Im Kino

Panikattacke

Die Filmkolumne. Von Carolin Weidner
04.05.2023. Ilker Cataks "Das Lehrerzimmer" porträtiert eine junge Lehrerin, die versucht, das moralisch Richtige zu tun und damit an ihrer Schule erst richtig die Eskalationsstufen zündet.


Manchmal hilft nur eine Tüte. Carla Nowak findet ihre auf der Toilette, nahe der Waschbecken. Kurzerhand entleert sie den Mülleimer, fummelt den Beutel vom Rand und: atmet stoßweise in das dünne Plastik. Es ist die einzige Panikattacke, die Regisseur İlker Çatak und Drehbuchautor Johannes Duncker in "Das Lehrerzimmer" ausdrücklich festhalten. Häufig finden sie andere Bilder für die spannungsgeladenen Tage der Lehrerin Nowak (Leonie Benesch). Da ist das enge Tuch, das sie um den Hals trägt und das mehr und mehr an eine Schlinge erinnert. Oder die wenigen Momente der Ruhe - hinter jeder Tür lauert bereits das nächste Elternteil, ein anderer Lehrer, ein Teenager, eine potenzielle neue Eskalationsstufe. Was Çatak und Duncker in ihrem Film anstellen, ist ein ziemlich verstörendes und eindrückliches Experiment. Im Kern beobachten sie, wie viel Druck man auf ein System, einen Menschen ausüben kann, bevor sie nachgeben, bersten, bevor sich die angestaute Energie entlädt.

Es ist gar nicht leicht, die richtigen Worte für "Das Lehrerzimmer" zu finden. Denn so minimalistisch die Anordnung (eine namenlose Schule irgendwo in Deutschland) und simpel die Ausgangssituation (Diebstähle, begangen von Unbekannt) - die losgetretene Kettenreaktion, welche sukzessive die ganze Institution umfasst, ist ziemlich komplex. Sie birgt eine nahezu mathematische Schönheit, in der verschiedene Variablen durchgespielt werden, obschon gleichzeitig alles auseinanderzufliegen droht, außer Kontrolle gerät. Eine Beschreibung, die auch auf Carla Nowak zutreffen könnte. Als Lehrerin für Mathematik und Sport orientiert sie sich stets an den Prinzipien von Wissenschaftlichkeit und Fairness, jede Behauptung benötigt eine angemessene Beweisführung, ihr Lieblingswort lautet "unseriös". Dem alltäglichen Geraune im Lehrerzimmer kann sie nicht viel abgewinnen, Mutmaßungen und leisen Rassismen über Filterkaffee begegnet sie schroff, wuschige Methoden, welche den Ursprung der Diebstähle auf informelle Art klären sollen, lehnt sie ab.



Carla Nowak ist korrekt. Womöglich zu korrekt für einen Schulbetrieb, dessen Unzulänglichkeiten es erfordern, über den einen oder anderen Missstand hinwegzusehen. Sie beobachtet, wie eine Lehrerin das Sparschwein neben dem Kaffeespender ausnimmt und sich das Geld einsteckt. Hintergründe kennt sie keine, doch das Unwohlsein ist da. Nowak ist eine gute Beobachterin. Nur für sich selbst, die eigenen Grenzen, wirkt sie oft blind. Das Geleit "Die Wahrheit überwindet alle Grenzen", welches auf Latein in der Schülerzeitungsredaktion prangt, gilt für Nowak auf ganz persönlicher Ebene. Die eigenen Ansprüche vor Augen, Ideale im Kopf, wählt sie nicht selten den Alleingang. Und so ist ironischerweise sie es, die beflissenste und tadelloseste von allen, die mit einer kleinen kriminalistischen Handlung das Feuerzeug an die Zündschnur hält.

Die filmischen Entscheidungen Çataks sind derweil durchweg klug, auch wenn einem gerade das rädchenhafte Ineinandergreifen der Situationen durchaus auf die Nerven fallen kann. Alles ist an Ort und Stelle, genauestens konstruiert. Doch kann man nicht umhin, dieser Präzision auch Bewunderung zu zollen. Vor allem aber überträgt sich die inszenierte Beklemmung, erscheint der Spießrutenlauf der Carla Nowak nahezu übermenschlich. Mehr als einmal stellt sich die Frage, wie lange man selbst in einer derartigen Situation überdauert hätte. Das Ansehen von "Das Lehrerzimmer" ist auch eine Pein. Eine, die sich noch steigert, da der Film kaum ein Absenken der Spannungskurve kennt. Räumlich konzentriert sich nahezu alles auf die Schule, das Privatleben bleibt unsichtbar, und schweift der Blick doch einmal nach draußen, dann ist da Regen oder maximal eine Zigarettenpause mit der Kollegin. Von letzterer erhält Nowak immerhin einmal eine Umarmung. Sie ist bitter nötig.

Carolin Weidner

Das Lehrerzimmer - Deutschland 2023 - Regie: İlker Çatak - Darsteller: Leonie Bensch, Leonard Stettnisch, Eva Löbau, Michael Klammer, Anne-Kathrin Gummich, Kathrin Wehlisch u.a. - Laufzeit: 98 Minuten.