Im Kino

Mechanismen der Elendsbeschreibung

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Thomas Groh
24.03.2010. Lee Daniels Film "Precious" über eine fettleibige, missbrauchte 16-jährige Schwarze kommt seiner Hauptfigur erstaunlich nahe, lässt aber auch nur ein Gefühl zu: Mitleid. In Pierre Morels rassistischem Machwerk "From Paris with love" knallt ein glatzköpfiger John Travolta im Dutzend Bösewichter ab, die nur eins gemeinsam haben: Sie sind nicht weiß.


Harlem, 1987: Die 16 Jahre alte Claireece Precious Jones (Gabourey Sidibe) ist schwarz, von enormem Leibesumfang, emotional zurückgezogen und des Lesens kaum mächtig. Mit ihrer gehässigen und gewalttätigen Mutter (Mo'Nique) lebt sie im Elend, ihr Vater hat sie jahrelang missbraucht, sie nunmehr zum zweiten Mal geschwängert und darüber hinaus mit dem HI-Virus angesteckt. In ihren Tagträumen, in der Regel zwischen zwei Hänseleien oder Demütigungen, imaginiert sie sich als gefeierten Star und Gospelsängerin. Bald rutscht sie in ein Erziehungssonderprogramm - Schularbeiterin, Lehrerin und Sozialarbeiterin versuchen, einen Zugang zu dem Mädchen zu finden, um sie aus der sozialen Verwahrlosung herauszuziehen.

Aus seinem überkonstruierten Schematismus macht "Precious - Das Leben ist kostbar" in seiner unwahrscheinlichen Häufung biografischer Katastrophen kaum einen Hehl: Die Mechanismen der Elendsbeschreibung klicken reibungslos ineinander ein. Die Elendsporno-Karte ist deshalb schnell gezückt, in den USA begleitete - angestachelt durch eine Brandkritik des Filmkritikers Armond White - ein Streit in cinephilen Kreisen, ob es sich bei "Precious" nur um eine Anhäufung krypto-rassistischer Klischees handele, den Festival- und Kinohype des Films, der zuletzt so erfolgreich wie zwangsläufig in zahlreiche Oscarnominierungen mündete. Auf der anderen Seite sind die Apologeten längst versammelt, die "Precious" in naheliegendster Verbalakrobatik als "Kostbarkeit" des aktuellen Filmbetriebs meist schon deshalb bejubeln, weil Hauptdarstellerin Gabourey Sidibe darin selbstbewusst zu ihrer Fettleibigkeit steht und der Film den Zuschauer mit festem Griff zu dem beruhigenden Gefühl zwingt, zu den guten Menschen zu gehören.



Die Sache ist kompliziert. Zum einen, weil "Precious" das Elend, das er schildert, gewiss nicht als Exploitation-Kino mit Arthouse-Deckmäntelchen verkauft. Regisseur Lee Daniels traut seinem Publikum ganz ohne pathetische Elendssuhlerei die Erkenntnis zu, dass Precious' Erfahrungen schreckliche sind. Von der Warte des Para-Mainstreams betrachtet, den das auf Festivals zugeschnittene US-Independentkino heute darstellt, funktioniert "Precious" erstaunlich gut: wenn schon nicht als soziologische Analyse, so doch als subjektivierte Annäherung an eine beschädigte Person, die sich zwar zaghaft emanzipiert, dem Zuschauer schlussendlich aber fremd bleibt. Und Rassismusvorwürfe greifen angesichts des sozial aufgefächerten, fast durchgängig schwarzen Ensembles auch nicht so leicht.

Vorwerfen kann man dem Film allerdings, dass er dem Zuschauer kaum Raum für Reflexionen lässt. Man soll, behutsam zwar, aber dennoch: mitleiden, sich mit Precious empathisch gemein machen. Nicht, dass an Empathie etwas grundsätzlich faul ist, doch entlässt einen "Precious", als vor allem gut gemeinter Film, keinen Augenblick aus diesem Klammergriff, es sei denn um den Preis, sich verdächtig zu machen. Daraus spricht eine Konzeption des Kinos, die ihrerseits zumindest verdächtig ist: Kino als Gefühlsmaschine, in der sich ein besser gestelltes Publikum (an das sich "Precious" sehr unzweifelhaft richtet) im stillen Einvernehmen mit der Produktion der eigenen Gefühlsbefähigung versichert, ohne soziale Verbindlichkeiten eingehen zu müssen.

Kaum problematisiert wurde bislang ein vielleicht ganz entscheidender Aspekt: Die Überindividualisierung des Leids. Dass Precious eine Art Mädchen mit dem Streichholz ist, dem alles genommen und darüber allerdings die Hoffnung gegeben wird, mag zwar der latenten Märchenlogik des Films geschuldet sein. Zugleich macht dies aus ihr eine Art Schicksalsträgerin: Das sozial bedingte Leid übersetzt sich in eine Art bürdenhaftes Martyrium. Im "Finale" - für das Mo'Nique ihren Oscar als beste Nebendarstellerin hauptsächlich erhalten haben dürfte - schimmert zwar kurz die Ahnung auf, dass die Beschädigungen, die Precious angetan wurden, wiederum auf Beschädigungen fußen, die der Mutter angetan wurden, dass Gewalt und Elend sich also nicht schicksalhaft versammelt, sondern Strukturen folgt. Doch gerade für diese Bruchstelle, an der es dann wirklich spannend werden könnte, interessiert sich "Precious" viel zu wenig und kurz vor Abspann auch viel zu spät.

Thomas Groh

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Charlie Wax (John Travolta, hier mit Glatze) ist der prototypische hässliche Amerikaner, einer, der schon Minuten nach seiner Einreise, an der Flughafen-Gepäckkontrolle, zu pöbeln beginnt und dann im Folgenden, wie er immer wieder stolz verkündet, pro Stunde im Schnitt mindestens einen Bösewicht abknallt. Dass diese Bösewichter allesamt dunkle Haare und Hautfarben haben, muss er dabei nicht erst erwähnen. James Rheece (Jonathan Rhys Meyer), ein Naivling, dem sein Bürojob zu langweilig geworden ist und der deshalb nebenbei für die CIA zu spionieren begonnen hat, ist zunächst ein weit weniger hässlicher Amerikaner, ist elegant gekleidet, spielt Schach und hat eine französische Freundin. Worum es dem Film geht: auch aus diesem James Rheece einen hässlichen Amerikaner zu machen. Gemeinsam sollen Wax und Rheece einen Terroranschlag vereiteln. Wax zeigt, wie man das macht: erst schießen, dann fragen, vor allem, wenn das Gegenüber Zeichen ethnischer Differenz zu einem selbst trägt. Das funktioniert bei chinesischen Drogenhändlern genauso wie bei messerschwingenden Straßengangs, in den Banlieus ("In Paris, I thought, shitholes would be nicer") ebenso wie auf großen internationalen Empfängen. Und irgendwann muss man dann zur Panzerfaust greifen.

"Millions of lives are at stake!" So heißt es in der Fernsehserie "24" schon seit Jahren. Ein genialer Plotkniff fürs neofaschistische Filmschaffen, denn wenn "Millionen Menschenleben auf dem Spiel stehen" - eine Abstraktion, die in keiner Weise mehr in irgendeiner sozialen Realität verankert werden muss - ist alles erlaubt. Agent Jack Bauer darf Verfassung Verfassung sein lassen und foltern, was das Zeug hält, Agent Charlie Wax, der es nicht so mit dem Foltern hat, aber nur, weil das Foltern für den Folterer einen Triebaufschub beinhaltet und seine Lebensmaxime, wenn er denn überhaupt eine hat, die möglichst unmittelbare Triebbefriedigung ist, darf einen dunkelhäutigen Bösewicht pro Stunde abknallen. Ein Film wie "From Paris With Love" braucht gar keinen explizit rassistischen Diskurs mehr, weil er völlig unreflektierter Teil eines rassistischen Imaginären ist.



Luc Besson, seit Jahren König des Euro-Trashs, produziert, Pierre Morel führt - sehr souverän - Regie. Gemeinsam war das Team Besson / Morel letztes Jahr für den Überraschungserfolg "96 Hours" verantwortlich, der die Struktur auch für den Nachfolger vorgibt: Amerikaner räumen in Paris auf. In "96 Hours" musste Liam Neeson seine Tochter retten, die während ihres Europatrips bereits auf dem Pariser Flughafen in die Fänge eines Menschenhändlerrings geraten war, jetzt geht es eben um und gegen Terroristen. Seltsamerweise ist dieser zweite Film, vom Tonfall her weit weniger finster und genretechnisch wohl als Actionkomödie in der Nachfolge der "Leathal Weapon"-Filme zu klassifizieren, in politischer Hinsicht gleich noch einmal um einiges übler ausgefallen. In "96 Hours" war die (durchaus auch da schon primär ethnisch motivierte) Paranoia, die hinter dem Projekt stand, noch als solche zu erkennen, wenn Neeson in die barocken Tiefen des Menschenhändlerrings vordringt. In "From Paris with Love" dagegen tarnt sich die Verschwörung als Alltag und ist nur noch an ihrer nicht-weißen Hautfarbe zu erkennen. Der "Humor" beschränkt sich derweil von Anfang an auf Travoltas dumme Sprüche...

"From Paris With Love" ist ein dynamischer, gut gemachter B-Actionfilm, wie man ihn in Amerika schon seit längerem kaum noch produziert: Das Timing stimmt, die Verfolgungsjagden sind großartig und in topografischer Hinsicht hat der Film durchaus ein Bewusstsein für den Ort, an dem er spielt. Unprätentiöses Bewegungskino, gegen das nichts einzuwenden wäre, dem man sogar äußerst gewogen sein könnte, wenn es denn wenigstens ein klein wenig Geist enthalten würde, ein wenig Bewusstsein für die Komplexitäten dieser Welt und für das, was es selbst aus ihnen macht - und sei es nur ein Bewusstsein der Art, wie es sich in den alptraumhaften Stilisierungen aus "96 Hours" eher gegen den Willen der Filmemacher artikuliert. Nicht viel wäre nötig, aber doch wenigstens irgend etwas, das über "When I say 'shoot the fucker', shoot the fucker!" hinaus reicht.

Lukas Foerster

Precious - Das Leben ist kostbar. Regie: Lee Daniels - Darsteller: Gabourey Sidibe, Mo'Nique, Aunt Dot, Paula Patton, Mariah Carey, Lenny Kravitz, Sherri Shepherd, Stephanie Andujar, Chyna Layne - USA 2009 - Länge: 109 Minuten

From Paris with Love. Regie: Pierre Morel - Darsteller: John Travolta, Jonathan Rhys Meyers, Kasia Smutniak, Richard Durden, Amber Rose Revah, Melissa Mars, Farid Elouardi, Chems Dahmani, Frederic Chau, David Clark - Frankreich 2009 - Länge: 93 Minuten