Außer Atem: Das Berlinale Blog

Wer hat Angst vor Rot Gelb Blau?

Von Anja Seeliger
09.02.2015. Vom fechtenden Piraten zum singenden Schneewittchen zur Paso Doble tanzenden Göttin zu den gelbgestreiften blauen Hosen der Kavallerie und wieder zurück: Die Retrospektive "Glorious Technicolor" zeigt, wie der Farbfilm erwachsen wurde.
Bevor es den Ton gab, gab es Farbe. Es ist viel einfacher über die Filmmusik von Erich Wolfgang Korngold für "Robin Hood" zu diskutieren als über den Lippenstift von Schwester Ruth in "Black Narcissus". Je nachdem ob Sie den Film in 35 mm, digitaler Kopie, im Fernsehen, Kino oder Ihrem Computer sehen - es ist jedesmal ein anderes Rot. In einer Weise, in der Korngolds Musik niemals eine andere sein wird. Je blasser und oranger das Rot, desto verrückter wirkt Schwester Ruth. Je roter das Rot, desto leidenschaftlicher. Die Farbe setzt die Stimmung für die ganze Szene, die wiederum entscheidend ist für den ganzen Film, der auf einem millimeterschmalen Grad zwischen Nonnendrama, Schauerroman und Abenteuerfilm seinem Ende entgegen stürzt.



Die Entwicklung des Farbfilms vollzog sich in mehreren Schritten: Experimente mit Farbfotografie gab es schon Mitte des 19. Jahrhunderts. Und auch mit dem Farbfilm experimentierte man bereits, bevor Herbert T. Kalmus 1915 Technicolor gründete. Kalmus perfektionierte das 2-Farben-Verfahren, bis es 1926 erste wirklich überzeugende Ergebnisse produzierte. Äußerst verkürzt und laienhaft ausgedrückt, belichtete man bei diesem Verfahren zwei s/w-Negativfilme je durch einen Rot- und einen Grünfilter und fügte die beiden am Ende in einem Druckverfahren zusammen (eine ausgezeichnete 20-minütige und für Laien verständliche Einführung bekommt man in diesem Video von Filmmaker IQ). Mit Rot und Grün konnte man schon eine gewisse Farbauswahl herstellen und vor allem eine halbwegs natürlich Hautfarbe erzeugen. Letzteres hatte bis dahin die größten Probleme bereitet. Douglas Fairbanks Stummfilm "The Black Pirate" von 1926 ist ein schönes Beispiel für diese frühen Versuche: Fairbanks ließ sich, wie viele spätere Kollegen, von der Malerei inspirieren und nutzte die begrenzten Möglichkeiten des frühen Farbfilms, eine impressionistische Atmosphäre über den Film zu legen, nur mit den Farben grün und braun, ohne starke Kontraste. Hier kann man den Film sehen, aber die Farben lassen sich nur noch erahnen, denn das Grün ist im Original fast völlig verschwunden und musste bei der Restaurierung erraten werden, wie man in "Glorious Technicolor", dem informativen Band zur Retrospektive lesen kann.



Für den heutigen Zuschauer überzeugender ist Viktor Scherzingers Stummfilm "Redskin" von 1929, der sich allerdings auch in einer besseren Kopie erhalten hat. Es ist ein früher Versuch, Farbe ganz gezielt einzusetzen: Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Liebespaares, er ein Navajo, sie eine Pueblo, die beide in einer Schule der Weißen groß wurden. Offenbar nahmen Weiße damals Indianerkinder aus ihren Familien, um ihnen eine ordentliche Schulbildung angedeihen zu lassen. Beide lernen und sind auch sehr erfolgreich - er wird zum Medizinstudium zugelassen, sie arbeitet in der Universitätsverwaltung. Doch schnell stellt sich heraus, dass die Weißen sie am Ende doch nicht akzeptieren. Aber sie können auch nicht einfach zurück, denn Medizinmann werden und nutzlose Mondscheinzeremonien an Kranken durchführen, kommt für den angehenden jungen Arzt nicht in Frage. Scherzinger hat Szenen, die bei den Weißen spielen, in Schwarzweiß gedreht, die Szenen bei den Indianern in Farbe.



Kleidung spielt eine wichtige Rolle: die rotweißen Muster der Navajodecken setzen prächtige Kontraste. Sie zeugen von einer vitalen Kultur, die fähig ist neu zu lernen. Auch die Gesichter sehen ganz anders aus als im Schwarzweißfilm - plötzlich sieht man Linien, Falten, Schatten in den Gesichtern. Makeup ist kaum auszumachen, Gestik und Mimik haben sich der neuen Natürlichkeit angepasst. Die Schwarzweiß-Welt der Weißen wirkt dagegen - nicht künstlich, aber mangelhaft, unterentwickelt. Der Film zeigt das auch inhaltlich, wenn eine junge Gesellschaftsdame auf der Party in einen "Indianertanz" fällt, weil er den Foxtrott nicht beherrscht: "Wenn du nicht so tanzen kannst wie ich, dann tanze ich eben wie du", hatte die junge Dame ihrer peinlich berührten "Rothaut" angekündigt. Das Happy End des Films ist übrigens vorbildmäßig multikulti: Er bleibt bei seinem Stamm, darf aber moderne Medizin nutzen und seine Freundin heiraten.

1929 kam die Weltwirtschaftskrise, und der Farbfilm war am Ende. Die Herstellung war den Studios viel zu teuer. Und auch das Publikum wandte sich ab: Es gab zu viele Filme mit völlig unnatürlichen Farben, was zum Teil daran lag, dass die Vorführung von 2-Ton-Filmen eine knifflige Kunst war. Verwöhnt von den schwarzweißen, mit höchster Kunst ausgeleuchteten Licht- und Schattenspiele lehnten die Zuschauer orangefarbige Gesichter und grelle Kleider ab. In Deutschland mokierte man sich ganz besonders über den Farbfilm - überhaupt hatte die Reaktion viel Ähnlichkeit mit der heutigen deutschen Reaktion aufs Internet. Eigene Farbfilmversuche kamen nicht von der Stelle, weil sich nicht genug mutige Kapitalgeber fanden. Und die Kritik rümpfte die Nase angesichts der amerikanischen Farbversuche: Farbenlimonade, vulgär, Triumph der Technik über den Menschen - so lauteten die Vorwürfe. Allerdings gab es auch in den USA Kritiker. Cecil B. DeMille etwa fürchtete, die Farbe könne von der Handlung ablenken und die Augen überstrapazieren.

Kalmus hatte daraufhin zwei brillante Ideen: Spielfilme waren für Experimente mit den Farbkameras viel zu teuer, doch es gab da diesen jungen Zeichentrickfilmer, Walt Disney, der Lust hatte, mit Farbe zu experimentieren. Disney produzierte damals eine Zeichentrickfilmreihe mit den unterschiedlichsten Figuren, die Silly Symphonies. Schon "Flowers and Trees", sein erster Farbfilm im Drei-Ton-Verfahren (endlich konnte man auch Blau benutzen!), der 1932 in dieser Reihe enstand, war hinreißend. Frühlingserwachen im Wald, tanzende Blumen und Bäume, ein Baummonster, das mit Feuer droht und schließlich das Ende unter einem bunten Regenbogen und einem umwerfenden Filmkuss zwischen zwei Bäumen.



Kräftige Farben, Musik, Bewegung - alles spielte zusammen. Das Publikum war begeistert. Der Film gewann den ersten Academy Award für Animations-Kurzfilme. Langsam fingen auch Industrie und Kapitalgeber wieder an, sich für den Farbfilm zu interessieren.

Die zweite brillante Idee, die Kalmus hatte, war, durch Kontrolle aller Farbfilmproduktionen sicherzustellen, dass keine kreischenden Farbmisstöne die Zuschauer mehr vergrätzten. Er hatte praktisch ein Monopol auf den Farbfilm: Die Regisseure mussten die 3-Streifen-Kameras von Technicolor benutzen, ohne die man keinen Farbfilm drehen konnten. Anfangs kamen sogar die Kameraleute von Technicolor, weil nur sie mit diesen Kameras umgehen konnten. Später überwachten Farbberater die Produktion und die Farbauswahl, und schließlich wurden die Filme in den Kopierwerken von Technicolor fertiggestellt. Ziel war es, ansprechende, geschmackvolle Farbkombinationen zu benutzen, die die Handlung unterstützten, den Blick lenkten, Motive unterstrichen, ohne den Film in knallbunten Farben zu ersäufen. In diesem Prozess spielte Kalmus" Ehefrau Natalie, eine Kunsthistorikerin, eine bedeutende Rolle.

1937 kam Disney mit "Schneewittchen" heraus, dem ersten Langfilm im 3-Ton-Verfahren: Solche Farben und Lichteffekte hatte man nie gesehen. Noch heute beeindruckt das Funkeln der Diamanten im Bergstollen der sieben Zwerge. 1939 startete dann mit einem Knall: "The Wizard of Oz" war gewissermaßen ein Zeichentrickfilm mit Menschen. Eine Orgie von Farben, die nie grell wurden, sondern wunderbar miteinander harmonierten.



Und dann kam, im Dezember 1939, "Vom Winde verweht". Mit diesem Film zeigte der Farbfilm, dass er so subtil, psychologisch interessant und expressionistisch sein konnte wie ein Schwarzweißfilm. Er war sogar besser als ein Schwarzweißfilm.

In "Glorious Technicolor" beschreibt Scott Higgins die Farb- und Lichtsetzung nach der Flucht von Scarlett und Rhett aus dem brennenden Atlanta. Vor dem rotglühenden Himmel eröffnet ihr Rhett, dass er sich zur Armee melden wird. Sie ist wütend, sie will, dass er sie und die kranke Melanie nachhause bringt. Sie schlägt ihn, er küsst sie: "Mit jedem Schnitt werden die Details der Gesichter und der Kontrast des orangenroten Lichts auf Rhett und des weißen Gegenlichts auf Scarlett stärker hervorgehoben. Wechselnde Farben zeichnen den Machtkampf zwischen den Liebenden nach. Wenn Scarlett sich den Annäherung von Rhett widersetzt und und sich von ihm abwendet, verlässt sie ihr Führungslicht und wird in Schatten gehüllt. Als Rhett ihr dann seine Liebe erklärt, ergreift er Scarlett und dreht ihr Gesicht so, dass die hellen, kühlen Farbtöne zurückkehren. Die dritte Einstellung, eine extreme Großaufnahme, taucht das gesamte Bild in Rot und Schwarz, bis auf Scarletts Hauttöne. Mit seinem Kuss blockiert Rhett das Gegenlicht und legt Scarletts Kopf nach hinten, sodass sie in orangerotes Licht gehüllt wird. Mit seiner Vorwärtsbewegung wird ein kurzes Aufblitzen von Farbenintensität in der Bildmitte erzeugt, das den Kuss unterstreicht." Es verschlägt einem schon beim Lesen den Atem. Wie oft die beiden den Kuss wohl proben mussten, bis das Licht perfekt fiel? Hier kann man sehen, wie zutreffend Higgins" Analyse ist:



Mit diesen beiden Filmen, dem "Wizard of Oz" und "Vom Winde verweht" hatte sich der Farbfilm endgültig etabliert. Technicolor standen goldene Jahre bevor, in denen sich die Hartnäckigkeit und der Erfindungsreichtum der Gründer auszahlte. Jetzt konnte man alle Möglichkeiten ausschöpfen und weiterentwickeln, die der Farbfilm bot.

Zum Beispiel Stimmungen und Personenbeziehungen mit Farbe zu akzentuieren. Ein frühes Beispiel dafür ist der Kurzfilm "La Cucaracha" von 1934, eine kleine Komödie mit Tanzeinlagen. Die mexikanischen Kostüme in brillanten Komplementärfarben zeigen, wozu der 3-Ton-Farbfilm in der Lage ist. Aber farbiges Licht wird auch benutzt, um psychologische Reaktionen darzustellen. Das Gesicht des beschämten Impresarios, der in einem Streit mit der Geliebten seines künftigen Stars unterliegt, ist nach dem letzten Schlagabtausch in kräftiges Rot getaucht.



Der Film zeichnet sich nicht gerade durch Subtilität aus, aber Charme hat er immer noch. Ein anderes Beispiel ist - neben "Vom Winde verweht" - John M. Stahls Melodram "Leave her to Heaven" von 1945. Wenn Gene Tierney zwischen ihren gedeckt gekleideten Opfern steht, sieht sie mit ihrem leuchtend roten Lippenstift, den schneeweißen oder leuchtend bunten Kleidern aus wie eine tödlich giftige, exotische Blume. Stahl deutet schon mit den Kostümfarben in der Bahnhofsszene, gut sieben Minuten nach Beginn des Films an, welche Personen - der Geschichte bis hierhin zum Trotz - eigentlich zusammen gehören: Genes Schwester und der Held.



Für "Black Narcissus" benutzten Emeric Pressburger und Michael Powell 1947 vor allem Farbfilter, um die Stimmung einer kleinen Gruppe von Nonnen zu beschreiben, die von England in ein fast 3000 Meter hochgelegenes Kloster im Himalaya versetzt werden. Die englischen Nonnen, deren Gesichter so blass aussehen wie ihre Kleider, heben sich in der kahlen winterlichen Bergwelt nur in einer Szene vom hellblauen Himmel ab, sonst scheinen sie fast mit ihrer Umgebung zu verschmelzen. Im Frühjahr explodieren die Farben der Landschaft und Kanji hält Einzug in das Kloster, ein hübsches frühreifes junges Mädchen, das sich in den Prinzen verliebt, den die Nonnen unterrichten. Auch Schwester Ruth verliebt sich, in den einzigen weißen Mann nahe der Mission. Pressburger und Powell unterlegen die sich verdüsternde Atmosphäre im Kloster mit phantastischen rosa und blau getönten Sonnenauf- und untergängen. Zugleich setzen sie mit einem scharfen Hell-Dunkel-Kontrast den aufdämmernden Wahnsinn von Schwester Ruth in Szene, fast wie eine Horrorgeschichte. Hier der dramatische Höhepunkt des Films, der Deborah Kerr als Oberin fast das Leben kostet:



Eine andere Strategie, die Akzeptanz von Farbe zu beschleunigen, war der Versuch, möglichst natürliche Farben ins Bild zu setzen. Ein großartiges Beispiel dafür ist Henry Hathaways "The Shepherd of the Hills" von 1941, der mit seinen warmen, erdigen Farben einen Sommer in den Orzaks festhält. Man vergleiche diesen Film mit Debra Graniks "Winter"s Bone": Dieselbe Landschaft, nur 2010 ist sie fahl, als wäre ihr alle Farbe ausgesaugt. Beide Filme erzählen eine dramatische Geschichte voller Gewalt. Aber "Shepherds of the Hill" (mit einem sehr jungen John Wayne) strahlt trotz allem einen Optimismus aus, der in krassem Gegensatz zu der kalten versteinerten Welt siebzig Jahre später, in der selbst die Rollenmuster der Geschlechter in einer Weise verfestigt sind, dass 1941 dagegen wie ein feministischer Fiebertraum wirkt.



Noch besser konnte man den Farbfilm mit einer Anlehnung an klassische Gemälde nobilitieren. John Ford betonte immer wieder, wie sehr er für die Farben und Bilder seines Western "She Wore a Yellow Ribbon" von 1949 von den Gemälden Frederic Remingtons inspiriert war. Gedreht im Monument Valley in Arizona nutzte die Filmcrew Staubwolken und Blitze für spektakuläre Lichteffekte - wenn auch nicht immer ganz freiwillig. Staub hatte hier einen Effekt wie Nebel, der das Blau und Gelb der Uniformen dämpfte, bis sie umso spektakulärer gegen die goldgelbe Landschaft ans Licht traten.


Frederic Remington: "A Cavalryman"s Breakfast on the Plains", c. 1892; Amon Carter Museum, Fort Worth, Texas

Noch enger an die Malerei lehnte sich Rouben Mamoulian 1941 mit seinem Torerodrama "Blood and Sand". Die Kinder bei Murillo, die Falten bei Tizian, die Farben von Velazquez und die düster religiöse Atmosphäre von El Greco waren Mamoulians Vorbilder. In einer Ankleideszene sitzt Tyrone Power von prächtigen Stoffen umhüllt auf einem Sessel wie ein Medici auf seinem Thron - oder vielmehr: wie Tizians Maria.


Tyrone Power in "Blood and Sand" und Tizians "Maria"

Wie Farbe und Licht in diesem Film zusammenspielen, um ein altes Gemälde zu evozieren, sieht man besonders gut in dem Paso Doble, den Rita Hayworth mit Anthony Quinn tanzt. Allerdings ist sie mit ihrem magentafarbenen hautengen Kleid und den roten Haaren zwischen all den dunkelgekleideten Männern eine höchst unheilige Erscheinung.



All diese Techniken halfen dem Farbfilm "erwachsen" und vom Publikum als "natürlich" akzeptiert zu werden. Und doch ist Technicolor nirgends so wundervoll wie in den Musicals, in denen die Farben förmlich explodieren - obwohl sie mit größter Sorgfalt ausgesucht und komponiert wurden. Aber hier durften Gegensätze in den satten tiefen Farben, die Technicolor auszeichnete, aufeinander prallen, die im dramatischen Film nicht durchgegangen wären: glänzendes Pink vor mattrotem Hintergrund wie in Marilyn Monroes "Diamonds"; himbeer-, flieder- und orangefarbene Uniformen wie in den drei Musketieren; oder die erschreckende Kombination von Gelb, Rot, Blau und Grün in Gene Kellys "Singin" in the Rain". Hier gerät die Farbwirkung aber auch abrupt an ihr Ende. Wer kann schon lange genug den Blick von Cyd Charisses Beinen lenken, um das Dekor zu betrachten?



Nach dem Zweiten Weltkrieg ging es mit Technicolor rasch zu Ende. Eastman-Color hatten einen Farbnegativfilm entwickelt, der die Farbkameras von Technicolor und damit auch die Farbberater überflüssig machte. Aber Schuld waren vor allem die Deutschen. Sie hatten in der Nazizeit mit Agfacolor ein ausgezeichnetes Farbfilmverfahren entwickelt, das nach 1945 quasi als Beutegut frei verfügbar auf den Markt kam. So entstanden Farbfilmverfahren in Japan, Italien, Belgien und der Schweiz. Technicolor hatte sein Monopol verloren. Und geht doch als Sieger aus der Geschichte hervor: Keiner der neuen Farbfilme hat sich so gut erhalten, wie die ab 1939 gedrehten Filme in glorious Technicolor.

Anja Seeliger