Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 3. Tag

Von Thekla Dannenberg, Ekkehard Knörer, Christoph Mayerl
11.02.2006. Hätte Houellebecq sehen sollen: Oskar Roehlers "Elementarteilchen". Zeigt den Theweleits dieser Welt die nackte Schulter: Terrence Malicks "The New World". La la la, hey, hey hey, you are mine! In Pradeep Sakars "Parineeta" wird herzzerreißend gesungen. Außen hart und innen ganz weich: Michael Glawoggers Wettbewerbsbeitrag "Slumming". Lukas Moodyssons Film "Container" schockte bei der Vorführung seine Hauptdarsteller. Neil Jordans "Breakfast on Pluto" führt ins Irland der siebziger Jahre: Kitten will keine Bomben legen, sondern nur Lippenstift tragen.Eine Liste aller besprochenen Berlinalefilme finden Sie hier.
Hätte Houellebecq sehen sollen: Oskar Roehlers "Elementarteilchen" (Wettbewerb)

Es ist schwierig, einen Teppich zu verfilmen. Oskar Roehler hat es geschafft. Mit viel Geduld ist er immer wieder über das Gewebe aus Gesellschaftskritik, Pornografie und Sinnsuche herübergegangen und hat langsam kleine Knötchen entdeckt und so lange gedreht und gezwirbelt, bis sie größer wurden, zu erkennbaren Figuren, zu Geschichten.

Was und wie viel auf dem langen Weg vom Roman zum Drehbuch geändert worden ist, ist für viele zur Hauptfrage des Films geworden. Dazu nur so viel: Roehler hat mit großer Respektlosigkeit - und einem beherzt zugreifenden Bernd Eichinger im Hintergrund - enorm viel umgeschrieben. Man sollte dem Schutzpatron der bewegten Bilder dafür danken. Die beiden Halbbrüder, der Genetiker Michael und der Lehrer Bruno, und das ist die unwichtigste Änderung, leben nicht mehr in Paris, sondern in einem gegenwärtigen Berlin. Der Großteil der philosophischen Auslassungen ist verschwunden, ebenso wie die pornografischen Aufreger. Und siehe da: Aus dem etwas fischigen, herzlosen Beobachter Houellebecq wird ein Entdecker packender Figuren, ein genauer, empathischer Beobachter. Ja, "Elementarteilchen" ist witzig, von Brunos gebrülltem Ständchen am Bett der sterbenden Mutter bis zur Exhumierung von Michaels Großmutter. Roehler hat Houellebecq verträglich gemacht, ihn damit aber nicht entstellt, sondern eher freigeschaufelt unter all den Skandalen und Etiketten, unter denen er verschüttet war.

"Elementarteilchen" schaut man sich ohnehin am besten an, ohne vorher das Buch, eines der zahllosen Vorabinterviews mit dem Regisseur oder einem der Schauspieler gelesen zu haben. Dann überrascht einen Michaels kalte, aber nicht herzlose Art, und man wundert sich, warum er die zahllosen Briefe seiner Jugendfreundin zwar fein säuberlich gesammelt, aber nie gelesen hat. Man fragt sich auch, warum Bruno der Katze, die ihm beim Onanieren zusieht, den Schädel einschlägt. Man beginnt sich dafür zu interessieren, warum in dem einen der beiden Halbbrüder so viel Wut auf die Mutter und sich selbst steckt, und warum der andere nur dauernd zu staunen scheint, ohne zu fühlen, und seinen toten Wellensittich nach kurzer Überlegung in den Biomüll plumpsen lässt. Moritz Bleibtreu geht mit so viel heißer Wut zugrunde an seinen Gefühlen, die er nirgendwohin zu richten weiß, dass man die Hitzewellen bis in den Kinosessel zu spüren meint. Christian Ulmen sagt in der Pressekonferenz, er habe sich zur Vorbereitung auf seine Rolle als Michel noch einmal die Terminator-Filme mit Arnold Schwarzenegger angesehen. Ob Ulmen ein Schauspieler ist, kann man auch nach diesen Film nicht beurteilen. Aber er hat eine ruhige Präsenz, selbst wenn er meistens nur seltsam steif herumsteht.

"Ich will meine frühen Forschungen wieder aufnehmen, um zu sehen, was die Welt im Innersten zusammenhält", schreibt Michael in der ersten Einstellung in seinen Computer. Dieses Versprechen hält der Film nicht, doch er beweist, was Film am besten kann: Menschen bei ihren Entscheidungen beobachten, Menschen bei ihrem Wachsen oder ihrem Verfall zusehen, und es gar nicht kitschig erscheinen lassen, wenn es wieder mal die Liebe ist, die die Welt zusammenhält. Dass Roehler dafür die auftretenden Frauen - Martina Gedeck ist köstlich heißkalt wie immer, Franka Potente sehr warm und weiblich - sogar mehr oder weniger am Leben lässt, wird ihm hoffentlich auch Houellebecq verzeihen. Der hat den Film übrigens noch nie gesehen und ist zur Zeit unauffindbar. Er hat etwas verpasst.

Christoph Mayerl

"Elementarteilchen". Regie: Oskar Roehler. Mit Moritz Bleibtreu, Christian Ulmen, Martina Gedeck, Franka Potente, Nina Hoss, Uwe Ochsenknecht, Corinna Harfouch, Jasmin Tabatabai u.a., Deutschland 2006, 105 Minuten. (Wettbewerb)


Zeigt den Theweleits dieser Welt die nackte Schulter: Terrence Malicks "The New World" (Wettbewerb)

Als "kolonialistischen Softporno" hat Klaus Theweleit in Tagesspiegel und Zeit "The New World" beschimpft. Dieses Urteil ist nicht einfach richtig oder falsch, es ist vielmehr der schärfstmögliche Widerspruch zu dem Projekt, um das es sich bei Malicks Film handelt. Dieses Projekt ist so simpel wie maßlos: die Darstellung der Unschuld, und zwar am Nullpunkt der amerikanischen Zivilisation, wie wir sie kennen, in der Begegnung der Ureinwohner mit den ersten Siedlern, in der Gründungslegende von John Smith und der Indianerin Pocahontas. Es ist das Jahr 1607, aber im Grunde ein Jahr Null.

Oder nicht die Darstellung, sondern die Herstellung der Unschuld, denn das Projekt ist kein historisches - es nutzt nur die nahe liegende historische Gelegenheit -, sondern ein philosophisches. Und ein philosophisches eher als ein (film)ästhetisches, darin liegt eine entscheidende Krux der Unternehmung. Was Malick inszeniert ist eine "tota allegoria" der Unschuld der Welt an ihrem, oder jedenfalls: einem, über alles historisch Besondere eben aufs Grundsätzliche hinausweisenden Ursprung. "Tota allegoria" heißt nun, dass Malicks Film, "The New World", sich darstellt als geschlossenes Übertragungssystem von Bedeutungen, in dem nichts nur das meint, was es ist und alles, was man sieht, mehr meint als es ist. Der Wind in den Halmen, das Lächeln der Frau, deren Namenstaufe so lange aussteht, die Weißen, die Roten, das Huhn und die See: alles es selbst und noch mehr, die Unschuld, die Liebe, Mutter Natur.

Die Bedeutungen, die Malick allegorisch hineinträgt, wir sollen sie fühlen. Das versteht sich nicht von selbst und führt - sehr konsequent - zu einer bestimmten Form von Überwältigungsästhetik. Und die ist, was nur auf den ersten Blick überrascht, in schlichter Weise konventionell. Das betrifft vor allem James Horners Musik, die mit unablässiger Pasticheproduktion beschäftigt ist. Der Rahmen ist dabei eng gesteckt, von früher bis später Romantik, Chopin bis Bruckner und Wagner in etwa, letzteres für den Aufschwung ins Sakrale, der ein ums andere Mal nicht ausbleibt.

Bezeichnend, dass er bis zu, grob gesagt, Gustav Mahler nicht mehr gelangt. Denn hier beginnt die Zitathaftigkeit, die Möglichkeit einer Übernahme, die einklammert und in Frage stellt, statt einfach nur hinauszuweisen ins Gefühlte einer anderen Welt. Die Überwältigung zur Unschuld, auf die Malick hinauswill, ist teuer erkauft: Mit dem Verzicht auf Witz und Ironie, auf Reflexion und Bewusstsein von Form und ästhetischer Tradition. "The New World" reicht über die Formensprache Hollywoods keineswegs hinaus.

Unschuld, als in konventioneller Herstellung behauptete, ist mitunter so fad wie der Puritanismus, der mit ihr hier einhergeht. Denn irgendwann gibt es zwar ein Kind, aber Sex hatten die Eltern im Bild jedenfalls nicht. Und dennoch: Es bleibt für den, der es mag, die Möglichkeit, sich der Überwältigung nicht gänzlich zu entziehen. So teuer die Unschuld erkauft sein mag, in den Grenzen, die Malick ihr zieht, hat sie ihre vom Kitsch schlichter Machart im großen und ganzen doch unterscheidbaren Reize. Der Mut und die ja fraglos sehr bewusste Entschlossenheit, mit der hier den Theweleits dieser Welt die nackte Schulter gezeigt wird, verdienen einen gewissen Respekt.

Und doch wird man denen, die glauben, das Paradies, falls das Kino es herstellen kann, müsse so aussehen wie "The New World" nun aussieht, widersprechen. Jean-Luc Godard hat seinen letzten Film "Notre Musique" als Triptychon gestaltet, mit der Darstellung des Paradieses am Schluss. Dies Paradies, als Vision, ist ohne die Hölle der Kriege, die Hölle des Wissens über die Verbrechen der Menschheit, so Godards These, nicht zu haben. Das Paradies bei Godard ist ein Ausblick wider besseres Wissen. Aus dieser Perspektive ist Malicks Unschuld einfach falsch. Das Auge des Betrachters kann und darf den Kolonialismus so wenig vergessen wie den nahe liegenden Sexismus des Kamerablicks. Dies Vergessen wäre dann die Reinform ästhetischer Ideologie. Und "The New World" nichts weiter als ein kolonialistischer Softporno.

Ekkehard Knörer

"The New World". Regie: Terrence Malick. Mit Colin Farrell, Christopher Plummer, Q'Orianka Kilcher, Christian Bale u.a., USA 2005, 136 Minuten (Wettbewerb, außer Konkurrenz)


La la la, hey, hey hey, you are mine! Pradeep Sakars Bollywood-Produktion "Parineeta" (Forum)

Pradeep Sakars "Parineeta" ist die einzige Bollywood-Produktion, die in diesem Jahr auf der Berlinale zu sehen. Und das in einem Jahr in dem Yash Chopra, Regisseur und Produzent des Smash Hits "Veer und Zaara" in der Jury sitzt. Eine herbe Enttäuschung ist auch, dass in diesem Film fast überhaupt nicht getanzt wird. Statt übermütiger Ausgelassenheit und üppiger Pracht herrscht hier vornehme Dezenz, in warmes Gold getaucht.

Der Film basiert auf Bollywoods beliebtester Vorlage, dem Roman "Devdas" des bengalischen Schriftstellers Sarat Chandra Chattopadhyay aus dem Jahr 1913, der die Geschichte zweier Liebenden erzählt, denen die Kastenunterschiede und der Zwang, vorteilhaft zu heiraten ein gemeinsames Leben verwehrt. Doch von der Anklage an das patriarchale System ist bei "Parineeta" wenig übrig. Pradeep Sakar hat die Geschichte in die sechziger Jahre verlegt. Auch seine beiden Helden, Lolita (!) und Shekhar, hat das Schicksal in früher Kindheit verbunden, doch ihrer Liebe im Weg stehen nicht die sozialen Schranken oder das Kastensystem, sondern Missverständnisse, schlechtes Timing und ein geldgieriger Vater. Es gilt die Devise "Ein unprofitabler Deal ist ein schlechter".

Das wird allerdings gnadenlos über zwei Stunden ausgewalzt und rührendst besungen. Mal in tiefer Verzweiflung ("I'm so lonesome I could cry"), mal im Duett mit der Angebeteten ("la la la, hey, hey hey, you are mine"), und mal im fiebrigen Liebeswahn. Shekhar ist nämlich musikalisch begabt und künstlerisch ambitioniert.

Besetzt ist der Film ganz toll: Sanjay Dutt, einer der Top Ten von Bollywood, gibt Lolitas Wohltäter, Lolita und Shakhar werden von den Newcomern Vidya Balan und Saif Ali Khan gespielt (den man sich als Mischung aus Rod Taylor und Rudolf Prack vorstellen muss). Nach der Vorführung erklärte Proudzent Vidhu Vinod Chopra, wie sehr er schon als Jugendlicher von Chattopadhyays Roman geschwärmt habe. Auf Nachfrage von Dorothee Wenner räumte er aber auch ein, wie reibungslos in Bollywood die Geldmaschinerie läuft: "In Indien werden Filme schon verkauft, bevor sie fertig sind."

Thekla Dannenberg

"Parineeta": Regie: Pradeep Sakar. Mit Sanjay Dutt, Vidya Balan, Saif Ali Khan und anderen. Indien 2005, 127 Minuten (Forum).


Fahrscheine bitte! Michael Glawoggers "Slumming" (Wettbewerb)

Michael Glawoggers Film "Slumming" ist außen hart und innen ganz weich, mit gar nicht wenig Humor zwischendrin. Vier mögliche Gründe also, ihn nicht zu mögen, der Härte wegen oder des Zarten, des Humors oder der Mischung des Unverträglichen. Wollte man ihm böse sein, er wäre wohl schutzlos wie ein Rehkitz auf den verschneiten Straßen Wiens. Ich mochte ihn gern, auch deshalb.

Auf die im ganzen realistische, von Surrealem leise durchzogene Welt dieses Films losgelassen wird der Trinker Kallmann (furios, aber mit Disziplin: Paulus Manker), "Fahrscheine bitte", "in Oarsch eini bitte", pöbelt er sich durch die U-Bahn und die Mariahilfer Straße hinauf in Wien. Er ist ein Dichter, ein herunter- und wahrscheinlich sowieso nie hinaufgekommener, er trinkt und ist betrunken, schimpft, schnorrt, stiehlt, tut nichts Gutes, bzw. für ein Bier oder einen Schnaps einfach alles.

Auf die Welt losgelassen auch Sebastian aus Berlin (nicht ohne diabolische Züge: August Diehl), ein Junge aus reichem Haus, der tut, wonach ihm der Sinn steht und der so mit grausamer Gleichgültigkeit Taten verübt, die aus der Welt keinen besseren Ort machen. Er trifft Frauen, die er beim Chatten kennenlernt und fotografiert unterm Tisch unterm Rock ihre Höschen. Pia (Pia Hierzegger) ist eine der Frauen, eine Volksschullehrerin, an der er hängen bleibt, weiß der Teufel warum. Sein Spießgeselle heißt Alex (Michael Ostrowski), gemeinsam unternehmen sie Streifzüge durch die Wiener Unterwelt und nennen diese Art, Milieus kennenzulernen, in die sie nicht gehören, wie der Titel schon sagt "Slumming".

Das jüngere österreichische Kino treibt gern Spielchen mit dem Zufall (man denke an Barbara Albert, die hier dramaturgisch beraten hat, und ihre "Bösen Zellen") - und also will es der Zufall, dass sich der Trinker und die Slummer begegnen, eines Nachts. Sebastian und Alex machen sich einen Spaß und verfrachten den vom Rum Gefällten über die Grenze in einen kleinen Ort in Tschechien. Da wacht er dann auf am nächsten Morgen und fragt sich und die Welt: "Was ist hier los?" Diese Tat, die eine Untat ist, wird erstaunliche Folgen haben. Kallmann wird Bambi begegnen im Wald und den sieben (oder so) Zwergen im Eis, denn nun nimmt eine Art Märchen (und jedenfalls das Zarte im Film) seinen Lauf.

Oder ein Wunder. Da hat einer, der eher Böses wollte, Gutes geschaffen. Ansichtssache vielleicht, denn nun schaufelt Kallmann nüchtern Schnee für ein bisschen Geld. Sebastian macht sich davon, Slumming nun in richtigen, indonesischen Slums, ein wenig wie sein Schöpfer Michael Glawogger, der für seine Dokumentarfilme, "Workingman's Death" zuletzt, auch immer in die Welt hinaus geht. Glawogger bringt regelmäßig arg schöne Bilder von schrecklichen Verhältnissen mit. Sebastian wird eventuell nur bekehrt. Ein besserer Mensch. Daran glaubt der Film mit gewisser Arglosigkeit schon. Es will mir nur nicht so recht gelingen, es ihm übel zu nehmen.

Ekkehard Knörer

"Slumming". Regie: Michael Glawogger. Mit Paulus Manker, August Diehl, Pia Hierzegger, Michael Ostrowski, Maria Bill u.a., Österreich, Schweiz 2006, 96 Minuten (Wettbewerb


Beträchtliche Zumutung: Lukas Moodyssons "Container" (Panorama)

Der schwedische Regisseur Lukas Moodysson hat sich mit seinen ersten beiden Filmen "Fucking Amal" und "Zusammen" beim internationalen Publikum beliebt gemacht. Seither aber nimmt er sich die erstaunlichsten Lizenzen, es zu schockieren und zu vergraulen. Sein letzter Film "A Hole in the Heart" brachte einen Amateur-Porno-Dreh auf die Leinwand. Und "Container", nun in der Panorama-Reihe zu sehen, ist auf jeden Fall eines: eine beträchtliche Zumutung.

Schlicht, schwarz-weiß, mit sehr nüchternen Schrifttafeln beginnt es. Und dann stürzt einen der Film in eine schreckliche Welt. Sie ist von Anfang bis Ende dissoziiert, in eine Tonspur und eine Bildspur, beides hat miteinander zu tun, aber zunächst nicht in eindeutig geklärter Weise. Auf der Tonspur zu hören ist die Stimme einer Frau, die in amerikanischem Englisch und in monotonem Singsang den auralen Stream-of-Consciousness liefert zu den extrem körnigen Bildern, die aussehen wie mit einer 8-mm-Kamera gedreht.

Ein dicker Mann bewegt sich durch eine vermüllte Wohnung. Die Stimme der Frau auf der Tonspur ist das Ich zu diesem Mann, der sich für eine wunderschöne Frau, ja, eine Schauspielerin in einem hässlichen Körper hält, von aller Welt begehrt, von Paparazzi verfolgt. Klatsch-Nachrichten von Paris Hilton und Brad Pitt bis Kylie Minogue werden in den unablässig im selben Ton vor sich hin nölenden Singsang eingespeist. Das Ich, das hier spricht, ist krank, es jammert, es beklagt das Elend der Welt. Zu seinen Obsessionen gehören auch Katastrophen, der Weltkrieg, Tschernobyl, das Ende der Welt. Währenddessen sind Bilder von Müllhalden zu sehen, der dicke Mann verklebt sich mit Tesafilm das Gesicht, bindet sich eine kleine Plastikpuppe vor den Mund.

Eine Frau kommt, im Bild, ins Spiel. Der dicke Mann trägt sie, sie ist, das scheint recht klar, die Frau in seinem Innern, nach außen projiziert. In einem fort fluten die Bilder, der Müll, der Mann, die Frau, in einem fort fluten die Worte, die Katastrophen, das Elend der Welt. In den besten Momenten bekommt das etwas Hypnotisches, in den schlechteren versteht man den nicht unbeträchtlichen Teil des Publikums ganz gut, der das Weite sucht.

Lukas Moodysson, ein kleiner Mann mit Schal und Hut in Schwarz, flammend gelbe Intarsien in den gleichfalls schwarzen Schuhen, trägt im Q&A hinterher zur Aufklärung über das, was man da eben gesehen hat, nicht gerade Sachdienliches bei. Wie der Text entstanden ist, kann er eigentlich nicht genau sagen. Die beiden Darsteller, die neben ihm stehen, versichern, den Film zum ersten Mal gesehen zu haben. Sie stehen offenkundig unter Schock. Das ist, sagt die Frau, die eigentlich Tänzerin ist und das imaginierte Schauspielerinnen-Star-Ich im Innern des dicken Mannes darstellt, das ist nicht das Drehbuch, das ich gelesen habe.

Ekkehard Knörer

"Container". Regie: Lukas Moodysson. Mit Peter Lorentzon, Mariha Aberg u.a., Schweden 2006, 74 Minuten (Panorama)


Paloma-Picasso-rot: Neil Jordans "Breakfast on Pluto" im Panorama

"Wenn ich kein Transvestit und Terrorist wäre, würden Sie mich heiraten?" Diese sehr ernst gemeinte Frage lässt den brutalen britischen Vernehmungsbeamten gequält aufheulen. Tagelang hat er auf Patrick "Kitten" Brady eingedroschen, doch der hat nun mal den Club voller britischer Soldaten nicht in die Luft gejagt. Der Transvestit Kitten ist kein Terrorist, er will nur dazugehören. Zu irgendwem. Und seine Mutter finden. Alles andere kümmert ihn wenig. Weder das unaufhörliche Töten in Nordirland noch die starre Welt seines Heimatstädtchens, und auch das Entsetzen der Lehrer, die das Mädchen in ihm herausprügeln wollen, berühren ihn nicht. Diese Distanz des Helden rächt sich schließlich - für den Zuschauer - zum Glück aber nur da, wo Neil Jordans bunter, glamouröser, wunderbar versiffter Trip durch die bunten Siebziger traurig sein soll. Das kommt selten genug vor.

Dass es ein verspielter Ritt werden wird, merkt man schon in den ersten Minuten. Wie ein übermütiger Albatros taumelt die Kamera auf ein sonniges Städtchen irgendwo in Nordirland zu, umkreist den Kirchturm, stürzt hinunter auf den Friedhof und fängt sich wieder, um schließlich an der Tür des Pfarrhauses zu verweilen, wo sich zwei Rotkehlchen launig über das Baby unterhalten, das gerade vor der Tür abgestellt worden ist. Das Findelkind Patrick, das bei der recht handgreiflichen Wirtin des Dorfpubs aufwächst, merkt recht schnell, dass ein Mädchen in seinem Jungenkörper steckt. Auf Verständnis kann er nicht hoffen, weder bei seinen Zieheltern noch in der Schule. Das einzige, was ihn aufrichtet, ist die Geschichte seiner Mutter, die der Schauspielerin Mitzi Gaynor so ähnlich sieht und von der es heißt, das verrufene London habe sie geschluckt.

Der erste, der Patrick eine Heimat bietet, ist der Motorradrocker und Bandleader Billy Hatchet. Der Postpunk und Maler Gavin Friday spendiert seiner Figur neben seinen prachtvollen Koteletten auch ein paar eigens geschriebene Songs, die man wieder hören möchte. Überhaupt kann der Soundtrack, den unter anderem Harry Nilsson, Bobby Goldsboro und die Rubettes bestreiten, die Ansprüche an einen Film vollauf erfüllen, der zum großen Teil im jungen London der Discos, Bars und Varietes spielt.

Dreh- und Angelpunkt der Besetzung ist Cillian Murphy, den man sich schon nach zehn Minuten nur noch in Tuffkleidchen und Pailettenblusen vorstellen kann. Sein in Paloma-Picasso-Rot geschminkter Mund ist sinnlicher als der aller weiblichen Darsteller zusammengenommen, und seine übergroßen Augen machen das Gesicht so offen, dass man Angst hat, es könnte beim Kontakt mit der harten Welt da draußen zerstäuben wie ein Spiegelbild in einem stillen Teich. Nur diese Fistelstimme hätte man sich sparen können. Sie beginnt schnell zu nerven, und mit ihr kommentiert Kitten alles und jeden. Mal frech, meist witzig, aber leider auch allzu oft in einem Singsang, den man kaum noch versteht. Diese verkünstelte Stimme fräst sich hochfrequent ins Ohr, so dass alles, und eben auch Tragisches, mit dem Glanzlack der Travestie überzogen und darunter luftdicht konserviert wird. Je höher Kitten schwebt, desto gedämpfter dringt er zu uns durch.

Christoph Mayerl

"Breakfast on Pluto". Regie: Neil Jordan. Mit Cillian Murpy, Liam Neeson, Ruth Negga und Irwin Laurence Kinlan. Irland/Großbritannien 2005, 129 Minuten, (Panorama)