Im Kino

Der Bullshit der eigenen Eltern

Die Filmkolumne. Von Katrin Doerksen
23.07.2021. Es ist klar, dass Thomas Vinterberg den "Rausch" ohnehin nicht in feste Bahnen hätte lenken können. Der Film hat in seiner Hommage an den Alkohol, die sich ihrer Probleme durchaus bewusst ist, ein paar bemerkenswert lakonische Momente der Wahrheit.

Dem norwegischen Psychiater Finn Skårderud zufolge lebt der Mensch von Geburt an mit einer halben Promille zu wenig. Seine These: Wer konstant einen bestimmten Pegel halte, sei leistungsfähiger, musikalischer, entspannter, kreativer. Für vier dänische Hochschullehrer, gefangen im Alltagstrott aus langweiligem Unterricht und lästigen Lebensmitteleinkäufen, klingt das nach dem Ausweg aus all ihren Problem. Umgehend wird ein Arbeitspapier aufgesetzt, es handelt sich schließlich um ein wissenschaftliches Experiment. Mit drei Schluck Wodka aus dem im Schulklo versteckten Flachmann sprudeln die Ideen plötzlich wieder, die Schüler hängen an ihren Lippen und die Ehefrauen erkennen ihre aufmerksamen, charmanten Männer kaum wieder.

Thomas Vinterberg ist nicht direkt ein Regisseur, den ich mit rauschhaften Filmen in Verbindung bringe. Eher sogar das glatte Gegenteil. Abgesehen vielleicht von seinen frühen Dogma-Werken erscheinen mir seine Filme meist ein wenig zu sehr an den Ecken rundgeschliffen, konventionell erzählt, wenig widerständig. Wie auch "Der Rausch", eine Geschichte von vier Mittelschichtstypen, deren Experiment mit Pauken und Trompeten startet, um natürlich abzustürzen; es folgt die Katastrophe und schließlich ein ambivalentes Ende, das vielleicht nicht in seiner konkreten Form vorhersehbar ist, aber doch in seiner grundsätzlichen Enthaltung jeglichen abschließenden Urteils.

Es ließe sich auch beanstanden, dass "Der Rausch" nicht sonderlich realistisch ist: Dass sich vier verheiratete, Vollzeit arbeitende Lehrer täglich mächtig einen reinstellen und über Wochen hinweg bekommt es niemand mit. Erst fast ganz am Ende des Films stört ein kaum hörbar gemurmelter Satz die Illusion: "Alle wissen inzwischen, dass du trinkst." Da enthüllt sich das beinahe unmerkliche Spiel, das Vinterberg mit den Perspektiven treibt. Konsequent ist er zuvor bei seinen vier Protagonisten geblieben, die sich für ihr Experiment als Teil einer bedeutenden historischen Kontinuität begreifen. Die sich auf Churchill berufen, oder auf Hemingway, der täglich bis 20 Uhr trank und fit genug war, um am Folgetag weiter zu schreiben. Martin (Mads Mikkelsen) entlarvt im Geschichtsunterricht Hitler als Asketen.


Die Momente, in denen es um die gesellschaftlichen Dimensionen des Trinkens geht, bleiben in "Der Rausch" eher die Ausnahme. Etwa die in den Film richtiggehend hineingepflanzte Montage eindeutig sturzbetrunkener Spitzenpolitiker, die bei EU-Versammlungen, Klimagipfeln und Staatsbesuchen einfältig grinsend vor den Kameras herumtorkeln. Damit lagert Vinterberg das moralische Urteil gewissermaßen an sein Publikum aus. Man lacht darüber und schlägt natürlich auch die Hände über dem Kopf zusammen, wundert sich nicht wirklich und ist zugleich milde über die offensichtlichen Ausmaße der Trinkerei überrascht. Dann ist der Moment vorbei und fürs Erste geht Vinterberg zurück zur wohligen Innenansicht seiner vier Lehrer in ihren Häusern mit Meerblick, zu den teuren Anlagen und schicken Kristallgläsern, mit denen das Saufen natürlich viel weniger traurig aussieht als bei Rotwein aus dem Tetrapack.

Selbst als sich herausstellt, dass zumindest einer der vier, der Sportlehrer Tommy (Thomas Bo Larsen), den Alkohol nicht ohne Weiteres wegsteckt, behandelt der Film das bemerkenswert unsentimental, geradezu distanziert aus dem Sicherheitsabstand der anderen drei heraus, die selbst zu benebelt sind um in den vielen Bierflaschen auf dem Küchentresen ein echtes Warnsignal zu erkennen. Martin selbst wacht nach einer durchzechten Nacht auf dem Gehweg auf. Aber der Augenblick, bei dem ich eher ins Stocken komme als bei seiner blutigen Stirn, ist eine Nahaufnahme des jüngeren Sohnes, nur kurz von der Seite, der seinen desolaten Vater anstarrt und obwohl man sein Gesicht nicht einmal richtig erkennen kann, ist deutlich zu sehen wie etwas in ihm zerbricht, weil er einen daran erinnert, wie es sich anfühlt, wenn man zum ersten Mal bewusst den Bullshit der eigenen Eltern miterlebt.

Kurz darauf folgt der Schluss, den ich ausnahmsweise erwähne, weil ihn ohnehin schon jeder kennt. Die meisten Vorschaubilder stammen aus der Szene: Die Lehrer und ihre frisch gebackenen Abiturienten feiern am Hafen. Der Wodka fließt wieder und mit ihm fließen himmelhochjauchzende Ausgelassenheit und betäubender Schmerz zusammen. Beide Enden des Gefühlsspektrums miteinander verbunden durch den Alkohol, und es wird klar, dass Thomas Vinterberg den Rausch ohnehin nicht in feste Bahnen hätte lenken können. Er ist zerstörerisch und heilsam zugleich, nie nur gut, aber auch nie nur schlecht, und schon gar nicht, wenn Mads Mikkelsen tanzt.

Katrin Doerksen

Der Rausch - Dänermark 2020 - OT: Druk - Regie: Thomas Vinterberg - Darsteller: Mads Mikkelsen, Thomas Bo Larsen, Magnus Millang, Lars Ranthe, Maria Bonnevie, Helene Reingaard Neumann - Laufzeit: 117 Minuten.