Im Kino

Neue Zähne und alte Erinnerungen

Die Filmkolumne. Von Elena Meilicke, Nikolaus Perneczky
23.04.2014. Ann Hui erzählt in "Tao Jie - Ein einfaches Leben" im Modus stiller Heiterkeit vom unausweichlichen Tod. "The Invisible Woman" von Ralph Fiennes übersetzt die Geschichte von Charles Dickens' Geliebter Nelly Ternan in klassische Melo-Affekte.

Ein Wok auf der Gasflamme, in Großaufnahme: erst werden Zwiebeln ins heiße Öl geschoben und hellgelbe Ingwerscheiben, es brutzelt grandios, es spritzt und kracht - bis langsam fette Brühe hinzugegossen wird und Ruhe einkehrt. Eine Hand streut großzügig Chilis und Gewürze in den großen Topf, die kleinen Teilchen kreisen in wilder Bewegung, bis, noch langsamer, ganz vorsichtig, ein dickes, unförmiges, grau-braunes Stück Fleisch in den Wok gegeben wird: Ochsenzunge, Hongkong-Küche.

Die hier kocht und deren hausfrauliche Arbeit der Film so interessiert und in aller Ausführlichkeit zeigt (für einen kurzen Moment musste ich an Chantal Akermans "Jeanne Dielman" denken), heißt Ah Tao (Deanie Yip): über 70 ist sie, Haushälterin, ohne Mann oder Kinder. Ihr ganzes Leben lang hat sie für die Familie Leung gearbeitet, die mittlerweile nach San Francisco emigriert ist. Nur Sohn Roger (Andy Lau), ein Filmproduzent, lebt noch in Hongkong, ihm führt Ah Tao jetzt den Haushalt, er hat sich die Ochsenzunge gewünscht. Als Ah Tao einen Schlaganfall erleidet, kehren sich die Fürsorge-Verhältnisse um: Ah Tao kommt in ein Pflegeheim, und Roger muss sich fortan um sie kümmern.

Das hört sich nach Problemfilm an, ist unter der Regie von Ann Hui aber keiner geworden: Ah Taos Übersiedlung ins Altersheim geschieht ohne größere Schwierigkeiten, das Heim ist auch kein Hort von Missbrauch und Vernachlässigung, Roger dafür ein treuer und loyaler Ersatz-Sohn. Es gibt keine nennenswerten Konfliktlinien, keine plötzlichen Glückswechsel oder markanten Charakterentwicklungen, nichts also von alledem, woraus Plots normalerweise zusammengeschustert werden: "Tao Jie - Ein einfaches Leben" mäandert auf angenehme Weise ruhig vor sich hin und hat Muße für den ereignisarmen Fluss des Alltäglichen, der Ah Taos letzte Monate oder Jahre ausmacht, so genau weiß man das nicht: es gibt eine Filmpremiere und ein Familientreffen, neue Zähne und alte Erinnerungen.


Erzählt wird das in einem Modus stiller Heiterkeit, kleine Scherze poppen auf und ab wie bunte Bojen auf ruhiger Meeresoberfläche: der unscheinbar gekleidete Roger etwa wird immer wieder mit einem Handwerker oder Taxifahrer verwechselt - ein Gag, der vor allem über die Diskrepanz zur Superstar-Persona von Andy Lau funktioniert. Ein alter Mann im Heim schnorrt ständig Geld, um es dann in Prostituierte zu investieren - auch er wird gespielt von einer Hongkonger Schauspiellegende, Paul Chun. Allein durch seine Besetzungsliste ist "Tao Jie - Ein einfaches Leben" eine augenzwinkernde Liebeserklärung an das Hongkong-Kino und seine Filmindustrie: Hauptdarstellerin Deanie Yip (die für ihre Darstellung von Ah Tao einen Preis in Venedig gewann und oft so lebendig, trotzig und kokett wie ein kleines Mädchen wirkt) ist eine Institution dieses Kinos, Andy Lau sowieso, dazu kommen eine ganze Reihe lässiger Cameo-Auftritte, leidlich motiviert durch Rogers Job als Filmproduzent: Action-Regisseur Tsui Hark taucht gleich zu Beginn auf, später auch der Filmemacher Ning Hao aus der Volksrepublik (Ah Tao warnt ihn vor den Gefahren des Rauchens, aber er versteht kein Kantonesisch) oder ein kleines Cantopop-Sternchen namens Angelababy.

Trotzdem: Letztlich erzählt "Tao Jie - Ein einfaches Leben" von abnehmenden Kräften und nachlassender Gesundheit, vom Tod, der unausweichlich ist. Eher unausgesprochen schwingt hinter der Heiterkeit ein Grundton von Melancholie und Vergänglichkeit: Ah Tao repräsentiert ein Ethos der Selbstaufopferung und Fürsorge, ein Wissen auch, eine Kultur und Erfahrung (über die Zubereitung von Speisen etwa, die Kunstwerken ähneln), die mit ihr vergehen werden. Und ein starkes Gefühl von Einsamkeit und Unbehaustheit ist da: immer wieder geht es um die Auswanderung und Migration, es gibt kaum eine Lebensgeschichte in "Tao Jie - Ein einfaches Leben", die nicht davon berührt wäre. "Tao Jie - Ein einfaches Leben" ist kein übermäßig sentimentaler Film und diktiert seinen ZuschauerInnen nicht, wie sie fühlen sollen - ich hab' am Ende trotzdem geheult.

Elena Meilicke

Tao Jie - Ein einfaches Leben - Hongkong 2012 - Originaltitel: Tao Jie - Regie: Ann Hui - Darsteller: Deannie Yip, Andy Lau, Hailu Qin, Fuli Wang, Tsui Hark - Länge: 117 Minuten.

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"The Invisible Woman" ist der Titel von Claire Tomalins biografischer Spekulation über Nelly Ternan, die Geliebte von Charles Dickens. "Spekulation" deshalb, weil kaum persönliche Zeugnisse erhalten sind: Dickens warf seine Tagebücher Jahr für Jahr ins Feuer und ließ jeden potenziell inkriminierenden Briefwechsel, den er in die Finger bekam, verschwinden; der Rest von Nelly und Dickens' Korrespondenz wurde, mit wenigen Ausnahmen, von ihren Nachkommen vernichtet. Die Indizien, die Tomalin in ihrem Buch zusammentrug, wiegen dennoch schwer. Auf ihrer Grundlage hat die erprobte Drehbuchautorin Abi Morgan - nach Steve McQueens "Shame" vor allem mit historischem Qualitätskino bzw. -fernsehen befasst - das Script zu Ralph Fiennes' zweiter Regiearbeit geschrieben. Der melodramatisch leuchtende Titel von Tomalins Buch wurde beibehalten: "The Invisible Woman", so könnte auch ein vergessener Film von Max Ophüls heißen.
 
Tatsächlich zieht Fiennes nach dem (gelinde gesagt) durchwachsenen Shakespeare-Update "Coriolanus" von 2011 nun ausgesprochen romantische Saiten auf. Gleich zu Beginn begegnen wir Nelly als schwarzem Schemen, der sich, das Rauschen der Brandung im Ohr, durch ein windgebeuteltes Strandtableau kämpft. Dann sind wir plötzlich ganz nah bei ihr, wie sie vor irgendetwas davonzulaufen scheint. Ihre innere Erschütterung setzt sich nahtlos fort in der äußeren des Bildausschnitts. Just als beide zur Ruhe kommen, wirft Nelly einen Blick zurück über die Schulter - und es öffnet sich eine Rückblende auf ihre illegitime Liebschaft mit dem großen englischen Autor.
 
In solchen, perfekt getimten Ausdrucksbewegungen beschwört "The Invisible Woman" klassische Melo-Affekte, denen Felicity Jones in der Titelrolle indes neue Intensitäten abgewinnt. Erzählt wird die Geschichte von Dickens und Nellys Beziehung aus der Perspektive des gerade volljährigen Mädchens, dem Dickens bei den Proben zu Wilkie Collins' "The Frozen Deep" begegnete - gebrochen aber durch die Perspektive der erwachsenen Frau. Nicht nur die Chronologie der Ereignisse wird dadurch modifiziert, sondern auch und vor allem deren Komplexion: Über das emphatische Jetzt des Historienfilms legt sich eine Aura der nachträglichen Vergeblichkeit.


Nellys Unsichtbarkeit ist das Gegenstück zu Dickens' Leben im Lichte der Öffentlichkeit. Die hunderten Zuhörer einer Lesung, die gebannt auf den kleinen Mann allein auf der Bühne starren; der Menschenpulk, der sich um ihn bildet, wenn er auf der Straße erkannt wird: diese Art von Berühmtheit, die an totale Ausgesetztheit grenzt, wird in Fiennes Inszenierung als Prototyp des modernen Stardaseins kenntlich. Auch die Abhängigkeit Dickens' von seinem Publikum deutet in diese Richtung. So wie Fiennes ihn spielt, ist er tatsächlich mehr Schau- denn Schriftsteller. Und in der Immersionserfahrung, die Nelly auf besagter Lesung macht, steckt nicht zufällig eine Ahnung vom Kino.

Nellys Unsichtbarkeit findet ihre Entsprechung in einem ständigen Halbdunkel, in das der Film getaucht ist, vor allem in den Innenräumen, wo es den historischen Stand der Beleuchtungstechnik akkurat widerspiegelt, zugleich aber auf die Geheimniskrämerei verweist, zu der Dickens und Nelly sich aus Rücksicht auf viktorianische Sitten genötigt sahen: Bei Kerzenlicht und im Flüsterton werden sie sich (auch im biblischen Sinn) erkennen.
 
Vom planlos-ungelenken "Coriolanus" zu den aufwändigen Tableaus und sorgfältigen Motivverkettungen von "The Invisible Woman" ist es ein weiter Weg. Fiennes hat sich nach allem Anschein zu einem stilbewussten und geschmackssicheren Regisseur gemausert, vom falschen Bauch und der Nasenprothese, die seinen Dickens zieren, einmal abgesehen. Vielleicht sogar ein wenig zu sicher - ein bisschen Akademismus atmen die penibel kadrierten Bilder schon. Andererseits leistet sich Fiennes eine Deflorationsszene, die dem betulichen Schattengewese ein Schnippchen schlägt, indem sie anatomische Details ohne falsche Scham kurzerhand hörbar werden lässt.

Der größte Trumpf des Films ist aber seine Hauptdarstellerin. Aus einer Figur, die höchstens gut geschrieben ist, macht Felicity Jones ein Ereignis. Ob er mit seinem Leben zufrieden sei, fragt sie Dickens an einer Stelle. Worauf diese Frage anspielt, ist seine Berühmtheit, die ständige Aufmerksamkeit, nach der er giert. Aus Jones' Mund reicht der Satz jedoch weiter. Ihre Empörung, ihre Herausforderung geht alle an: "Do you like this life?"

Nikolaus Perneczky

The Invisible Woman - GB 2013 - Regie: Ralph Fiennes - Darsteller: Felicity Jones, John Kavanagh, Tom Atwood, Kristin Scott Thomas, Ralph Fiennes, Susanna Hislop - Laufzeit: 111 Minuten.