubt Robert Wagner im Perlentaucher: Jedenfalls weiß man nach dem Film nur ein bisschen mehr über Enzo Ferrari (Adam Driver), hat aber "einer zutiefst universellen Erzählung" beigewohnt. "Manns Film zeichnet nicht das Porträt eines Rennstalls, sondern malt das Porträt eines Lebens in der Gegenwart, das aus der Perspektive eines verloren gegangenen (oder nie erreichten) Paradieses immer beschwerlich wirkt. Die größte Qualität von 'Ferrari' ist, dass eben dies nicht als triste, bedeutungsschwere Erkenntnis präsentiert, sondern mittels eines eleganten, lustgesteuerten, zuweilen makabren Genrefilm gefeiert wird."

Weitere Artikel: Die Enthüllungen um Oliver Stone, der nach Recherchen von unter anderem Spiegel, ZDF und Standard offenbar bei autoritären Machthabern die Klinke putzt, um sie für schmeichelhafte Porträtfilme zu gewinnen (unser Resümee), hätte man bereits 2022 bringen können, schreiben Tobias Kniebe und Susan Vahabzadeh in der SZ - zumindest lagen schon damals entsprechende Informationen auf dem Tisch, die die SZ selbst damals allerdings auch nicht aufgegriffen hat. In der FR verneigt sich Daniel Kothenschulte vor der Schauspielkunst von Sandra Hüller, die sich Hoffnungen auf einen Oscar machen kann. Für die Welt plaudert Hanns-Georg Rodek mit Ethan Coen und Tricia Cooke über deren lesbische Krimikomödie "Drive-Away Dolls" (unsere Kritik). Patricia Kornfeld empfiehlt im Standard das Wiener Festival "Tricky Women Tricky Realities" mit Animationsfilmen von Frauen.

Besprochen werden Eric Gravels Sozialdrama "Julie - Eine Frau gibt nicht auf" (FD, SZ), Veit Helmers queeres Liebesdrama "Gondola" (FD, SZ), die DVD-Ausgabe von Adil El Arbis und Bilall Fallahs "Rebel" (taz), Johan Rencks auf Netflix gezeigter Science-Fiction-Film "Spaceman" mit Adam Sandler (FR), Florian David Fitz' auf Netflix gezeigte Science-Fiction-Serie "Das Signal" (Welt), die Sky-Serie "Mary & George" mit Julianne Moore (Tsp) und die auf Disney+ gezeigte Serie "Shōgun" (Presse). Außerdem meldet die SZ, welche Filme sich in dieser Woche lohnen und welche nicht. Und hier der Überblick des Filmdiensts über alle Starts in dieser Woche.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.03.2024 - Film

Oliver Stone lässt sich von autoritären Machthabern für schmeichelhafte "Dokumentarfilme" kaufen - das jedenfalls behauptet ein Rechercheteam, dem unter anderem der Spiegel, das ZDF und der österreichische Standard angehören. Anstoß zur Recherche gab "Qazaq": Das in der Originalfassung achtstündige Porträt über den kasachischen Langzeit-Präsidenten Nursultan Nasarbajew ließ nach der Premiere in Kasachstan 2021 die Filmwelt die Stirn runzeln - und wurde, wie sich nun herausstellt, von Nasarbajew selbst über Umwege finanziert. Unklar ist, wie es sich mit Stones früheren Filmen über Castro, Chavez und Putin verhält. Hinter dem kasachischen Film steckte seitens Stone und seiner Geschäftspartner aber offenbar der Versuch eines Franchise: Aus Unterlagen gehe "hervor, dass Nasarbajew nur einer von mehreren umstrittenen Herrschern war, mit denen Stone und seine Partner ins Geschäft kommen wollten. Ob der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko, der türkische Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan oder Aserbaidschans Autokrat Ilham Alijew - sie alle hätten ebenfalls Hauptdarsteller einer schillernden 'Oliver Stone Documentary' werden können, wenn man sich einig geworden wäre. ... Offenbar war sich Stone bewusst, wie problematisch sein Vorgehen war. In einer geleakten E-Mail schreibt sein Produzent, Stone wolle im Interview die mangelnden Menschenrechte beziehungsweise 'Fälle ihrer Verletzung' ansprechen - als 'eine Art Versicherung', damit ihm im Nachgang 'niemand vorwirft, diese Fragen nicht gestellt zu haben'. In der veröffentlichten Zweistundenversion von 'Qazaq' ist von Menschenrechtsfragen allerdings keine Spur."

Außerdem: Die US-Filmindustrie sieht in Claudia Roths Plänen zur Reform der Filmförderung keine zusätzlichen Anreize um in Deutschland zu produzieren, berichtet Christian Meier in der Welt. Außerdem wirft der Jüdische Weltkongress Roth nach der Berlinale mangelndes Engagement gegen Antisemitismus vor, meldet Evelyn Finger auf Zeit Online. Wolfgang Hamdorf spricht für den Filmdienst mit der Regisseurin Léa Todorov über ihr (im Tagesspiegel besprochenes) Spielfilmdebüt "Maria Montessori".

Besprochen werden Claudia Richarz' Porträtfilm "Aufräumen" über die Filmemacherin Helke Sander (Tsp), Éric Gravels "Julie - eine Frau gibt nicht auf" (taz), die Serie "Shōgun" (Welt) und die Amazon-Serie "Die Discounter" (Jungle World).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.03.2024 - Film

Andreas Scheiner formuliert in der NZZ Vorbehalte gegenüber Jonathan Glazers "The Zone of Interest" (unsere Kritik), da der Film den antisemitischen Hass seiner Figuren nicht zu fassen kriegt und den Holocaust auf ein kaltes, logistisches Unternehmen reduziert. Als Auschwitz-Kommandant Höß die "Pläne für ein neues Krematoriumssystem vorstellt, redet er von der 'Ladung', die möglichst effizient verbrannt werden müsse." Sicher, "Hannah Arendt betonte in ihrem Bericht zu Adolf Eichmann und der 'Banalität des Bösen', dass die Sprache der Nazis darauf aus war, die Ermordung der Juden möglichst zu abstrahieren". Doch Höß "war schon in den Zwanzigerjahren ein glühender Judenhasser, der gerne selber Hand anlegte. Indem Glazer ihn auf den grauen Technokraten reduziert, riskiert der Film eine Trivialität des Bösen."

Außerdem: Jakob Thaller führt im Standard durch das Programm des Jüdischen Filmfestivals in Wien. Für die FAZ spricht Mina Marschall mit der Unterwasser-Kamerafrau Christina Karliczek Skoglund über deren in der ARD gezeigte Doku "Geister der Arktis".

Besprochen werden Stephen Frears' Serie "The Regime" mit Kate Winslet (taz, FAZ), Ethan Coens lesbische Krimikomödie "Drive Away Dolls" ("schlingert von einem Humorschlagloch in den nächsten Witzgraben", muss Nadine Lange im Tagesspiegel feststellen), die Netflix-Serie über Alexander den Großen, die in Griechenland wegen einiger homosexueller Liebesszenen für politische Diskussionen sorgt (Presse, mehr dazu bereits hier) und die im ZDF gezeigte, dänische Thrillerserie "Oxen" (FAZ).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.03.2024 - Film

Pascal Blum hat für den Tagesanzeiger den rumänischen Autorenfilmer Radu Jude getroffen, dessen neue Satire "Don't Expect Too Much from the End of the World" den auf Social Media grassierenden Frauenhass von Figuren wie Andrew Tate aus der Maskulinistenszene aufs Korn nimmt. Nur dass sein Tate Bobiță heißt, sich aber nicht minder in sexistischem Unrat ergießt. Bei der eher kunstfernen deutschen Kulturbürokratie, die es gerne geschmeidig hätte, führt das zu Sorgenfalten: "Eine deutsche Förderanstalt wollte den Film wegen der unflätigen Aussagen nicht unterstützen. Die Förderer hielten Bobiță für gefährlich: Was, wenn die Leute denken, in den Beschimpfungen stecke die Botschaft des Films? Sie forderten das Unmögliche: dass die Übertreibung abgeschwächt wird. Beim Gespräch in Zürich wundert sich Radu Jude über die Kritik: Gerade eine mildere Form wäre das höchste Risiko - weil man sie dann tatsächlich ernst nimmt. ... Wieso aber zieht Rumänien heute einen Frauenhasser wie Andrew Tate an? Weil er hier habe machen können, was er gewollt habe, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, sagt Jude. Das pornografische Webcam-Geschäft, das Tate betrieben habe, sei heute ein riesiges Business in Rumänien."

Die Berlinale verstand sich immer schon als ein politisches Filmfestival. Es gehört zu ihren Verdiensten, dass sie sich für Filmleute, die auf der Berlinale Erfolge hatte, wie Jafar Panahi, explizit und öffentlich einsetzte. Nicht so für den israelischen Schauspieler David Cunio, wie eine Recherche der SZ herausgefunden hat (unser Resümee). Trotz vielfacher Hinweise darauf, dass Cunio, der 2013 einen Film auf der Berlinale hatte, heute zu den Geiseln der Hamas gehört, hat die Berlinale seine Geschichte nicht thematisiert - auf der Abschlussfeier, die durch ihre propalästinensischen Bekundungen Skandal machte, hätte sie zumindest teilweise dieses Video zeigen können, ein Gespräch mit Cunios Frau Sharon, die mit ihrem Mann und ihren gemeinsamen Töchtern zu den Entführten gehörte. Sie gehörte zu auch zu den befreiten Geiseln. Hier erzählt sie von den Umständen der Entführung.



Im Spiegel-Interview sagt Claudia Roth jetzt, wo es zu spät ist: "Es ist bitter, dass die missglückte und zum Teil unerträgliche Preisverleihung jetzt die ganze Berlinale überschattet. Und diese Äußerung bezog sich auf die Berlinale insgesamt zuvor. Wir haben uns ja bereits nach dem 7. Oktober gefragt: Wie sollte die Berlinale mit dem Terroranschlag auf Israel und dem Krieg in Gaza umgehen? Was könnte bei der Berlinale alles passieren?"

Weitere Artikel: Harry Nutt hat in der Berliner Zeitung wenig Hoffnung, dass die Aufarbeitung des "Überbietungswettkampfs moralischer Eitelkeit", der sich ihm am Ende der Berlinale bot, mehr zu Folge hat als lediglich die "zähe Dehnung der jeweiligen Positionen und Meinungen". Susanne Lenz spricht für die Berliner Zeitung mit dem Regisseur İlker Çatak über dessen Kritik an den deutschen Medien, die seine Oscarnominierung für Deutschland zu oft unterschlagen hätten (unser Resümee). Der Tagesanzeiger hat für die SZ Johanna Adorjáns Gespräch mit Jonathan Glazer über dessen in der Jungle World besprochenen "The Zone of Interest" online nachgereicht (unsere Kritik hier). Die Schriftstellerin Katja Petrowskaja erzählt (online nachgereicht) in der FAS von dem beeindruckenden Filmerlebnis, das sich ihr auf der Berlinale mit dem ukrainischen Film "Intercepted" bot (mehr zu diesem Film bereits hier). Christiane Peitz staunt im Tagesspiegel, dass Michael Lockshins russische Bulgakow-Verfilmung "Meister und Margarita" in Russland trotz putinkritischer Spitzen noch immer äußerst erfolgreich läuft und noch nicht aus dem Verkehr gezogen wurde (hier und dort unsere Resümees). Philipp Hedemann plaudert für den Standard mit Uschi Glas, die eben 80 Jahre alt geworden ist. Erste Filmfirmen gehen gegen TikTok vor, da dort immer mehr in Einzelteile zerlegte, aber dann doch in Gänze sehbare Spielfilme auftauchen, berichtet Ann-Marlen Hoolt im Tagesanzeiger. Valerie Dirk schreibt im Standard einen Nachruf auf den bedeutenden Filmwissenschaftler David Bordwell.

Besprochen werden Saim Sadiqs "Joyland" (Standard), Stephen Frears' Serie "The Regime" mit Kate Winslet (Presse) und die auf Disney+ gezeigte Serie "Shōgun" (taz).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 02.03.2024 - Film

Marlene Knobloch, Renate Meinhof, Ronen Steinke und Susan Vahabzadeh arbeiten für die "Seite Drei" der SZ den Berlinale-Eklat auf - und berichten auch von der unter "Free Palestine"-Rufen aufgeheizten Stimmung nach den öffentlichen Vorführungen des am Ende des Festivals ausgezeichneten Dokumentarfilms "No Other Land", nach denen selbst moderate Wortmeldungen, die "Frieden für Palästina und Israel" forderten, mit "Fuck You"-Rufen beschimpft wurden. Alice Brauner, Tochter des jüdischen Filmproduzenten Artur Brauner, "habe noch nie so eine aufgeheizte Stimmung nach einem Screening erlebt" und verließ das Kino schwer irritiert. Und auch von David Cunio sprach auf diesem Festival niemand. Der Schauspieler ist immer noch eine Geisel der Hamas, 2013 zeigte das Berlinale-Panorama Tom Shovals Film "Youth", in dem Cunio mitspielte. "Schon im Dezember verfasste die in Berlin lebende Künstlerin und Filmemacherin Sharon On, eine Freundin des Regisseurs Tom Shoval, eine E-Mail. Sie wunderte sich, warum die Berlinale bis dahin keine Stellungnahme abgegeben hatte, sagt sie am Telefon. Sie bat um ein Zeichen, 'andernfalls verstehe ich die Welt nicht mehr'. Sie schickte die Mail an zwölf Berlinale-Adressen. Nichts kam zurück. ... Kritik an Israel wollte man haben auf diesem Filmfest. Kritik an der Hamas und deren Verbrechen eher nicht."

Der Regisseur Paolo Taviani ist im Alter von 92 Jahren gestorben. "Mit seinem Tod fällt endgültig der Vorhang über dem italienischen Nachkriegsfilm", muss Andreas Kilb in der FAZ bekümmert feststellen. In den Filmen, die Paolo mit seinem bereits 2018 verstorbenen Bruder Vittorio Taviani gedreht hat, geht es um "Kindheit, Erinnerung, Sehnsucht nach einer Unschuld, die in der Vergangenheit oder in ferner Zukunft liegt. Und um den tragischen Konflikt zwischen den Wünschen des einzelnen und den geschichtlichen Umständen, in denen er lebt." Die Taviani-Brüder wählten "die Armut der Landbevölkerung zum Hintergrund gleichermaßen realitätsnaher wie poetischer Spielfilme", schreibt Daniel Kothenschulte in der FR. "Niemand konnte das Harte und Rohe so unprätentiös ästhetisieren wie Paolo und Vittorio Taviani. Im Alter bewiesen sie mit minimalistischen Filmen, dass Kunst keine Geldfrage ist. Und dass es Unfug wäre, zu denken, die Zeit des italienischen Autorenfilms sei längst vorbei oder das Erbe des Neorealismus aufgebraucht."

Als die Tavianis in den Siebzigern und Achtzigern von sich reden machten, blickt ganz Europa nach Italien, erinnert sich Luzi Bernet in der NZZ: "Der Bombenhagel der Roten Brigaden und die Mafia-Attentate verlangen nach Erklärungen. Man liest italienische Literatur, die Cantautori überschwemmen Europas Hitparaden, und wer etwas auf sich hält, schaut sich italienische Filme an: Fellinis Spätwerk, Ettore Scolas Komödien, die Anfänge von Giuseppe Tornatore. Die Filme der Tavianis tragen dazu bei, das zuweilen einseitige Bild, das man sich im Ausland von Italien macht, zu differenzieren. Es sind zumeist ruhige Werke, große und langsam sich entwickelnde Erzählungen, die in der Geschichte des Landes und seiner Regionen wurzeln oder mit literarischen Vorlagen arbeiten. Und immer münden sie in Szenen, die so aberwitzig sind, dass sie sich dauerhaft ins Gedächtnis einbrennen."

Außerdem: Für die taz spricht Klaudia Lagozinski mit dem für Deutschland oscarnominierten Filmemacher İlker Çatak. Katharina Bracher porträtiert die Schauspielerin Lily Gladstone, die für ihre Rolle in Martin Scorseses "Killers of the Flower Moon" (unsere Kritik) als erste indigene Amerikanerin einen Oscar bekommen könnte. Der Filmdienst erinnert ohne Autorenzeile an den tschechischen Regisseur František Vláčil, der vor 100 Jahren geboren wurde. Tim Caspar Boehme fasst in der taz die Wortmeldungen zum Berlinale-Eklat der letzten Tage zusammen. In der FAZ gratuliert Claudius Seidl Uschi Glas zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Marija Kavtaradzes Sundance-Gewinner "Slow" (Standard), Shujun Weis chinesischer Noir-Thriller "Only the River Flows" (Tsp), der Netflix-Science-Fiction-Film "Spaceman" mit Adam Sandler (FAZ) und die Serie "Dick Turpin" (Welt).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.03.2024 - Film

Stil aus der Serie "Alexander der Große: Wie er ein Gott wurde" (Netflix)

Die griechische Rechte zürnt Netflix: Der Streamer hat eine Doku-Serie über Alexander den Großen produziert, die den makedonischen Großherrscher im Liebesspiel mit Männern zeigt. Die Proteste haben auch mit der politischen Debatte über gleichgeschlechte Ehe zu tun, schreibt Thomas Ribi in der NZZ. "Mitte Februar hatte das griechische Parlament ein entsprechendes Gesetz gutgeheissen, gegen den Widerstand der konservativen Parteien." Kulturministerin "Lina Mendoni machte klar, dass es von Staates wegen keine Interventionen geben werde", ist aber auch der Ansicht, dass es "keine Anhaltspunkte dafür gebe, dass Alexanders Beziehung zu Hephaistion mehr gewesen sei als eine Freundschaft. Wie sie darauf kommt, sagte Mendoni nicht. Die antiken Quellen jedenfalls zeigen ziemlich deutlich, dass die Beziehungen der jungen Männer am makedonischen Hof homoerotischer Natur waren, vor allem die von Alexander zu Hephaistion."

Außerdem: Bert Rebhandl spricht für den Standard mit Christian Friedel, der in Jonathan Glazers "Zone of Interest" (unsere Kritik) den KZ-Kommandanten Rudolf Höß spielt. Valerie Dirk porträtiert die Schauspielerin Zendaya, die im aktuellen "Dune"-Film (unsere Kritik) im Kino zu sehen ist. Lucca Grzywatz erklärt im taz-Gespräch, warum sie ausgerechnet in Lübeck ein neues Filmstudio eröffnet. Felicitas Kleiner gibt im Filmdienst einen Überblick über neue Serien im März. Und die Agenturen melden, dass der italienische Regisseur Paolo Taviani gestorben ist.

Besprochen werden Jonathan Glazers "The Zone of Interest" (Welt, unsere Kritik), Denis Villeneuves Science-Fiction-Epos "Dune 2" (taz, critic.de, Tsp, Standard, unsere Kritik), die SF-Serie "Constellation" (Freitag)  und die auf Apple gezeigte Comedy-Serie "Die frei erfundenen Abenteuer von Dick Turpin" (Tsp),

Und in einem Video einer ziemlich gut gefaketen Oscarverleihung für eine israelische Satiresendung nimmt der Comedian Michael Rapaport Hollywoodstars aufs Korn, die sich nicht zum 7. Oktober geäußert haben:

Efeu - Die Kulturrundschau vom 29.02.2024 - Film

Nazi-Badespaß am Rande des Holocausts: "The Zone of Interest"

Heute startet Jonathan Glazers "The Zone of Interest" in den deutschen Kinos. Der Film über das Idyll der Familie des Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höß in unmittelbarer Nachbarschaft zur Massenvernichtung der Juden wird seit der Goldenen Palme in Cannes vergangenes Jahr insbesondere mit Blick auf die Darstellung des Holocaust im Film diskutiert: Dieser findet hier nur als aufs Off verweisende Spur statt - etwa als aufsteigender Rauch über Mauern im Bildhintergrund oder auf der Tonspur des Films. "Als Claude Lanzmanns 'Shoah' vor fast vierzig Jahren ins Kino kam, setzte er einen Maßstab dafür, wie man von der Massenvernichtung erzählt, ohne sie zu zeigen", erinnert Andreas Kilb in der FAZ. "'The Zone of Interest' ist der erste Spielfilm, der ihn erfüllt."

Patrick Holzapfel zeigt sich im Perlentaucher dennoch skeptisch: "In einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen sterben, müsste gerade das Kino sein Verhältnis zum Nicht-Verdrängen des Holocausts überdenken. 'The Zone of Interest' will ein verantwortungsvoller Film sein, der alle bereits gemachten Fehler umschifft. Er wiederholt aber letztlich nur das Bemühen um intellektuelle Souveränität, der es im Kern vor allem an Menschlichkeit mangelt. Oder ist es verboten, das leider nur der Redensart nach Unmenschliche menschlich zu filmen? Wahrscheinlich müsste man genauer definieren, was diese Menschlichkeit wäre, sie ist aber sicher irgendwo dort zu finden, wo man kein Wort mehr herausbringt, wenn man sich vergegenwärtigt, was in den Vernichtungslagern geschehen ist." In einem großen Filmdienst-Essay legt Holzapfel seine Gedanken noch etwas ausführlicher dar.

Auch Lukas Foerster hat im Filmdienst insbesondere wegen "Glazers allzu kalkulierter Informationspolitik", die es beim Beiläufigen bewenden lässt, mitunter Zweifel, ob dieser Film wirklich das Meisterwerk ist, zu dem er seit Cannes erklärt wird: "Zu kritisieren ist daran nicht, dass Glazer Mechanismen der Aufmerksamkeitssteuerung anzuwenden versteht, die zwar nicht dieselben sind wie die der Kulturindustrie, aber letztlich genauso formalistisch, also unter Absehung der Inhaltsebene, funktionieren; sondern, dass er es im Großen und Ganzen dabei bewenden lässt, also bei der fast schon seriell anmutenden Produktion von Kippbildern zwischen Alltag und Schrecken. Aller Raffinesse im gestalterischen Detail zum Trotz führt der Film kaum über den bereits in den Eingangsszenen etablierten Skandal einer in die Überschreitung eingepassten Normalität hinaus." Weitere Besprechungen in taz, Standard und Tagesspiegel.

"Die Berlinale braucht keine Vorschriften, keine politischen Drohungen, sie braucht in aller Freiheit einen Reset", schreibt Katja Nicodemus in der Zeit unter den Eindrücken aktueller Wortmeldungen aus der Politik und im Hinblick auf die neue Festivalleitung. Und weiter: "Die es auf Unversöhnlichkeit anlegen, handeln geschickt, denn Israel als 'Apartheidstaat' zu bezeichnen und ihm vorzuwerfen, einen 'Genozid' zu verüben, verstößt nicht gegen das Strafrecht. ...  Im Kulturbereich ist der Staat aufgerufen, Kunst- und Meinungsfreiheit in besonderer Weise zu schützen. Er kann und soll nicht Gesinnungen überprüfen oder Meinungen kontrollieren. Neutral in Sachen Juden und Israel ist er keineswegs, aus geschichtlichen Gründen kann und will er das nicht sein. So steckt er nun in dem heillosen Dilemma, gegen die antiisraelische Propaganda etwas tun zu müssen, doch ohne juristische Handhabe."

Und doch: Auf Twitter kursieren immer noch die Fragen, warum zum Beispiel die Festivalleitung nicht den Schauspieler David Cunio erwähnte, der 2013 einen Film auf der Berlinale hatte und der heute mit seinen Kindern und seiner Frau zu den Geiseln der Hamas gehört. Nils Minkmar hatte in seinem SZ-Artikel (unser Resümee) am Dienstag diese Frage zuerst gestellt.


Mal abgesehen von der Frage, ob die Entgleisungen bei der Berlinale-Abschlussfeier antisemitisch waren oder nur das Prädikat Meinungsfreiheit verdienen, fragt Welt-Autor Henryk Broder in Antwort auf Deniz Yücel (der gestern die Freiheit auch des "dummen Worts" verteidigte, unser Resümee), "warum kein Filmemacher auf die Idee gekommen ist, sich in eine ukrainische Flagge zu hüllen, als Zeichen der Solidarität mit den Ukrainern, die seit zwei Jahren von den Russen gebombt werden. Hast Du schon darüber nachgedacht, lieber Deniz, warum das so ist? Soll ich es Dir sagen? Mach ich gerne. Was die Palästina-Freunde triggert, ist nicht das Leiden der Palästinenser, sondern der Umstand, dass es Juden aka Israelis sind, die die Palästinenser leiden lassen."

Im SZ-Gespräch mit David Steinitz bekräftigt der Regisseur İlker Çatak seinen Ärger darüber, dass seine Oscarnominierung für "Das Lehrerzimmer" im Zusammenhang mit den Nominierungen für Sandra Hüller und Wim Wenders in deutschen Medien seltener erwähnt oder sein Name mitunter unterschlagen wird (unser Resümee). "Mein Großvater war Bauer, der erst in Deutschland lesen und schreiben gelernt hat, und jetzt ist sein Enkel für Deutschland für einen Oscar nominiert. Das wäre neben dem ganzen 'Ausländer raus'-Geplärr der AfD doch mal ein tolles Beispiel für gelungene Integration gewesen. Das kann junge Leute mit Migrationsgeschichte inspirieren. Ich weiß noch, wie wichtig es für mich war, statt all der deutschen Namen 'Fatih Akın' in einem Abspann zu sehen." Im Welt-Kommentar will Marie-Luise Goldmann den Rassismus-Vorwurf allerdings nicht stehen lassen: Hüller und Wenders seien schlicht bekannter. "Eher wäre also ein einseitiger Fokus der Medien zu bemängeln, der sich immer wieder auf einige wenige Superstars konzentriert. Verständlich wäre also eine Kritik an der Art, wie Medien sich aus aufmerksamkeitsökonomischen Gründen zunehmend dazu hinreißen lassen, Schlagzeilen mit Prominenz zu generieren."

Weitere Artikel: Andreas Scheiner spricht für die NZZ mit Agnieszka Holland über deren polnisches Grenzdrama "Green Border". Beate Hausbichler spricht mit Daniel Sanin von der Beratungsstelle #WeDo über Machtmissbrauch beim Film. Besprochen werden Denis Villeneuves Science-Fiction-Epos "Dune: Teil 2" (Perlentaucher, FD, FR, NZZ, Presse), Shujun Weis chinesischer Film Noir "Only the River Flows" (FD, SZ), Christian Johannes Kochs und Jonas Matauscheks Dokumentarfilm "Wir waren Kumpel" über das Ende des Steinkohlebergabbaus in Deutschland (FD, SZ) und Ian Penmans Buch "Fassbinder - Tausende von Spiegeln" (Jungle World). Und hier außerdem alle Filmkritiken des Filmdiensts zur aktuellen Kinowoche.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.02.2024 - Film

Die Kontroverse um die Berlinale-Abschlussveranstaltung geht weiter. Wo blieb die Zivilcourage, fragt Michel Friedman in der SZ. "Diese Bühne wurde ersichtlich missbraucht, Israel wurde als Apartheid-Staat bezeichnet, dafür und für den Vorwurf des Genozids und für das weiträumige Verschweigen der Hamas als Terrororganisation gab es Applaus. Als zwei Menschen aufstanden und riefen: 'Peace for Palestine and Israel', wurde gebuht. Was, wenn andere Anwesende diesen beiden Menschen zur Seite gestanden hätten? ... Nachdem die Moderation versagt hatte, die Geschäftsführung sich hinter dem Vorhang versteckte, nachdem die Meinungen der Künstlerinnen durch ihre massive Einseitigkeit im Raum stand, wäre es an der Zeit gewesen zu widersprechen, denn auch der Widerspruch gehört zur Meinungsfreiheit. Nie wieder ist jetzt? Gesicht zeigen? In Berlin? Dazu, liebe Freunde, ist kein Mut erforderlich. Mut ist erforderlich, wenn man das in Teheran tut."

Der Politikwissenschaftler Klaus Bachmann hält in der Berliner Zeitung den Vorwurf des Antisemitismus für verfehlt, da es ausschließlich um die israelische Politik gegangen sei: "Keine der inkriminierten Äußerungen richtete sich gegen das jüdische Volk, die Juden als ethnische oder religiöse Gruppe oder Nation. Niemand behauptete, die Juden seien an allem schuld." Anders als bei der Documenta, wo "Topoi und Zerrbilder von Juden aus dem Arsenal bekennender und stolzer Antisemiten reproduziert" wurde. "Den Genozid-Vorwurf an Israel halte ich selbst für verfehlt. Mir geht es darum, Israel verteidigen zu dürfen. Das macht nämlich keinen Sinn mehr in einer Situation, in der das aufgrund des öffentlichen Drucks und der allgemeinen Empörung über Israel-Kritik alle tun. Israel zu verteidigen macht nur Sinn, wenn Israel auch kritisiert werden kann."

Der israelische Filmemacher Yuval Abhraham, der bei der Veranstaltung seinem Heimatland vorgeworfen hat, ein Apartheid-Staat zu sein, sieht sich nach eigenen Angaben Morddrohungen ausgesetzt und macht dafür israelische Medien und deutsche Politiker verantwortlich, melden die Agenturen.

Themenwechsel: Auf Zeit Online ärgert sich der für "Das Lehrerzimmer" in der Kategorie "Bester fremdsprachiger Film" oscarnominierte Regisseur İlker Çatak, dass selbst manche Leitmedien bei der Berichterstattung über die Oscars nur Sandra Hüller und Wim Wenders (der allerdings für Japan antritt) als deutsche Kandidaten anführen und ihn mitunter nicht einmal namentlich erwähnen (der Perlentaucher hat ihn selbstverständlich bei den deutschen Nominierungen mit eingereiht). Für ihn steht das in einer langen Kette von Demütigungen, die er bislang immer weggelächelt hat, doch "in den Tagen nach der Oscarnominierung verstand ich: Du kannst noch so viel leisten, aber neben anderen (echten) Deutschen, wirst du immer nur der Andere bleiben. Ob die Journalistinnen hier bewusst oder unbewusst vorgehen, spielt keine Rolle, denn wie oben schon beschrieben ist auch Ignoranz eine Form der Ausgrenzung, eine Form von Rassismus. Und ja, heute stelle ich mich mit breiter Brust hierhin und nenne das Kind beim Namen. Wir reden von Rassismus."

Weitere Artikel: Im Filmdienst legt uns Jörg Taszman die Filme der ukrainischen Regisseurin Kira Muratowa ans Herz, die seit kurzem in einer DVD-Edition vorliegen und zum Teil auch auf Mubi gestreamt werden können. Die Agenturen melden, dass der Disney-Film "Mary Poppins" in Großbritannien nach einer Intervention der Medienaufsicht nicht mehr jugendfrei ist, weil darin an zwei Stellen das Wort "Hottentotten" auftaucht. David Leuenberger resümiert in seinem Blog den Nürnberger Hofbauerkongress von Anfang Januar.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 27.02.2024 - Film

Das Feuilleton diskutiert weiter über die Berlinale-Abschlussgala, bei der es auf der Bühne zahlreiche propalästinensische und israelkritische Statements gab. Nils Minkmar kommt in der SZ aus dem Staunen nicht heraus, dass gerade Menschen aus Kultur und queerer Szene mit nichts als besten Absichten zumindest implizit das Geschäft derer betreiben, die ihnen bei der nächstbesten Gelegenheit an die Gurgel gehen würden: "Als bedrohe diese Hamas nicht auch ihr Lebensmodell, also auch das derer, die sich in Berlin gerne Filme aus einer freien Welt ansehen. ... Man kann das alles nicht mehr sehen: Diese entsetzlich falschen Slogans und Symbole, die mangelnde Vorbereitung, die hilflosen Aufarbeitungsversuche danach in Arbeitsgruppen. Es ist beschämend, wie jede Großveranstaltung größte Sorgfalt auf Antidiskriminierungsprogramme legt, wie Großfirmen und Institutionen ihre Achtsamkeiten pflegen und täglich öffentlich durchdeklinieren, wie auf jedem Großkonzert Anlaufstellen für Awareness eingerichtet werden - aber der Hass auf Juden all diesen Institutionen und Initiativen vollkommen egal zu sein scheint. Da sitzen die Honoratioren im Berlinale-Palast, staunen, lachen, klatschen."

Forderungen, wie sie etwa Berlins Bürgermeister Kai Wegner auf Twitter aufgestellt hat, dass die Berlinale künftig alles daran setzen müsse, um solche Szenen wie am Samstag zu vermeiden, hält Claudius Seidl im FAZ-Kommentar, bei allem Verständnis, für unrealistisch und naiv: Wegner müsse sich dann auch "fragen lassen, ob ihn jemand daran gehindert hätte, unter Protest den Saal zu verlassen." Was will man Roth oder Berlinale-Leitung vorwerfen? "Dass sie mit den Filmen auch deren Schöpfer einladen? Dass internationale Jurys hier internationale Filme bewerten und internationale Künstler auszeichnen, ohne dass man vorher deren Gesinnungen genau durchleuchtet hätte? Die bösen Sprüche waren das Risiko, das so ein Festival wohl eingehen muss, sie waren der Preis einer Freiheit, die mit sich die Erkenntnis bringt, dass Teile (es waren ja nicht alle) des Filmbetriebs in Israel den Schurkenstaat sehen wollen. Das Schmerzlichste an jenem Abend war der Jubel eines Publikums, das zu opportunistisch ist, als dass sich jemand getraut hätte, buh zu rufen."

"Die Berlinale wurde von propalästinensischen Aktivisten gekapert", stellt Jonathan Guggenberger in der taz fest, fordert aber das Aushalten von Ambivalenzen: "Wer Israels Offensive fälschlicherweise als Genozid bezeichnet, wer sich Kulturveranstaltungen wünscht, die nach starrer Agenda laufen, der hält keine Ambivalenzen aus - dem sind Diskussionen egal. . ... Wenn jetzt die einzig ableitbare Forderung ist, Israel-Hassern imperativ zu verordnen, noch mal an die Geiseln und die Hamas zu erinnern, zeigt das, wo wir in der Debatte stehen: am Ende. Für einen Ausweg aus der Sackgasse bräuchte es politische Entschlossenheit und eine Kultur, die weiß, was Ambivalenzen sind - und was nicht."

Lars Henrik Gass, Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage und nach einem israelsolidarischen Posting nach dem 7. Oktober heftigen Rücktrittsforderungen ausgesetzt, beobachtet auf Seiten derjenigen, die die israelische Perspektive bei all dem zu kurz gekommen sehen, zusehends ein Klima der Angst, sagt er im Gespräch mit der Berliner Zeitung. "Das soll ja erreicht werden. Mit Angst aber kann man ganz schlecht kommunizieren. Und mit Regungslosigkeit kann man auch keine gesellschaftlichen Konflikte lösen. ... Schon vor den jüngsten Kampagnen, die zu regressiven und repressiven Formen des politischen Protests geführt haben, abweichende Meinungen einfach niederzuschreien, wurde der universalistische Anspruch großer internationaler Kunstausstellungen und Festivals angegriffen."

"Glühende Antisemiten" hat Andreas Busche vom Tagesspiegel auf der Bühne zwar keine gesehen, "aber es stimmt bedenklich, und da hat sich seit dem 7. Oktober leider wenig verbessert, wenn auf deutschen Kulturveranstaltungen der Solidarität mit den Menschen in Gaza inzwischen lauter Ausdruck verliehen wird als der mit Israel." Bert Rebhandl wünscht sich im Standard eine entschlossene Aufarbeitung, "sonst steckt die Berlinale demnächst in der gleichen Sackgasse wie die Documenta".

In der SZ arbeitet ein ganzes Autorenteam den letzten Berlinale-Samstag und den Niederschlag in den Medien auf. Die Tagesschau etwa verbreitete am Sonntagabend gute Stimmung in ihrer Berichterstattung und beließ es beim braven Vermelden der Bärengewinner: "Dass die Begriffe 'Genozid' und 'Apartheid' fielen, wurde verschwiegen - obwohl Chialo, Wegner, Notz und andere zu diesem Zeitpunkt schon deutlich geworden waren. Wie kam es zu diesem Totalausfall bei Deutschlands wichtigster Nachrichtensendung? Die ARD teilt mit, aufgrund der Nachrichtenlage sei lediglich Platz für eine 26-sekündige Meldung gewesen."

Auf Zeit online gehen Julia Lorenz die Propalästina-Bekundungen ebenso auf die Nerven wie die Behauptung, die Berlinale habe einen "Skandal" erlebt: "Mittlerweile hat sich eine elende Routine eingespielt, nicht nur in Deutschland, aber vor allem hier: Kulturschaffende protestieren lauthals und oft antiisraelisch gegen den Krieg im Gazastreifen, Politikerinnen und Politiker protestieren empört gegen diese Proteste, Kulturschaffende protestieren gegen die Proteste gegen ihre Proteste, indem sie mitunter zum Beispiel in Deutschland einen neuen McCarthyismus oder noch Schlimmeres politisch am Werk wähnen. Beide Seiten fühlen sich offenkundig mindestens moralisch im Recht. Miteinander geredet aber wird nicht." Ähnlich sieht es Hannah Pilarczyk bei Spon.

Außerdem: Kulturstaatsministerin Claudia Roth hat die einseitige Parteinahme auf der Gala für Palästina in einer am Montag nachgereichten Pressemitteilung zwar verurteilt, schweigt aber zu ihrem eigenen Applaus nach einer Rede, bei der Israel Apartheid vorgeworfen wurde, merkt Daniel Friedrich Sturm im Tagesspiegel an. Der Filmemacher RP Kahl ärgert sich in einem Facebook-Posting, dass niemand aus der deutschen Filmbranche im Gala-Saal protestiert oder wenigstens den Versuch einer Gegenrede gewagt hat.

Besprochen werden Axel Danielsons und Maximilien Van Aertrycks Essayfilm "And the King Said, What a Fantastic Machine" (taz), Ferdinand von Schirachs neuer ZDF-Film "Sie sagt. Er sagt" (Welt), die Apple-SF-Serie "Constellation" (ZeitOnline), die Serie "The Ones Who Live", die die Zombie-Serie "The Walking Dead" fortsetzt (FAZ) und eine Arte-Doku über Elon Musk (Tsp).