Das Feuilleton diskutiert weiter über die
Berlinale-
Abschlussgala, bei der es auf der Bühne zahlreiche propalästinensische und israelkritische Statements gab. Nils Minkmar kommt in der
SZ aus dem Staunen nicht heraus, dass gerade Menschen aus Kultur und queerer Szene mit nichts als besten Absichten zumindest implizit das Geschäft derer betreiben, die ihnen bei der nächstbesten Gelegenheit an die Gurgel gehen würden: "Als bedrohe diese Hamas nicht auch ihr Lebensmodell, also auch das derer, die sich in Berlin gerne Filme aus einer freien Welt ansehen. ... Man kann das alles nicht mehr sehen: Diese
entsetzlich falschen Slogans und Symbole, die mangelnde Vorbereitung, die hilflosen Aufarbeitungsversuche danach in Arbeitsgruppen. Es ist beschämend, wie jede Großveranstaltung größte Sorgfalt auf Antidiskriminierungsprogramme legt, wie Großfirmen und Institutionen ihre Achtsamkeiten pflegen und täglich öffentlich durchdeklinieren, wie auf jedem Großkonzert Anlaufstellen für Awareness eingerichtet werden - aber
der Hass auf Juden all diesen Institutionen und Initiativen vollkommen egal zu sein scheint. Da sitzen die Honoratioren im Berlinale-Palast,
staunen,
lachen,
klatschen."
Forderungen, wie sie etwa Berlins Bürgermeister
Kai Wegner auf
Twitter aufgestellt hat, dass die Berlinale künftig alles daran setzen müsse, um solche Szenen wie am Samstag zu vermeiden, hält Claudius Seidl im
FAZ-Kommentar, bei allem Verständnis, für unrealistisch und naiv: Wegner müsse sich dann auch "fragen lassen, ob ihn jemand daran gehindert hätte, unter Protest den Saal zu verlassen." Was will man Roth oder Berlinale-Leitung vorwerfen? "Dass sie mit den Filmen auch deren Schöpfer einladen? Dass internationale Jurys hier internationale Filme bewerten und internationale Künstler auszeichnen, ohne dass man vorher deren Gesinnungen genau durchleuchtet hätte? Die
bösen Sprüche waren das Risiko, das so ein Festival wohl eingehen muss, sie waren der Preis einer Freiheit, die mit sich die Erkenntnis bringt, dass Teile (es waren ja nicht alle) des Filmbetriebs in Israel den
Schurkenstaat sehen wollen. Das Schmerzlichste an jenem Abend war
der Jubel eines Publikums, das
zu opportunistisch ist, als dass sich jemand getraut hätte, buh zu rufen."
"Die Berlinale wurde von propalästinensischen Aktivisten
gekapert",
stellt Jonathan Guggenberger in der
taz fest, fordert aber das Aushalten von Ambivalenzen: "Wer Israels Offensive fälschlicherweise als Genozid bezeichnet, wer sich Kulturveranstaltungen wünscht, die nach starrer Agenda laufen, der hält keine Ambivalenzen aus - dem sind Diskussionen egal. . ... Wenn jetzt die einzig ableitbare Forderung ist, Israel-Hassern imperativ zu verordnen, noch mal an die Geiseln und die Hamas zu erinnern, zeigt das, wo wir in der Debatte stehen:
am Ende. Für einen Ausweg aus der Sackgasse bräuchte es
politische Entschlossenheit und eine Kultur, die weiß, was Ambivalenzen sind - und was nicht."
Lars Henrik Gass, Leiter der Oberhausener Kurzfilmtage und nach einem israelsolidarischen Posting nach dem 7. Oktober heftigen Rücktrittsforderungen ausgesetzt, beobachtet auf Seiten derjenigen, die die israelische Perspektive bei all dem zu kurz gekommen sehen, zusehends
ein Klima der Angst,
sagt er im Gespräch mit der
Berliner Zeitung. "Das soll ja erreicht werden. Mit Angst aber kann man ganz schlecht kommunizieren. Und mit
Regungslosigkeit kann man auch keine gesellschaftlichen Konflikte lösen. ... Schon vor den jüngsten Kampagnen, die zu regressiven und repressiven Formen des politischen Protests geführt haben, abweichende Meinungen einfach niederzuschreien, wurde der
universalistische Anspruch großer internationaler Kunstausstellungen und Festivals angegriffen."
"Glühende Antisemiten" hat Andreas Busche vom
Tagesspiegel auf der Bühne zwar keine gesehen, "aber es stimmt bedenklich, und da hat sich seit dem 7. Oktober leider wenig verbessert, wenn auf deutschen Kulturveranstaltungen der Solidarität mit den Menschen in Gaza inzwischen lauter Ausdruck verliehen wird als der mit Israel." Bert Rebhandl
wünscht sich im
Standard eine entschlossene Aufarbeitung, "sonst steckt die Berlinale demnächst
in der gleichen Sackgasse wie die Documenta".
In der SZ arbeitet ein ganzes Autorenteam den letzten Berlinale-Samstag und den Niederschlag in den Medien auf. Die
Tagesschau etwa verbreitete am Sonntagabend gute Stimmung in ihrer Berichterstattung und beließ es beim
braven Vermelden der Bärengewinner: "Dass die Begriffe 'Genozid' und 'Apartheid' fielen, wurde verschwiegen - obwohl Chialo, Wegner, Notz und andere zu diesem Zeitpunkt schon deutlich geworden waren. Wie kam es zu diesem
Totalausfall bei Deutschlands wichtigster Nachrichtensendung? Die
ARD teilt mit, aufgrund der Nachrichtenlage sei lediglich Platz für eine 26-sekündige Meldung gewesen."
Auf
Zeit online gehen Julia Lorenz die Propalästina-Bekundungen ebenso auf die Nerven wie die Behauptung, die Berlinale habe einen "Skandal" erlebt: "Mittlerweile hat sich eine
elende Routine eingespielt, nicht nur in Deutschland, aber vor allem hier: Kulturschaffende protestieren lauthals und oft antiisraelisch gegen den Krieg im Gazastreifen, Politikerinnen und Politiker protestieren empört gegen diese Proteste, Kulturschaffende protestieren gegen die Proteste gegen ihre Proteste, indem sie mitunter zum Beispiel in Deutschland einen neuen McCarthyismus oder noch Schlimmeres politisch am Werk wähnen. Beide Seiten fühlen sich offenkundig mindestens moralisch im Recht.
Miteinander geredet aber wird nicht." Ähnlich
sieht es Hannah Pilarczyk bei
Spon.
Außerdem: Kulturstaatsministerin
Claudia Roth hat die einseitige Parteinahme auf der Gala für Palästina in einer am Montag nachgereichten Pressemitteilung zwar verurteilt, schweigt aber zu ihrem
eigenen Applaus nach einer Rede, bei der Israel Apartheid vorgeworfen wurde,
merkt Daniel Friedrich Sturm im
Tagesspiegel an. Der Filmemacher
RP Kahl ärgert sich in einem
Facebook-Posting, dass niemand aus der deutschen Filmbranche im Gala-Saal protestiert oder wenigstens den
Versuch einer Gegenrede gewagt hat.
Besprochen werden
Axel Danielsons und
Maximilien Van Aertrycks Essayfilm "And the King Said, What a Fantastic Machine" (
taz),
Ferdinand von Schirachs neuer ZDF-Film "Sie sagt. Er sagt" (
Welt), die
Apple-SF-Serie "Constellation" (
ZeitOnline), die Serie "The Ones Who Live", die die Zombie-Serie "The Walking Dead" fortsetzt (
FAZ) und eine
Arte-
Doku über Elon Musk (
Tsp).