Im Kino

Die Kinder Gothams

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Patrick Holzapfel
30.09.2015. Joshua Oppenheimer wendet sich in "The Look of Silence" noch einmal den indonesischen Massakern der 1960er Jahre zu. Denis Villeneuves "Sicario" ist ein brillanter Thriller mit prekärem Weltbezug.

Eine Familiengeschichte. Im Zentrum steht Adi, ein Indonesier in seinen Vierzigern. Sein Bruder Ramli war im Zuge des Massakers, das die Armee des späteren Diktators Suharto 1956/66 an tatsächlichen oder vermeintlichen Mitgliedern der kommunistischen Partei verübt hatte, ermordet worden. Adi, äußerlich stets ruhig und gelassen, alles andere als ein Schmerzensmann, lebt mit seinen uralten Eltern in ärmlichen Verhältnissen. Die Mutter spricht ruhig, aber bestimmt und unversöhnt über die blutige Vergangenheit. Oft wird gezeigt, wie sie den Vater pflegt. Der ist bis fast auf die Knochen ausgemergelt, kann nicht mehr selbständig laufen, er erinnert sich zwar noch an die Popsongs aus seiner Jugend und kann sie sogar noch nachsingen, erkennt aber kaum noch etwas in seiner gegenwärtigen Umgebung, seine eigene Familie schon gar nicht. Je nachdem, wen man fragt, ist er zwischen 16 und 140 Jahre alt. Wie als hätten die Schrecken der überindividuellen Geschichte die individuelle, biografische Zeit aus den Angeln gehoben.

Adi sucht die Männer auf, die seinen Bruder getötet, oder zumindest dabei geholfen haben. Den meisten scheint es ökonomisch deutlich besser zu gehen als seiner eigenen Familie, aber alle leben sie in der Nachbarschaft, begegnen den Angehörigen ihrer Opfer tagtäglich auf der Straße, erinnern sich an und summen dieselben alten Lieder; auch sein eigener Onkel war, erfährt man später, als Gefängniswärter an den Taten beteiligt war. Da Adi als Optiker arbeitet, hat er einen Vorwand für seine Besuche, er setzt den Tätern Spezialbrillen auf, die zur Kalibrierung von Sehhilfen dienen. Der metaphorische Mehrwert der entsprechenden Filmszenen ist erstmal offensichtlich - oder vielleicht doch gar nicht unbedingt. Schließlich ist das Erschreckende an "The Look of Silence", wie schon am vielbachteten Vorgänger "The Act of Killing", dass die Mörder von damals ganz und gar nicht den Eindruck haben, etwas verbergen zu müssen.

Sie reden ganz offen über ihre Taten, brüsten sich, die atheistischen Kommunisten, die mit den Frauen ihrer Freunde geschlafen, aber nie die Moschee besucht hätten, auf möglichst sadistische Weise ermordet zu haben. Freilich gibt es im neuen Film eine entscheidende Ergänzung, die verhindert, ihn als exotistische Freakshow zu rezipieren und damit von sich selbst wegstoßen zu können: Einmal wird ein ziemlich unfassbarer NBC-Nachrichtenbericht aus dem Jahr 1967 eingeflochten, der zeigt, dass seinerzeit auch im amerikanischen Network-Fernsehen Lynchmorde an Kommunisten wenn nicht gefeiert, so doch ganz unverblümt beschrieben und nonchalant gerechtfertigt werden konnten.


Einer der Täter hat sogar ein Buch über die Ereignisse geschrieben, aus seiner, also der Helden- und Mörderperspektive. Versehen mit Zeichnungen, die er stolz in die Kamera hält. Nur in dieser Episode schließt "The Look of Silence" direkt an "The Act of Killing" an. Der Vorgängerfilm stand ganz im Zeichen der Täter und ihrem in doppelter Hinsicht offensiven Umgang mit der Vergangenheit: Mit Kunstblut und B-Movie-Rhetorik durften sie sich da vor der Kamera des Regisseurs Joshua Oppenheimer entblößen. Im weniger exaltierten, eher melancholisch gefärbten, durch fast schon sediert anmutende Alltagsaufnahmen rhythmisierten Nachfolger gibt es weitaus weniger Schockeffekte. Man lernt zwar, dass menschliches Blut zugleich salzig und süß schmeckt, ansonsten halten Adi wie Oppenheimer den Exhibitionismus der Mörder aber im Zaum. Dennoch geht es, glaube ich, nicht darum, wie manchmal zu lesen ist, die Perspektive umzudrehen - wie sollte das auch gehen, die Toten sind und bleiben tot. Adi ist nicht einfach ein Surrogat für die Toten, eher ist er ein zusätzlicher Aufnahmeapparat, der diesmal zwischen Oppenheimers Kamera und die Täter geschaltet wird und der dadurch die Anordnung grundlegend verändert (zum Beispiel auch: intimisiert). Vielleicht fasst das den Unterschied zwischen den Filmen: Handeln wird durch Sprechen und vor allem durch Blicken ersetzt.

Beide Filme Oppenheimers sind dabei mehr performativ als diskursiv, mehr moralisches Experiment als historische Untersuchung. Das heißt auch: Eher, als dass sie zum genauen Hinschauen, zur Investigation ermuntern, stehen Adis Brillen für den Akt des Blicks selbst. Mehrmals zeigt Oppenheimer, wie sich Adi im Fernsehen jene Reinszenierungen ansieht, in der die Täter ihre Taten noch einmal gestisch nachvollziehen. Den selbstsicheren Blick der Täter in Richtung Kamera interpretiert er als Selbstschutzmaßnahme: Gerade weil sie nicht mit ihrer Vergangenheit klar kommen, wirken sie so emotionslos, vermutet er einmal. Es braucht, lautet dann die Schlussfolgerung des Films, doch noch einen anderen Gegen-Blick als nur den der Kamera. Ein Angehöriger der Opfer tritt den Tätern gegenüber, sie müssen seinen, er muss ihren Blick aushalten. Und tatsächlich verläuft jede Begegnung ein wenig anders - freilich gibt es nur eine einzige Szene, in der sich die Blicke gegenseitig erkennen; kein Täter, aber doch die Tochter eines Täters kann nicht einem Opfer, aber doch dem Sohn eines Opfers in die Augen blicken und um Verzeihung bitten.

Lukas Foerster

The Look of Silence - Dänemark 2014 - Regie: Joshua Oppenheimer - Laufzeit: 103 Minuten.

---


"Sicario" von Denis Villeneuve ist ein drückender testosterongeladener Thriller angesiedelt im mexikanisch-amerikanischen Drogenkrieg, der ein wenig so funktioniert, als würde man die Kinder Gothams anschreien und ihnen sagen, dass Batman in Wahrheit nur gegen das Verbrechen kämpfe, um die kriminelle Welt selbst wieder regieren zu können. Das Erschreckende und Problematische an "Sicario" ist jedoch, dass er sich auf die "echte Welt" bezieht. Daraus ergibt sich ein handwerklich einschüchternder, radikaler Zynismus, der sich in narrativen Klischees verfängt. Es ist ein Film, der eine schwierige Frage an einen Kritiker stellt: Sehe ich ihn mir als einen Genrefilm an oder als einen politischen Film? Als Genrefilm überzeugt "Sicario", in seinem Verhältnis zur Welt nicht.

Im nur scheinbaren Zentrum der Handlung steht die FBI-Agentin Kate Macer (Emily Blunt). Nach einem traumatischen Einsatz in Arizona, schließt sie sich einer Sondereinheit um die undurchsichtigen Matt (Josh Brolin) und Medellín (Benicio del Toro) an, die Jagd auf jenes mexikanisches Drogenkartell machen, das für das Blutbad in Arizona verantwortlich war. Auf den ersten Blick ein klassisches Racheszenario. Doch je länger man dem Film folgt, desto weniger scheint Macer Zugriff auf ihre eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit zu haben. Sie verschwindet in einer Welt der männlichen Arroganz und wird zur machtlosen Zuseherin verdammt. In diesem Sinn ist "Sicario" (spanische für "Auftragskiller") ein Statement über die Machtlosigkeit in einer kaputten Welt. Villeneuve wagt es erfrischenderweise, seine Zuseher zu frustrieren.

Nach und nach erkennt man, dass die Polizeieinheit nicht wirklich nach Vorschrift handelt und dass letztlich nur ein Übel durch das andere Übel ausgetauscht wird. Um es zugespitzt auszudrücken: Macer muss lernen, dass sie nicht nur für die USA als ein illegales Unternehmen arbeitet und nichts dagegen tun kann, sondern auch, dass sie von diesem Unternehmen ausgenutzt wird. Die Moral dahinter ist gefährlich, paradox und eine Frage der politischen Gesinnung. Villeneuve hält sich mit Urteilen vornehm zurück, mal scheint er das Vorgehen zu rechtfertigen, dann zeigt er wieder dessen Brutalität auf schonungslose Weise. Letztlich wirft er Fragen auf, was man ihm hoch anrechnen darf.

Villeneuve gehört zweifelsohne zu den zeitgenössischen Meistern, wenn es darum geht, filmischen Druck aufzubauen. Aus einer ursprünglichen Vielseitigkeit und Experimentierfreudigkeit formte sich konsequent eine Tendenz zum Thrillergenre in seiner bisherigen Filmografie. In seinen Langfilmen "Enemy", "Prisoners" und "Incendies" hat Villeneuve über die Unerträglichkeit von Räumen und Bildern nachgedacht. Bei ihm wird man manchmal so in den Sitz gedrückt, dass man am liebsten ein Fenster im Kino öffnen würde. In Verbund mit zum Teil atemberaubenden Bildern der Kameralegende Roger Deakins und einem pulsierenden Soundtrack erzeugt er diese unheimliche Spannung auch in "Sicario". Man wird weniger in die soziale Realität des mexikanischen Grenzgebiets versetzt, als in den Druck jener, die dort arbeiten müssen. Aus diesem Grund funktioniert "Sicario" als ein Adrenalinstoß, der über vieles hinwegtäuscht.


Die Probleme zeigen sich an anderer Stelle. Zum einen finden sie sich in der Figur von Macer, die von einer angespannten Emily Blunt verkörpert wird und sich nach und nach aus der eigenen Geschichte verabschiedet. So spannend dieser Ansatz ist, und so grandios es ist, dass Villeneuve nicht davor zurückschreckt, ihn anhand einer weiblichen Figur zu verfolgen, so bizarr sind einige diesbezügliche narrative Entscheidungen. So erscheint die eigentlich ausgebildetete und toughe Agentin in manchen Situationen unglaubwürdig naiv und schwach. Sie lässt sich unprofessionell auf einen undurchsichtigen Typen ein, und das ganze psychologische Trauma, das als Vorgeschichte in den Film gepflanzt wurde, erfüllt nur den Zweck, dass man nachvollziehen kann, warum Macer ihre Professionalität verliert. Auch die kurzen romantischen Anklänge zwischen ihr und Medellín haben in einer derart abgezockten Welt nichts verloren. Die Machtlosigkeit verkommt zum bloßen Gimmick in einem schamlosen Unterhaltungsfilm. Vielleicht hätte Villeneuve bei seinem Kollegen Michael Mann nachsehen sollen, wie man menschliche Schwächen mit Professionalität verbindet, statt sie gegeneinander auszuspielen.

Das ist auch deshalb erstaunlich, weil alle anderen Figuren in "Sicario" trotz oder gerade wegen ihrer Undurchschaubarkeit eine enorme Tiefe haben. Josh Brolin besticht als eigenartiger Anführer des Sonderkommandos, er schläft tiefenentspannt auf Reisen, trägt Flip Flops in Verhandlungen, macht unpassende Scherze und aus seinem Gesicht spricht der verlorene Selbstbetrug einer amerikanischen Arroganz, die zynisch tötet, während sie Kaffee schlürft. Eine aufregende Figur, die im Duett mit Russell Crowes Ed Hoffman aus Ridley Scotts "Body of Lies" viel über moderne Kriegsführung erzählen kann. Mindestens genauso eigenwillig ist Benicio del Toro als Medellín, in der vielleicht besten Rolle seines Lebens. Wie Macer wird auch er benutzt, aber man sieht ihm bei jedem Zwinkern an, wie er sich damit arrangiert, um seine eigenen Interessen wahren zu können. Damit steht er zwischen der psychologischen Eigenartigkeit und Abgebrühtheit von Matt und der wütenden Machtlosigkeit von Macer. In seinen Blicken versammelt sich das zynische Anrennen gegen eine unüberwindbare Realität, die den ganzen Film durchzieht.

Auf der Anderen Seite steht die schon erschreckend unzeitgemäße Darstellung der Mexikaner. Gesichtslose Kriminelle werden von einer amerikanischen Welt niedergestreckt, was in sich durchaus schlüssig wäre, da das Niederstrecken ja gerade zur Debatte steht. Aber wenn Villeneuve dann einen mexikanischen Polizisten individualisiert und eine einfallslose, emotionale Familiensituation als Hintergrundstory konstruiert, nur damit dessen Ermordung noch kaltblütiger wirkt, dann darf man sich schon fragen, ob "Sicario" an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema der Drogenkartelle liegt, oder ob es nur um Thrillereffekte geht, die letztlich genau das verkörpern, was sie kritisieren.

Patrick Holzapfel

Sicario - USA 2015 - Regie: Denis Villeneuve - Darsteller: Emily Blunt, Benicio del Toro, Josh Brolin, Victor Garber, Jon Bernthal, Daniel Kaluuya - Laufzeit: 121 Minuten.