Im Kino

Gerade die Gerechtigkeit

Die Filmkolumne. Von Rajko Burchardt, Ekkehard Knörer
29.10.2014. Eine Versuchsanordnung von beklemmender Sachlichkeit, trotzdem nicht ohne Hoffnung: "Zwei Tage, Eine Nacht", der neue Film der Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Der amerikanische Independentregisseur Ti West beweist derweil mit "The Sacrament" seine Lust an der Irritation.


Marion Cotillard ist Sandra. Sandra will nach einer Auszeit wegen Depressionen zurück in ihren Job. Sie arbeitet bei einer kleinen Solarfirma und muss erfahren, dass ihre Arbeitskraft nicht mehr gebraucht wird. Auf dem Solarmarkt konkurriert man mit China, die Lage ist hart. Der Chef hat die Kolleginnen und Kollegen vor eine Alternative gestellt, sie sollen entscheiden: Er könnte Sandra entlassen, dafür bekäme jeder von ihnen eine Prämie von 1000 Euro. Das ist viel Geld. Die Abstimmung fällt eindeutig aus: Die 16 Kolleginnen und Kollegen wollen mehrheitlich nicht Sandra, sondern die Prämie. Juliette, eine Kollegin und Freundin, drängt Sandra, eine erneute Abstimmung herbeizuführen, weil der Chef bei der vorangegangenen zu manipulativ vorging. Das wird gewährt. Sandra hat ein Wochenende - zwei Tage, eine Nacht - Zeit, die Kolleginnen und Kollegen auf ihre Seite zu bringen. Am Montag fällt die definitive Entscheidung.

Das ist die Ausgangssituation, und sie hat die Klarheit und Künstlichkeit einer Versuchsanordnung. Jean-Pierre und Luc Dardenne, die Leiter des Experiments, stellen ein paar weitere Parameter ein, vor allem in Sandras privatem Umfeld: Sandra hat nicht nur die Freundin Juliette, sondern auch einen Mann, Manu, und zwei Kinder. Der Mann ist kampfbereit, solidarisch, unterstützt sie, treibt sie an, ihretwegen, der Sache wegen. Er ist beinahe so etwas wie ein Trainer beim Boxen. Sandra zieht in den Kampf, klingelt an einer Tür nach der andern, fragt, fleht, versteht, trifft auf Ablehnung oder Verständnis, auf Offenheit und Verdruckstheit, steckt Schläge ein, teilt keine aus, und kehrt nach jeder Runde ins gemeinsame Haus wie in die Ecke des Boxrings zurück. Dort wartet Manu, fächelt ihr Luft zu, tröstet sie in ihrer Schwäche und ihrer Verzweiflung, und treibt sie erneut an.



Eine Tür nach der andern. Der Film zieht das durch. Er lässt selbst nicht nach. Verzweifelte Sturheit wird Form: Wieder und wieder steht Sandra vor einer Tür. Wieder und wieder erklärt sie die Lage. Und sie bekommt Antwort. Von Timur auf dem Fußballfeld, der vor Scham fast zusammenbricht. Von Anne, die will, aber nicht darf, weil ihrem Mann das Geld wichtiger ist. In der Serie spielt das Drehbuch beinahe alle denkmöglichen Reaktionsformen durch. Ablehnung, Zögern, Brutalität, Scham, Ausweichen, Nachdenken, die Zerrissenheit zwischen Not und Gebot. Zwar läuft es hinaus auf die Bilanz, zwar muss Sandra neun ihrer sechzehn Kollegen dazu bringen, sich auf ihre Seite zu stellen, zwar bezieht der Film aus der Frage danach, ob es reicht oder nicht, seine geradezu thrillermäßige Spannung.

Eigentlich aber will diese Versuchsanordnung auf etwas anderes hinaus: Sie individualisiert. Sie zerlegt eine geradezu überscharf gestellte ethische Frage - Geld oder Solidarität - in Einzelschicksale. Auch darum schaltet der Film die Frage in Serie, gibt einer Kollegin, einem Kollegen nach dem anderen ein je unterschiedliches Gesicht. Jede hat ihren Grund. Jeder Fall hat Gewicht. Nicht nur insistiert Sandra, präsentiert wieder und wieder ihre Situation; auch der Film insistiert: Urteile jedes Mal wieder selbst. Man kann auch jene verstehen, die die Prämie vorziehen, die sich nicht erweichen lassen; fast alle führen sie den Kampf um die richtige Entscheidung auch mit sich selbst.

Ästhetisch ergibt sich aus dieser Konstellation eine eigentümliche Verschränkung von Sozialrealismus, Ethik und (eher molekularer) Sozialphilosophie, starker Plotkonstruktion, Thrillerspannung und emotionaler Identifikation mit der Protagonistin Sandra. Eine in mancher Hinsicht sehr gefährliche Mischung. Alles steht und fällt mit dem Tarieren der Gewichte. Schon mit der Wahl Marion Cotillards gerät ein solches Gefüge potenziell aus der Balance: Ist der Fall nicht klar, muss nicht jeder sie lieben? So wird sie ins Normale gedimmt. So weit es geht, zeigt der Film die potenzielle Solararbeiterin im Oscar-Star. Und ja: Es geht, und es geht nicht. Aber da kommt die offen ausgestellte Didaktik zu Hilfe. Der Film will nicht Realität suggerieren, sondern einen (nicht unwahrscheinlichen) Fall demonstrieren. Er ist auch eine philosophische Untersuchung, die die typischen Züge einer denkbaren Anordnung zeichnet, die übertreiben und vereinfachen, die aber nicht falsch vereinfachen darf.



Und sie vereinfacht nicht falsch, denn sie stößt auf etwas Irreduzibles: das konkrete, in die Entscheidung gestellte Individuum. Darum ist es so wichtig, dass eine jede Kollegin, ein jeder Kollege ein Gesicht hat, einen inneren Kampf und seine Gründe. Das ist der Unterschied zu "Rosetta", dem Film, der die Dardennes vor fünfzehn Jahren auf einen Schlag berühmt gemacht hat: Da hatten sie ein ästhetisches Verfahren gefunden (nicht erfunden), das die totale Konzentration auf die Protagonistin in eine kamerakörperliche Identifikation übertrug. Zug um Zug haben sie ihre Filme und auch die Kameraarbeit seither in eine weniger beklemmende Sachlichkeit objektiviert.

Mancher beklagt das, und in der Tat treten die konventionellen Züge, der Experimentalanordnungscharakter und die ingeniösen Plotkonstruktionen nun stärker hervor. Gerade dadurch gewinnt das Dardenne-Kino aber auch eine neue und größere Transparenz: Die Setzungen, die sie schon immer vornahmen, sind nicht länger verdeckt. Nicht verändert hat sich ihr grundsätzlicher philosophischer Optimismus, der weniger Naivität geschuldet ist als einem ausdrücklichen, weniger analytischen als sehr gezielt gesetzten Dennoch. Es gibt keinen Grund, die Hoffnung ganz fahren zu lassen, auch wenn es stets kompliziert ist. Als Satz klingt das platt. Wenn man es in einem Dardenne-Film vor Augen geführt bekommt, ist es das nicht. Darum sind die Enden so wichtig. Happy Endings sind sie nicht, aber sie schließen nie die Tür zu einem möglichen glücklichen Ausgang. Sie bewahren die Komplexität der entfalteten Experimentalsituation nach Möglichkeit auf.

Sozialphilosophie ist nicht Politik. Politische Filmemacher sind die Dardennes tatsächlich nicht. Sie stellen Fragen und zeigen Geschichten, in denen die Politik vor allem als Implikation präsent ist. Es fiele nicht schwer, aus der Entsolidarisierung, die "Zwei Tage, eine Nacht" als Lage der Dinge vorführt, auf die Notwendigkeit etwa eines Betriebsrats auch bei kleinen, in die Konkurrenzsituation mit China gestellten Firmen zu schließen. Natürlich enthält ein Film wie dieser potenziell scharfe Kritik an einer gesellschaftlichen Lage, die unerträgliche Notsituationen wie die vorgeführte nicht nur erlaubt, sondern mit ebenso zwingender Logik hervorbringt wie sie Solidarität untergräbt. Gerade die Insistenz, mit der die Dardennes auf Figuren wie Sandra blicken, gerade die Gerechtigkeit, die sie ihr und ihren Kolleginnen widerfahren lassen, hindert sie, den Blick ins Allgemeine zu heben. Und darum wird Sandra erst mit dem Schlussbild weniger in eine offene Zukunft (das wäre die Lektüre dieses Bilds als Klischee) als in ein dann von anderen als den Dardennes auszubuchstabierendes Allgemeines entlassen.

Ekkehard Knörer

Zwei Tage, Eine Nacht - Belgien 2014 - Originaltitel: Deux jours, une nuit - Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne - Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Catherine Salée, Batiste Sornin, Pili Groyne - Laufzeit: 95 Minuten.

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Wenn "The Sacrament" einen zunächst weniger faszinierenden Eindruck hinterlässt als die letzten Filme seines Regisseurs Ti West, hat das vielleicht mit dessen entschiedener Abkehr vom altmodischen Affekt zu tun. Verstanden sich "The House of the Devil" und "The Innkeepers", die beiden vorherigen, auch hierzulande in Fankreisen viel beachteten Produktionen des US-amerikanischen Independentfilmemachers, noch als stilbewusste Repliken auf ein Horrorkino, das vor allem dem eigenen Neoklassizismus formschön zur Geltung verhalf, erweist sich "The Sacrament" als eine Art ästhetischer Ruhestörer: Er verknüpft den vom Genrekino der vergangenen Jahre großzügig beanspruchten Stil des "Found-Footage"-Films - der sich als unheimlicher Zusammenschnitt vermeintlich realer Aufnahmen ausgibt, die man irgendwo gefunden haben soll - mit den augenzwinkernden Mechanismen falscher Dokumentation, auch Mockumentary genannt. Herausgekommen ist dabei nicht etwa ein Gimmick-Film, schon gar nicht filmstudentisch-ironischer Ulk. Vielmehr scheint Ti West angetrieben zu sein von einer Lust an einem Irritationsmoment, das sich gegen jüngere Horrorfilmkonzepte und deren ausgestellt unzuverlässige Bilder wendet.

Im Mittelpunkt des Films - beziehungsweise des Films, den "The Sacrament" glauben machen will - stehen drei Journalisten des New Yorker Vice-Magazins, die es zu Recherchezwecken nach Südamerika verschlägt. Über einen persönlichen Kontakt ist es ihnen gelungen, die abgelegene Religionsgemeinschaft Eden Parish ausfindig zu machen, deren Oberhaupt - ein patriarchalisch, aber beherzt auftretender Graukopf, der sich schlicht Father nennen lässt - dem Team eine Drehgenehmigung für sein immerhin unter Waffenschutz isoliertes Arial erteilte. Tatsächlich scheinen die jungen Dokumentarfilmer nach anfänglichen Vorbehalten überzeugt von der Friedliebigkeit des Exils, in dem Hundertschaften ausgewanderter US-Bürger ein Leben nahe Gott führen, sich selbst versorgend und scheinbar befreit von technologischen Fortschrittzwängen und politischer Ökonomie. Neben Antirassismus und Obrigkeitsskepsis offenbart die eindringlichste Szene - ein Interview mit dem marktschreierischen Father - allerdings noch andere Beweggründe der buchstäblich verlockenden Lebensalternative, und als dem Vice-Team ein heimlicher Hilferuf übermittelt wird, weiten sich die Risse in der neureligiösen Utopie dramatisch aus. Wer mit den Hintergründen des Jonestown-Massakers von 1978 vertraut ist, mag schon ahnen, auf welches letzte Sakrament die Jünger eingestellt sind.



Jim Jones heißt das reale Father-Vorbild. Er erklärte die im Nordwesten Guyanas gelegene Siedlung Jonestown einst zum Gelobten Land eines "apostolischen Sozialismus", bevor über 900 der insgesamt 1100 Mitglieder des sogenannten Volkstempels ums Leben kamen. Ti Wests zeithistorisch anders verortete, aber ansonsten überwiegend faktentreue Nachstellung der Ereignisse geht von einem Eingriff von Außen aus, der ebenfalls historisch verbürgt ist: Auf Drängen der in den USA verbliebenen Angehörigen reiste der demokratische US-Kongressabgeordnete Leo Joseph Ryan, Jr. im November 1978 von einem Kamerateam begleitet nach Jonestown, wurde aber von den Tempelmitgliedern gleich mitgetötet. Allzu leicht ließen sich Vorwürfe erheben, "The Sacrament" würde das Szenario spekulativ auswerten, in Tradition einschlägiger Exploitation-Klassiker wie "Cannibal Holocaust" vielleicht sogar marginalisieren - wenn nicht das Gegenteil der Fall wäre: "The Sacrament" erscheint als Simulation eines Films, wie ihn sich Ti West über die Geschehnisse vorstellt, wenn sie denn jemals von zweifelhaften Reportern hätten bearbeitet werden können. Und ist damit mitnichten ein Film, der das gelegentlich als Hipsterpostille verpönte Lifestyle-Magazin Vice zu besonderen Ehren bringen würde.

Das demonstrative Investigativ- und Befindlichkeitsgehabe der Protagonisten, die über ihre jeweiligen Gemütszustände stets auch die eigenen Kameras informieren müssen, setzt sich in dem genüsslich-grobschlächtigen Charakter des Films fort, den sie aus dem "geretteten" Material montieren. Sensationalistische Schrifttafeln, verzichtbare Uhrzeiteinblendungen und ein auf vordergründige Spannungsmomente abgestimmter Score des Hans-Zimmer-Protegés Tyler Bates mögen der inszenatorischen Reduktion der bisherigen Filme Ti Wests widerstreben, fügen sich dem unverschämten Konzept von "The Sacrament" jedoch wunderbar: als leiser Spott, mit dem der Regisseur dem ungleich größeren Produktionsvolumen dieses für seine Verhältnisse teuren Films trotzt.

Rajko Burchardt

The Sacrament - USA 2013 - Regie: Ti West - Darsteller: Kate Lyn Sheil, Joe Swanberg, Amy Seimetz, AJ Bowen, Gene Jones, Kentucker Audley - Laufzeit: 95 Minuten.

"The Sacrament" erscheint am 6. November 2014 auf DVD und Blu-ray.

Außerdem diese Woche neu in den Kinos: "Der Samurai" von Till Kleinert. Hier unsere Berlinale-Kritik.
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