Im Kino

Politisches Kino als Liebesbrief

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Patrick Holzapfel
24.09.2015. Pedro Costas "Horse Money" erzählt in wunderschönen Bildern eine politische Geistergeschichte. Und setzt damit eine Serie außergewöhnlicher Filme fort, die der Regisseur im und über den Lissaboner Stadtteil Fontainhas gedreht hat.


In den Fotografien, die den Film eröffnen, zeigen sich die Geister schon fast unverhüllt. Jakob Riis hat sie um die vorletzte Jahrhundertwende aufgenommen, in amerikanischen Arbeiter- und Armenviertel. Jetzt werden die Bilder von den Rändern her angefressen, sind von Schlieren und Verfärbungen übersät, deren Ursprung nicht immer eruierbar ist: Fiel damals tatsächlich ein wundersames, fast erhabenes Licht von der Seite in eine New Yorker Wohnstube, auf das Gesicht einer ärmlich gekleideten Frau, oder ist das nur der Zahn der Zeit, der an der photochemischen Substanz nagt?

Wenn der Film dann in die, oder jedenfalls in seine Gegenwart wechselt, verschwinden die Geister, oder jedenfalls diese Art von Geister erst einmal. Und zwar ziemlich gründlich, denn Pedro Costas "Horse Money" ist ein digital fotografierter und äußerst sorgfältig gestalteter Film. Er spielt hauptsächlich in Innenräumen, die sich häufig tief und eng ins Bild hinein erstrecken, die sich in Durchgänge und Abzweigungen verästeln, die außerdem oft nur schwach illuminiert sind. Trotzdem wirken diese Räume nur selten klaustrophobisch, erst recht nicht sind sie opak oder verrätselt. Das liegt zum einen an der umwerfend schönen Lichtsetzung, die man insofern als malerisch bezeichnen kann, als jede einzelne Einstellung durchkomponiert, in exakt definierte Licht- und auch Dunkelzonen unterteilt ist. Es liegt aber auch bereits daran, dass die Bilder - im Filmschaffen der Gegenwart eine Seltenheit - im hohen, übersichtlichen 1:1,37-Format des klassischen Kinos aufgenommen sind.

Manche dieser Räume sind funktional, gehören zu Krankenhäusern oder Warteräumen, andere haben etwas fast sciencefictionhaft-Abstraktes, werden von neonartig strahlenden Lichtflächen strukturiert. Stets dominieren klare, gerade Linien. Die Menschen, die sich in diesen Räumen bewegen, sind darin nicht zu Hause, sie gehen in ihnen aber auch nicht verloren. Ganz im Gegenteil: Äußerst plastisch, wie skulpturiert wirken die Menschen in Costas Film. Insofern sind das auch Bühnenräume. Das Abstrakte, Entleerte an ihnen verweist nicht auf Entfremdung, sondern es lenkt den Blick auf die Körper und Gesichter der Protagonisten. In diesem Sinne funktioniert "Horse Money" wie ein Hollywoodfilm, oder jedenfalls wie Hollywoodfilme früher funktioniert haben: Ventura und Vitalina Varela, die beiden Hauptdarsteller des Films, die sich selbst spielen - Ventura tat das bereits in anderen Costa-Filmen - werden so fotografiert, dass sie für die Dauer des Films wie die beiden wichtigsten Menschen auf der ganzen Welt erscheinen.

Auch die wenigen Außenszenen sehen aus wie Studiokino, sind aber im Lissaboner Stadtteil Fontainhas gedreht. Oder vielleicht sind sie an einem Ort gedreht, der früher einmal dieser Stadtteil war? Es ist tatsächlich gar nicht so leicht, im Internet viel über dieses Fontainhas herauszufinden, dem Costa nun bereits vier lange und einige kurze Filme gewidmet hat. Auf aktuellen Stadtplänen und zum Beispiel auch auf Google Maps findet man es nicht. Es handelt sich wohl um ein einstiges Armen- und Einwandererviertel an der städtischen Peripherie, das inzwischen mehr oder weniger komplett platt gemacht worden ist, im Namen des Fortschritts.



So schleichen sich die Geister wieder in den Film, bleiben gleichzeitig aber fast durchweg im Off des Bilds: Das alte, historische Fontainhas spukt durch die neuen, geschichtslosen Räume, die an seine Stelle getreten sind. Und seine ehemaligen Bewohner sind zu lebenden Toten geworden, die von ihren eigenen Erinnerungen heimgesucht werden. Die kaum ausformulierte Erzählhandlung des Films beginnt denn auch damit, dass Ventura ins Krankenhaus muss, weil seine Hände zittern (und wie sie das tun!); Vitalina Varela besucht ihn dort, befindet sich aber eigentlich auf dem Weg zur Beerdigung ihres Mannes. "Aber der", meint Ventura dann, "lebt doch noch, er liegt in einem der Zimmer nebenan."

Der Film möchte diese Frage nicht entscheiden und schlägt sich, anstatt die Lebenden gegen die Toten oder die Toten gegen die Lebenden auszuspielen, ganz auf die Seite der Geister, die auch etwas mit der Kolonialvergangenheit Portugals zu tun haben. In der eindrücklichsten und durchgeknalltesten Szene des Films wird Ventura in einem Aufzug gleich von mehreren körperlosen Stimmen bedrängt - während neben ihm, da wird einer der Geister doch noch materiell und sieht dann aus wie aus einem trashigen B-Film entsprungen, ein Soldat steht, der die Uniform des MFA (Movimento das Forças Armadas) trägt. Das MFA, ein Zusammenschluss linker Offiziere, hatte 1974 erfolgreich gegen das vorher jahrzehntelang regierende faschistische Regime geputscht. Für das alte Fontainhas und auch für Ventura und Vitalina Varela, war allerdings auch in dieser neuen, liberaldemokratischen Welt kein Platz. Costas Film ist vielleicht vor allem anderen ein geisterhaftes, dabei freilich hochemotionales Echo dieses Skandals.

Lukas Foerster

Horse Money - Portugal 2014 - Originaltitel: Cavalho Dinheiro - Regie: Pedro Costa - Darsteller: Ventura, Vitalina Varela, Tito Furtado, Antonio Santos - Laufzeit: 103 Minuten.

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Träumen in Fontainhas

Ich habe geträumt, dass ich nach Fontainhas gefahren bin. Es war ein dunkler Tag, nur ein schwarzer Vogel kreiste am Himmel. Ich musste dieses Armen- und Immigrantenviertel in Lissabon erst finden. Bislang kannte ich es nur aus den Filmen des portugiesischen Filmemachers Pedro Costa. Er selbst hat einmal gesagt, dass er sich eigentlich immer als Poet verstehen wollte. Robert Desnos und Fernando Pessoa spielen eine große Rolle in seinen Filmen. Ein etwas abgewandelter Brief von Desnos hallt wie ein ewiges Echo vergangener Liebe durch "Juventude em Marcha", den dritten Teil von Costas Fontainhas-Trilogie. Costa sagt, dass er Filme mache, um für diejenigen einen Liebesbrief zu schreiben, die selbst zu erschöpft sind oder denen die Worte fehlen.

Auf der Suche nach Fontainhas in dieser Stadt des Lichts kann ich verstehen, warum der in einem ehemaligen Haus von Hans Christian Andersen wohnende Cineast gerne Poet wäre. Der Geruch des Meeres, der Klang der Sprache, die müden, auf vorbeiziehende Segelschiffe spähenden Augen der Bewohner... Costa hat einmal gesagt: "Ich habe viel gesehen." Und er meinte damit das Kino. Was das bedeuten kann, zeigt sich in seiner filmischen Arbeit, die mit der Entdeckung Fontainhas eine entscheidende, wenn auch langsame Wende nahm. Ihren Ausgang nahm sie am Set seines großartigen Films "Casa de Lava", den er unter abenteuerlichen Bedingungen auf den kapverdischen Inseln realisierte. Dort gaben ihm Menschen Briefe, die er zu ihren Verwandten und Freunden in Fontainhas bringen sollte. Costa folgte ihren Wünschen und wie ich in meinem Traum machte er sich auf die Suche nach Fontainhas, ein Viertel inmitten der portugiesischen Hauptstadt, das ihm zwar schon bekannt gewesen war, dessen Kraft er aber erst nach und nach entdeckte.

Sein erster Film dort war "Ossos", benannt nach einem Mann, der so dünn war, dass er nur noch aus Knochen bestand. "Ossos" ist eine zugleich ästhetische und ethische Auseinandersetzung mit dem Fremden, dem Unbekannten. Vieles findet außerhalb unserer Wahrnehmung statt. Hinter verschlossenen Türen und Vorhängen, an anderen Orten. Costa tut in "Ossos" nicht so, als würde er die Menschen verstehen. Auch ästhetisiert er die Armut nicht oder stellt sie aus. Er zeigt uns beständig, dass sein Blick beschränkt ist. Und gerade in dieser Beschränkung offenbaren sich Gefühle und Illusionen, ganz einfach, weil wir seinem Kino glauben können. Die Sinnlichkeit, die auf meinem Weg durch Lissabon greifbar wurde, findet sich in fast jedem seiner Bilder. "Ossos" ist zugleich die melodramatische Geschichte eines Paares, das mit dem gemeinsamen Kind überfordert ist, als auch eine Dokumentation über den Ort. Costa kam als Außenseiter in dieses Viertel. Er fand außergewöhnliche Menschen, die im Film Versionen ihrer eigenen Existenz präsentieren. Zugleich ist das der letzte Film, den er auf 35mm und unter industriellen Produktionsbedingungen realisierte.



Denn mit "No quarto da Vanda" begann Costas eigene digitale Revolution. Er hatte genug von Kabeln, über die er an Filmsets stolperte, genug von den verlorenen Augenblicken, die er aufgrund technischer oder organisatorischer Abläufe nicht festhalten konnte. Er hat das System hinter sich gelassen und sich für seinen zweiten Film mit einer Mini-DV Kamera nach Fontainhas gewagt. Ab jetzt sehen wir nicht mehr Costas Fontainhas, sondern wir erleben es durch die Geschichten und Erfahrungen der Bewohner selbst. Dafür lebte er bei und mit seiner ersten Muse in Fontainhas, Vanda Duarte, die Costa sagte, dass "Ossos" nicht wirklich zeigen würde, was es mit Fontainhas und seinen Menschen auf sich habe. Vielleicht war das auch mein Fehler in meinem Traum, vielleicht war der Fehler, dass ich von Fontainhas träumte, einer Illusion folgte, dem Kino statt der Realität folgte. Der Film folgt haupsächlich Vanda zwischen Gesprächen, Drogen und ihren Jobs. Anders als in "Ossos" sehen wir, was hinter den Türen vor sich geht. Außerdem hören wir den Baustellenlärm einer bereits begonnenen Umsiedlung. In Fontainhas ist es ein wenig wie bei Desnos oder Pessoa. Viele Dinge sind immer kurz vor dem Ende, an der Schwelle. In meinem Traum höre ich ähnliche Geräusche wie in "No quarto da Vanda", ich folge ihnen, aber finde Fontainhas nicht.



Im dritten Teil, der im Offiziellen Wettbewerb in Cannes Premiere feierte, betritt der Prinz von Fontainhas die Welt von Costa: Ventura, gefilmt in der respekteinflössenden Untersicht eines John Fords oder Boris Barnet. Der Film macht einen klaren Schritt in die Abstraktion und die pure Poesie einer politischen Dringlichkeit. Die digitale Ästhetik wird von derart heftigen Schatten durchdrungen, dass man sich nicht sicher ist, ob Costa noch in Fontainhas lebt oder bereits mit den Bewohnern dort träumt. So oder so sind es keine schönen Träume. Es sind Träume des Bedauerns und der Heimatlosigkeit. "Juventude em Marcha" ist unter anderem das brutale Zeugnis einer Umsiedlung, die himmelweit über den Köpfen der Menschen entschlossen und durchgezogen wurde. Die kapverdischen Immigranten werden in Lebensräume gebracht, die mit ihren sterilen und glatten Oberflächen nichts mit ihrer Kultur zu tun haben. Fontainhas stirbt, nein, Fontainhas ist gestorben. Jetzt wird mir klar, warum ich es selbst in meinem Traum nicht finden kann. Ich suche etwas, das es nicht mehr gibt. Vanda arbeitet inzwischen in einem Supermarkt in Deutschland. Sie hat eine Familie. Viele sind gestorben, manche sind verschwunden.

Als ich aufwachte, war ich mir nicht sicher. Es ist schwer zu akzeptieren, dass uns politisches Kino in der Form sinnlicher Liebesbriefe erreicht. Aber womöglich war es nicht falsch, von Fontainhas zu träumen, womöglich ist das ein Ort, der einen über den Traum in eine Realität führt, die man nicht akzeptieren kann.

Patrick Holzapfel

Pedro Costas Fountainhas-Filme sind vom 24.09. bis zum 27.09. im Berliner Kino Arsenal zu sehen. "Horse Money" wird dort am 27.09. als Berliner Premiere vorgeführt. Am 8.10. folgt der deutschlandweite Kinostart.

Die ersten drei Filme der Serie sind bei dem Label Criterion unter dem Titel "Letters from Fontainhas" auf DVD erschienen.