Im Kino

Ein bisschen Idylle, ein bisschen Abgrund

Die Filmkolumne. Von Fabian Tietke
21.06.2019. In einer Besserungsanstalt des 19. Jahrhunderts entdecken die Ermittler vom Dezernat Q drei mumifizierte Leichen an einem Kaffeetisch. Mit der vierten Verfilmung eines Jussi-Adler-Olsen-Thrillers bringt Regisseur Christoffer Boe Action ins winterliche Kopenhagen und stellt europäische Sehgewohnheiten auf den Kopf. 

Bei Bauarbeiten in einer leer stehenden Wohnung wird ein Raum hinter einer dünnen Wand entdeckt, die nachträglich in eine Wohnung eingezogen wurde. In dem Raum sitzen drei mumifizierte Leichen um einen Kaffeetisch herum. Ein vierter Platz ist leer. Carl Mørck (Nikolaj Lie Kaas) und Hafez el-Assad (Fares Fares) vom Kopenhagener Polizei-Sonderdezernat Q schnappen sich den Fall - Mørck, um den enervierenden Bewerbungsgesprächen für die Nachfolge von el-Assad zu entgehen, el-Assad, um seine letzten Tage in der alten Abteilung sinnvoll zu verbringen. Über eine der drei Leichen, einen ehemaligen Anwalt, stoßen die beiden auf eine Spur in die Vergangenheit der Toten, die auf ein Mädchenheim auf der Insel Sprogø verweist. Das Heim war eine der "Kellerschen Anstalten", die als "Besserungsanstalt" für auffällige Frauen im späten 19. Jahrhundert gegründet worden war. Später war das Heim Teil einer eugenischen Politik, die sich in den skandinavischen Ländern seit den 1930er Jahren durchgesetzt hatte.

"Verachtung", die vierte Verfilmung eines Thrillers des dänischen Bestsellerautoren Jussi Adler-Olsen, verwebt in gewohnter Manier Gegenwart und Vergangenheit. Die Handlung in der Gegenwart kreist um die junge Nour, eine Bekannte al-Assads, die zu einer Schwangerschaftsuntersuchung just in jene Klinik ging, die der ehemalige Arzt des Mädchenheims unterdessen leitet. Es spricht für das Drehbuch, dass die Mechanik der für den Film arg verknappten Handlung nicht allzu arg klappert. Im Zweifelsfall entscheidet sich das Skript freilich stets für etwas mehr Action als für Plausibilität. Nikolaj Lie Kaas und Fares Fares tun mit ihrer beeindruckenden Verkörperung der beiden schratigen Ermittler ein übriges.


Regie führte Christoffer Boe, der seit den Kurzfilmen seiner Studienzeit und einem Preis in Cannes für den besten Erstlingsfilm 2003 in Dänemark als vielversprechender Regisseur gilt. Die Verfilmungen der Abteilung-Q-Thriller von Adler Olsen sind ein seltsames Hybrid: Im Ausland vor allem im Fernsehen erfolgreich - nicht zufällig produziert das ZDF mit - sind die Filme in Dänemark Blockbuster. Alle vier Abenteuer sind unter den erfolgreichsten fünf Filmen der Geschichte der dänischen Kinostatistik und "Verachtung" brach schon beim Eröffnungswochenende alle Zuschauerrekorde. Am Ende hatten 770.000 Menschen den Film in Dänemark gesehen und ihn zum erfolgreichsten Film überhaupt in Dänemark gemacht. Bis zu sechs weitere Adaptionen sind geplant.

"Verachtung" trägt diesem Erfolg in der visuellen Anlage Rechnung und hat deutlich mehr Kinomomente als seine Vorgänger. Boe baut verstreut über den Film Bilder ein, die zwar illustrativ bleiben, aber über konventionelle europäische Fernsehästhetik hinausgehen. Das beginnt mit der Eröffnungssequenz, in der eine Uferlandschaft auf dem Kopf steht; erst als die junge Nete unter der Kamera durchrennt, folgt ihr diese und stellt das Bild wieder auf die Beine. Am deutlichsten zeigen sich die Ambitionen aber in einer Reihe von Außenaufnahmen: das winterliche Kopenhagen mit fallendem Schnee, ein bisschen Idylle, ein bisschen Abgrund, die Gebäude von außen beim Kommen und Gehen und das Meer vom Schiff aus. Außerdem ist positiv zu vermerken, dass Rose, die dritte im Bunde beim Dezernat Q, sich im Laufe der Bücher und Filme zu einer immerhin beinahe eigenständigen Rolle gemausert hat.

Es lohnt also durchaus, sich "Verachtung" im Kino anzusehen. Wer willens ist, über ein paar kleine Schwächen der Handlung hinwegzusehen, wird mit einem spannenden, actionreichen, visuell gut erzählten Film belohnt. Der Kinostart im Sommer könnte durch den Kontrast mit den Winterbildern gut gewählt sein.

Fabian Tietke

Verachtung - Dänemark 2018 - OT: Journal 64 - Regie: Christoffer Boe - Darsteller: Nikolaj Lie Kaas, Fares Fares, Johanne Louise Schmidt, Søren Pilmark, Fanny Bornedal - Laufzeit: 118 Minuten.