Magazinrundschau - Archiv

The Believer

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Magazinrundschau vom 08.06.2021 - Believer

In einem epischen Artikel der neuen Ausgabe nimmt uns José Orduna mit auf eine etwas andere Entdeckungsreise durch eine der gefährlichsten Städte der Welt - Juarez-Stadt an der mexikanisch-amerikanischen Grenze: "Diese Safari durch Juárez sollte nicht in einem Theater, sondern an verschiedenen Orten der Stadt stattfinden, auch in den Häusern der Menschen, und die Aufführung würde vier Stunden dauern. Sechs Einheimische hatten jeweils einen Schauspieler einer lokalen Theatergruppe zu sich aufgenommen und lebten zwei Wochen mit ihm zusammen. Sie hatten ihr Leben einander geöffnet und einen Text konzipiert. Regisseure wurden hinzugezogen, um daraus Performances zu entwickeln … Als Julián uns verriet, dass er eine kleine, unbedeutende Rolle im Drogenhandel spielte, hatten wir bereits die Suppe seiner Mutter gegessen, den Geruch seiner Sachen eingeatmet, seinen entblößten Körper gesehen und seine Liebe zu seinem Kind kennengelernt. Es war nicht mehr so leicht, die gängigen Grenzen zu ziehen. Seine Person widersprach den offiziellen Narrativen, dass die massive Gewalt des Drogenkriegs von Kriminellen verkörpert werden, die sich kategorisch von uns Unschuldigen unterscheiden und dass Kriminalität die Summe illegaler Handlungen von Einzelpersonen oder Gruppen ist, die auf schlechten Entscheidungen beruhen und den Einsatz der Polizei erfordern. Er erinnerte mich an so viele meiner Kindheitsfreunde, Kinder, mit denen ich im Sommer mein Eis geteilt hatte, deren Mütter ich kannte und die später den Platz einnehmen würden, den die Gesellschaft für sie geschaffen hatte."
Stichwörter: Mexiko, Juarez-Stadt, Drogenhandel

Magazinrundschau vom 04.12.2018 - Believer

Regisseur Barry Jenkins kommt im Gespräch mit Morgan Jenkins auf ein wenig bekanntes Detail der Filmproduktion: An der Filmhochschule fiel ihm auf, dass Schwarze auf Film oft nicht gut rüberkamen. "35mm-Film war nie dafür gedacht, dunklere Hauttöne akkurat zu reflektieren und zu reproduzieren. All den Mist lernte ich, indem ich laufend Filme drehte und mich immer wieder fragte, warum sie so schlecht aussahen. ... Dann gab es da einen Film namens 'City of God' (Szene), mit dem brasilianischen Kameramann César Charlone. Ich erinnere mich daran, den Audiokommentar dazu gehört zu haben. Da gibt es eine Szene, bei der sich die Schauspieler in einem Baum befinden. Es ist ein sehr dunkler Film - dunkel im Tonfall, aber auch, was die Hauttöne betrifft. Und sie fotografierten ihn dennoch... Ich dachte erst, sie haben das im 'Day for Night'-Verfahren gemacht. War aber nicht so. Und ich dachte mir nur noch: Wie schaffen die das - Leute, die dunkler sind als ich, so zu fotografieren, dass sie buchstäblich Mondlicht reflektieren? ... Ich selbst habe einfach wahnsinniges Glück, bin geradezu privilegiert, weil es heutzutage diese Kamera namens ARRI Alexa gibt. Die Alexa wird in Deutschland hergestellt. Wir nutzten diese Linsen, Hogg-Linsen, die ebenfalls in Deutschland hergestellt werden. All die Technik für 'Moonlight' kam aus Deutschland, was schon sonderbar ist. Aber die Kamera ist digital, hält sich also nicht an die Regeln der systemisch rassistischen 35mm-Emotion. So kommt es, dass man eine sehr dunkle Person direkt neben eine sehr helle Person stellen kann. Und dieses Ding hat soviel Belichtungsumfang, dass man in der Postproduktion bis tief in die Schatten vordringen kann. Man kann sie nach oben und die Helligkeit nach unten pegeln, ganz wie man will. Heutzutage kann ich also kalibieren wie ich kalibrieren will. Hätte ich diesen FIlm 2012 gedreht, mit dem Budget, das uns zur Verfügung stand, er hätte ganz sicher nicht so ausgesehen, wie er heute aussieht." Dazu passend ein kleines Video, das insbesondere den Filmaspekt plastisch veranschaulicht:



Ein vergnügliches Gespräch hat Gina Telaroli mit John Waters geführt, dem "Pope of Trash", der einige der bizarrsten Filme der Filmgeschichte gedreht hat. Den Anlass dafür bot eine Retrospektive in Waters' Heimatstadt Baltimore, die vor allem seine Kunst - nicht so sehr seine Filme - feierte. Auch wenn Film seine Kunst informiert - etwa in den aufwändigen Fotocollagen, für die er Filmsequenzen klassischer Hollywoodfilme von alten Röhrenfernsehern abfotografiert. Insbesondere die Schauspielerin Dorothy Malone - und ihre Performance im Melodram "Susan Slade", in dem unfassbarerweise ein Baby in Flammen aufgeht - stellt dabei ein besonderes Interessensgebiet dar, weil sie in allen Filmen ihren Kragen aufgerichtet trägt: "Dieser Kragen war ihre Kennzeichen. Als ich 'Dorothy Malone's Collar' erstellte, ging ich also all ihre Filme durch und achtete dabei nur auf ihren Kragen. Das nenne ich mal ein obskures flüchtiges Detail einer Filmkarriere. ... Meine Kunst ist High-Concept. So, als würde man einen Film bewerben oder wie ich möchte, dass man sich an einen Film erinnert. Niemand erinnert sich bei Douglas Sirks 'In den Wind geschrieben' an Dorothy Malones Kragen. Für mich stellt dies aber das allerwichtigste Detail dar. Das möchte ich zelebrieren und in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rücken. Weshalb ich immer sage, dass ich ein gescheiterter Publizist bin. Keines der Movie Stills meiner Ausstellungen sollte jemals dasjenige Bild sein, mit dem der Film beworben wird. Weil es nie um jenen Aspekt geht, der einen Film tatsächlich ans Publikum verkauft."

Dorothy Malone in Sirks "In den Wind geschrieben"

Magazinrundschau vom 14.08.2018 - Believer

Wunder der Musik in Zeiten des Internets. Miles Davis schrieb einst eine Melodie, zugleich seltsam fanfarenhaft, spröde und in e-moll. Ihr Name ist "Nardis". Davis selbst hat sie nie gespielt. Diese Melodie ist inzwischen längst ein Jazz-Standard, Hunderte Male aufgenommen, besonders verknüpft aber mit Bill Evans, der seine Karriere bei Miles Davis startete. Steve Silberman widmet dieser Melodie einen wunderbar kennerhaften Essay, geht einige der schönsten Aufnahmen der Melodie durch und landet doch immer wieder beim großartigen, traurigen Bill Evans. Man könnte sich fragen, ob Silberman überhaupt je etwas anderes hört: "Für den Hörer, der ich bin, ist 'Nardis' eine komplette Obsession. Ich habe mehr als neunzig offizielle und Bootleg-Versionen dieses Standards in meiner Cloud gepeichert, in einer beweglichen, stets aktualisierten Rangfolge geordnet. Sie folgen mir, wohin immer ich gehe."

Hier die erste Aufnahme des Stücks vom Cannonball-Adderley-Quintett, für das Davis es ursprünglich schrieb. Evans ist dabei. Die Aufnahme kam wegen der sperrigen Melodie nicht ohne Widerstände zustande - hier hört man die Melodie zuerst von der Trompete, strahlend und eckig. Aber nur Evans hat die Melodie wirklich verstanden, versicherte Miles Davis.

Magazinrundschau vom 17.07.2018 - Believer

In einem lesenswerten Beitrag des Magazins berichtet Katrina Dodson, preisgekrönte Übersetzerin der Erzählungen von Clarice Lispector, über die Arbeit an den quasi religiösen oder auch mystischen Texten der brasilianischen Autorin, deren Heldinnen sich oft in einem Zustand der Auflösung befinden. Es sind "Frauen am Rand", wie sie Dodson in Anspielung auf Almodovar nennt: "Ihre Manien beschwören genau jene Momente, wenn dein Zugriff auf die Welt ins Wanken gerät, aber du weißt, dass alles, was in deinem Kopf durcheinandergeht, noch wirklich geschieht. Sie befinden sich am Rand der Exaltation, Großartigkeit, Auflösung, spiritueller Ekstase, Blüte ihrer Weiblichkeit, der Entsagung, der Trennung von ihren Männern und Familien, des Überwältigtseins, des Verlassenseins, des Mordes, des Irrewerdens. Ich selbst war während dieser Arbeit eine Frau am Rand. Zurückblickend sehe ich etwas wie eine Filmmontage von Frauen vor Spiegeln, ein wiederkehrendes Bild in Lispectors Werk. Ihre Frauen setzen sich in Spiegeln buchstäblich neu zusammen, glätten die Konturen ihrer vergewaltigten oder bedrohten Identitäten. Sie stabilisieren ihre existenzielle Not, indem sie sich selbst freundlich zulächeln, ihr Haar kämmen, nach dem Lippenstift greifen, um Ordnung zu schaffen. Meine liebste Spiegel-Szene folgt, als eine Frau glaubt, dass ihr Maskenbildner und Rivale ihr Gesicht böswilligerweise ausgelöscht hat. Sie prüft ihr Bild in zunehmender Panik, schlägt sich ins Gesicht. Dann: 'Endlich erkannte sie im Spiegel ein menschliches Gesicht, traurig, grazil. Sie war Aurélia Nascimento. Sie war eben geboren worden. Nas-ci-men-to.' bedeutet 'Geburt' auf Portugiesisch, und mir gefiel die Idee, jemand könnte sich förmlich zu seiner Wiedergeburt ohrfeigen. Ich habe mich nie derart geschlagen, aber ich ging um drei Uhr morgens ins Bad, um 'mein Gesicht aufzusetzen'. Mit erneuertem Fokus kehrte ich an meinen Schreibtisch zurück."

Magazinrundschau vom 29.05.2018 - Believer

Im Sommerheft des feinen Magazins aus Las Vegas überlegt Zaina Arafat, in was für ein Amerika ihr Vater 1963 einwanderte und wie ein arabischer Emigrant heute die USA erlebt: "Betrachte ich das Land heute, nach der Wahl von 2016, frage ich mich, ob es sich wirklich so dramatisch verändert hat. In vieler Hinsicht ähnelt das Amerika von 1963 dem von heute, trotz einer anderen globalen Konstellation. Martin Luther Kings Forderungen nach universeller Gleichheit waren eine Reaktion auf das Polizei-Unrecht an afroamerikanischen Menschen, darauf, dass sie geschlagen, verhaftet und getötet wurden - auf Grundlage ihrer ethnischen Zugehörigkeit. Fünf Tage nach der Integration afroamerikanischer Schüler in Alabama explodierte eine Bombe in der Baptistengemeinde von Birmingham, eine Hasstat, die vier afroamerikanische Mädchen tötete und signalisierte, dass Desegregation mit Gewalt beantwortet würde. Der Ku Klux Klan und andere weiße Suprematistengruppen, von denen einige 2017 in Charlottesville wieder aktiv wurden, verheerten das Land. Kennedy verhängte damals einen Reisestopp für kommunistische Kubaner und destabilisierte Vietnam ähnlich wie Bush den Irak. Doch trotz solcher finsteren Unterströmungen sah mein Vater damals nur die Sonnenseiten der USA, ihren Einsatz für Gerechtigkeit, Freiheit und Menschenrechte."

Magazinrundschau vom 17.04.2018 - Believer

In einem langen und gut recherchierten Artikel porträtiert die Autorin Michelle Tea die Hauptvertreterinnen der HAGS, einer Gang aus wilden Butch-Feministinnen, die in den 90ern San Francisco unsicher machte. Die lesbischen Punks fielen durch ihr unbedingtes Einfordern von Resepkt ebenso auf wie durch ihre Aggressivität und ihre Drogenexzesse. So erlangten sie in der queeren Subkuktur einen Ruf als radikale Ikonen der Befreiung von jelichen Regeln. In den 90ern gab es, genau wie heute, sehr viele gewalttätige Übergriffe auf Homosexuelle, so Tea, die damals ebenfalls in San Francisco lebte. Die HAGS haben in ihren Augen einen unverwechselbaren Beitrag zum Widerstand gegen Homophobie geleistet: "Für einen gewissen Teil der queeren Bevölkerung bestand die Antwort auf solche Feindseligkeit nicht darin, respektabel zu werden und weiterhin zu arbeiten, um diese Bigotten davon zu überzeugen, dass wir doch 'genau wie sie' seien, sondern darin, genau die abartigen Monster zu werden, die sie uns zu sein beschuldigten, Gefallen an dieser monströsen Kraft zu finden, 'fuck you' und 'auf Wiedersehen' zum normalen Leben in einer solchen Gesellschaft zu sagen. Auftritt: die HAGS."

Magazinrundschau vom 12.02.2018 - Believer

Trotz mancher kunstgeschichtlicher Anspielungen in seinen Werken ist der Fotograf Jeff Wall überzeugt, dass jeder Mensch Kunst genießen kann - und zwar durch individuelle Beurteilung, ungeachtet, wie bewandert er auf diesem Gebiet ist. "In der Kunst geht es immer um das eigene Urteil", meint er im Interview mit Greg Buium und warnt davor, vor langer Zeit gefällte Urteile über "gute Kunstwerke" kritiklos zu übernehmen. "In diesem Sinne kann ein Betrachter eines Matisse-Werkes, der unmittelbar denkt: 'Oh, das ist ein großartiges Matisse', das Werk gar nicht selbst erfahren, weil er kein eigenes Urteil wagt. Er wird es nie kennen - dazu müsste er es selbst auf ein Neues beurteilen; bei jeder neuen Betrachtung musst du erneut darüber urteilen, was das Werk für dich persönlich bedeutet, erst dann erlebst du es wirklich. Tust du das nicht, erlebst du es nicht. Auch wenn eine Debatte - wie bei Matisse - 'offiziell' für beendet gilt, für ein Individuum ist sie niemals vorbei."
Stichwörter: Wall, Jeff, Kunstkritik

Magazinrundschau vom 30.01.2018 - Believer

Susana Ferreira lebte 2010 bis 2014 auf Haiti. In der aktuellen Ausgabe des Magazins schreibt sie über Religion in der Republik Haiti. Zwar gelten rund 80 Prozent der Haitianer als römisch-katholisch, aber 75 Prozent der Bevölkerung praktizieren Voodoo-Rituale: "Kolumbus brachte den Haitianern das Christentum. Nachdem er mit der Santa Maria hier anlandete, zwangsbekehrten spanische und französische Kolonialisten die entführten und versklavten Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks und etablierten den Katholizismus so nachhaltig, dass er lange bis nach Napoleons Sturz die dominante Religion blieb. Aber der Glaube, den die Menschen von Afrika nach Haiti gebracht hatten, wirkte im Verborgenen weiter, verkleidet als Theater und als katholischer Gottesdienst. Aus der Vermischung der alten Geister vom Mutterkontinent mit neuen, von den indigenen Tainos adaptierten Ideen sowie weiteren, die die Sklaverei hervorbrachte, wurde Voodoo. Über diesen Geistern, erreichbar für den Menschen nur durch ihre Vermittlung, so geht der Voodoo-Glaube, thront der einzige ferne Schöpfer: der gute Gott Bondye. Es war dieser Bondye, zu dem die versklavten Afrikaner und Kreolen für ihre Befreiung beteten."

Magazinrundschau vom 26.01.2016 - Believer

Pablo Calvi reist durch den Regenwald zu den Sápara in Ecuador, deren Lebensgrundlage durch Ölbohrungen und Landverkäufe so bedroht sind wie nie zuvor: "Es gibt auf der ganzen Welt nur eine Handvoll Sapara, die noch ihre eigene Sprache sprechen. Die Schamanen glauben, dass wenn sie sterben und alle Sapara fort sind, ihre Seelen und die Seelen ihres Volkes weiterleben werden, verkörpert in den Tieren und Pflanzen des Landes. Wenn sie das Reservat verlieren, seine Flüsse und Vögel, seine Tiger und Bäume, würde dies nicht nur das physische Ende dieser Nation bedeuten. Es wäre eine spirituelle Katastrophe, die jede Seelenwanderung zunichte machen würde."

Magazinrundschau vom 12.11.2013 - Believer

Ross Simonini unterhält sich mit dem Maler Chris Martin, der wenig vom Diskurs der Kunstinstitutionen hält: vor allem weil sie sich so oft vor den wesentlichen Fragen drücken, meint er. Warum zum Beispiel spreche nie jemand über die Religiosität oder Spiritualität von Künstlern wie Beuys, Mondrian oder Kandinsky. "Alle tun immer so, als ginge es nur um die Frage, wie der Kubismus zur abstrakten Malerei führte, als sei das das Wichtige. Es ist so langweilig. Bei Mondrian ging es darum, dass er besessen davon war, in täglicher spiritueller Praxis seine Energie auszubalancieren. ... Kandinsky betrieb anthropologische Studien über Schamanismus in Vologda. Als er zurückkam, zeigten viele seiner frühen Bilder Reiter, die über andere Menschen springen - es geht um schamanische Traumreisen. Kandinskys Kunst zeigt das, aber im Museum of Modern Art reden sie nur darüber, dass er zur Abstraktion fand."
(Bild: Chris Martin, "East River Williamsburg", Brooklyn, 2005)