Im Kino

Held im postheroischen Zeitalter

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Jochen Werner
01.12.2016. Während ihm die Arbeiter und Angestellten für seine Wahnsinnslandung auf dem Hudson River noch zuprosten, findet sich Clint Eastwoods Pilot "Sully" im Griff von Überwachungstechnik, Nachrichtendiskurs, Bürokraten und Computersimulationen. Pablo Larraíns "Neruda" ist kein Biopic, sondern ein Künstlerfilm - Annäherung an einen politischen Poeten und einen poetischen Politiker.

"There's a plane in the Hudson. I'm on the ferry going to pick up the people. Crazy."

   -  @jkrums

Als der Pilot Chesley "Sully" Sullenberger am 15. Januar 2009 den US-Airways-Flug 1549 wenige Minuten nach dem Start vom Flughafen La Guardia/NY in Folge eines verheerenden Vogelschlags im Hudson River - erfolgreich! - notwassern musste, stellte dies auch eine, vom marktdurchdringenden Erfolg der Smartphones seit 2007 befeuerte, Urszene von Social Media als Instant-News-Plattform vor allen anderen Medien dar. War der 11. September 2001 noch ein Fernsehereignis, das sich erst in der nachgereichten Aufarbeitung dank Youtube seit 2005 perspektivisch aufgefächert hat, hatte das Fernsehen 2009, beim zweiten großen, wenngleich gottlob glücklichen New Yorker Flugzeugereignis der Nuller Jahre, das Nachsehen. Der auch dadurch angetriebene Wandel der Newsökonomie seitdem ist mit Begriffen der Umwälzung - im Guten wie im Schlechten - gerade einmal so adäquat beschrieben. Seitdem leben wir in den nochmal eskalierteren und akzelerierteren Zeiten der Shareability und Skalierbarkeit.



Man muss sich diese Zäsur tatsächlich kurz in Erinnerung rufen, denn in "Sully", Clint Eastwoods im besten Sinne altmeisterliche Aufarbeitung der Ereignisse vom Hudson River, findet sich davon keine Notiz. Die wenigen ins Bild gerückten Handys sind tatsächlich noch in allererster Linie aufs Telefonieren beschränkte Funktionsgeräte, Nachrichten finden im Fernsehen - oder dessen Extensionen in den öffentlichen Raum, den großen Displays etwa am Times Square - statt. Mit möglichem Altersstarrsinn eines immerhin auch schon 86-jährigen Regisseurs hat das vielleicht gar nicht so viel zu tun, wahrscheinlich handelt es sich sogar wirklich um eine ganz bewusste Entscheidung: "Sully" ist ein vom Beschleunigungsfuror freier, sanft elegischer Film der Rückschau auf einen Punkt in der Geschichte, an dem eine Zeit zu Ende geht.

Eine Rückschau in mehrfacher Hinsicht: Zum einen, was die Zeit vor der umfassenden Durchdringung des Alltags von Social Media betrifft. Nur sieben Jahre liegen zwischen heute und den Ereignissen dieses Films, und doch wirkt der Film fast wie eine Zeitkapsel. Aber auch rein inhaltlich: Das äußerst waghalsige, aber geglückte Flugmanöver vom Hudson River verhandelt Eastwood in Form einer Aufrollung des Faktischen. Denn Sully (Tom Hanks) ist in diesem Film zwar ein Held, dem das Amerika der Arbeiter und Angestellten im Vorbeigehen immer wieder die Ehre erweist, während ihn das offizielle Amerika zur Verantwortung vor einen großen Untersuchungsausschuss zitiert: Wäre die Notwasserung und damit nicht nur ein immenser Versicherungsfall, sondern vor allem auch die akute Gefährdung der Passagiere vermeidbar gewesen? Hätte die Situation es nicht doch hergegeben, sicher auf dem nahen Flughafen in New Jersey zu landen? Der Mensch Sullenberger findet sich wieder im Griff von Überwachungstechnik, Nachrichtendiskurs, Bürokraten und Computersimulationen.



Zunächst wirkt das ein wenig wie die allegorisch verdichtete Konfrontation des zurückliegenden US-Wahlkampfs: Hier das Pathos der kurzentschlossenen Tat, der Wagemut des amerikanischen Machers und Pragmatikers - dort das liberale Establishment mit seinen hemmenden Regeln und Bedenken, die sich mit dem gesunden Menschenverstand des Average Joe, der am Tresen dem Helden vom Hudson River zuprostet, längst nicht mehr in Einklang bringen lassen. Und in mancher, eine Spur zu offensichtlich manipulativ inszenierter Szene ist an diesem Eindruck sicher auch was dran, der sich noch bestätigt, wenn man in der New York Times liest, dass diese Darstellung sich mit der Realität dieser Routineprozedur nicht deckt. Aber selbst wenn sich Eastwood in der Öffentlichkeit zuletzt als breitbeiniger Grantler von altem Schrot und Korn in Szene gesetzt hat, weisen seine Filme doch meist immer noch eine behutsamere, aufrichtig humanistische Facette auf.

Und das nicht nur, weil "Sully" so etwas wie ein heimlicher 9/11-Film ist: Die Ikonografie des terroristischen Anschlags ruft Eastwood immer wieder wie beiläufig auf, etwa in Sullys Albträumen. Anders als die megalomanischen Blockbuster der letzten Jahre, in denen das Bild der Metropolen-Apokalypse längst zum funktionalen Klischeebild und zur lustvoll-explosiven Potenzfantasie geronnen ist, leistet der melancholische Gestus in "Sully" tatsächlich lindernde Arbeit am Trauma: Für einmal werden die Menschen noch gerettet, für einmal zeigt sich im Kleinen noch einmal, was Amerika einst groß gemacht hat: Das gemeinsame Anpacken, der Professionalismus des sicheren Handgriffs, ehrliche Arbeit souveräner Experten, nicht zuletzt der Community-Gedanke: Vom Hawks'schen Professionalismus ist man in "Sully" nie wirklich weit weg. Eastwoods ruhige, fast intime Umsetzung des Stoffs passt sich dem gut an.



Humanistisch ist "Sully" aber auch in anderer Hinsicht, wenn Eastwood den Helden im postheroischen Zeitalter in den Blick nimmt (mit einem zweiten solchen Helden hat sich Eastwood zuvor in "American Sniper" befasst, den ich zwar für grob missglückt halte  - doch könnte es erhellend sein, beide Film aufeinander zu beziehen). "Sully" zeigt Sully als unfreiwilligen Helden, der den kooperativen Aspekt der geglückten Wasserung in den Vordergrund rückt, als einen Helden in einer verwalteten und also kontrollierten Welt, in der Aufzeichnungsmedien stets mitlaufen: Erst die Bodenkontrolle im Tower, die nach einigem Hin und Her by the book die Landung in New Jersey empfiehlt, die Sully in diesem Moment schon für aussichtslos hält, dann die Blackbox im Flugzeug, deren Daten später die Flugsimulatoren füttern, die später über Sullys Schicksal zu entscheiden haben, schließlich das Fernsehen, in dem sich Sully in der Zeit rund um seine Verhandlung, wenn er sich in seiner existenziellen Krise in die Einsamkeit der Nacht New Yorks flüchtet, immer wieder selbst antrifft. Über weite Strecken wirkt "Sully" gerade so, als würde Sully Reißaus nehmen wollen aus den Daten- und Medienströmen, die ihn fest im Griff haben.

Eastwood inszeniert den "Showdown" der öffentlichen Verhandlung denn auch sehr treffsicher als konkrete Auseinandersetzung zwischen einem Subjekt innerhalb einer Maschine, das dessen Anweisungen folgt, und einem außerhalb derselben: Die Teams in den Simulatoren bringen das Flugzeug sicher nach New Jersey - nicht zuletzt, weil sie nicht um echte Menschen bangen müssen und im Vorfeld feststehende Vorgaben leblos abarbeiten. Sully macht demgegenüber den "menschlichen Faktor" der realen, nicht von ihrem Ausgang her bereits bestimmten Situation geltend.

Es ist ein Triumph, den Eastwood frei von jedem Pathos sehr sanft ins Beiläufige verschiebt. Dem kooperativ-besonnenen Amerika der ruhigen Hand, das um sich nicht allzu viel Aufhebens macht, schreibt er damit eine Liebeserklärung. In der Zeit einer ins Egomanische entgrenzten Lagerblock-Politik ist dies beinahe schon wieder ein politisches Statement. Eastwoods bevorzugter Kandidat des letzten Wahlkampfs twittert sich und die Politik der USA derweil allerdings um Kopf und Kragen. Ins Jahr 2009 führt kein Weg zurück.

Thomas Groh

Sully - USA 2016 - Regie: Clint Eastwood - Darsteller: Tom Hanks, Laura Linney, Aaron Eckhart, Sam Huntington, Anna Gunn - Laufzeit: 96 Minuten.

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Die Geschichte von Pablo Neruda ist mehr als die Geschichte eines Dichters. Es ist die Geschichte eines Diplomaten, Politikers, eines Widerständigen gegen den internationalen Faschismus seiner Lebenszeit, als Schreibender, Verleger, in Ämtern und schließlich aus dem Untergrund und dem Exil heraus. In Chile ist Neruda bis heute Ikone und Nationalheld. Ein Film über ihn könnte schnell zur üblichen Hagiographie des konventionellen Biopic geraten. Erfreulicherweise interessiert sich der Regisseur Pablo Larraín nicht im Geringsten für Hagiographisches.

Das konnte man vorher durchaus ahnen, hat sich Larraín doch bereits in einer ungewöhnlichen und brillanten Trilogie mit der blutigen jüngeren Geschichte seines Landes auseinandergesetzt. In die deutschen Kinos hatte es daraus nur der abschließende und eher poppig-optimistische, aber eben auch formal inspirierte Abschlussfilm der Trilogie geschafft: In "¡No!" erzählt Larraín von der demokratischen und letztlich friedlichen Abwahl der Diktatur Augusto Pinochets in Form einer medienarchäologischen Dokufiktion, collagiert aus historischen Originalaufnahmen und mit alten U-Matic-Fernsehkameras aufgezeichneten Spielsequenzen. "Chile, die Freude erwartet uns", so heißt es am Ende - eine frohe Botschaft, die so erst denkbar wird, weil Larraín in den beiden Vorgängerfilmen "Tony Manero" und "Post Mortem" die finstersten Abgründe der Pinochet-Diktatur durchschritten hatte.

Simplistischer Realismus war daher niemals die Sache dieses Filmemachers. Deutlich wird das etwa an "Tony Manero", der seine Psychopathologie des Chile der Pinochet-Jahre durch den Filter einer sehr idiosynkratischen Obsession erzählt. In seinem Protagonisten Raúl kristallisieren die Brutalität und der moralische Bankrott einer Diktatur auf dem Zenit ihrer Macht: Ohne jeden Skrupel tötet er noch für den kleinsten privaten Vorteil. Und trotzdem ist er ein Mann mit einem Traum, dessen höchstes Lebensziel darin besteht, in einer trashigen TV-Show als Tony-Manero-Imitator aufzutreten - als Doppelgänger von John Travoltas ikonischem Discotänzer aus John Badhams "Saturday Night Fever". Diese zwei Seiten einer zutiefst abscheulichen Kinofigur ergeben auf den oberflächlichen Blick nicht einen Sinn, bewirken aber gemeinsam so etwas wie eine chemische Reaktion, die die Monstrosität und Absurdität des historischen Szenarios, vor dem Raúl agiert und dessen Teil er ist, um ein Vielfaches steigern.



Es war also zu erwarten, dass Larraín auch für seine Annäherung an die Ikone Pablo Neruda zunächst einmal nach einer angemessenen Form suchen würde. In der bewegten Biografie des Dichters beschränkt sich "Neruda" auf jene Zeit in den Jahren 1948 und 1949, in der der von der Verhaftung bedrohte Protagonist in Chile im Untergrund lebte. Im Januar 1948 hatte Neruda, seinerzeit im Amt eines Senators für die kommunistische Partei, in einer Rede im Parlament den Präsidenten Gabriel González Videla für die gewaltsame Niederschlagung von Minenarbeiterstreiks und die folgende Einrichtung eines Konzentrationslagers für die festgenommenen Arbeiter aufs Schärfste kritisiert. In der Folge ließ Videla die kommunistische Partei, die ihm als Bestandteil eines überparteilichen Bündnisses zwei Jahre zuvor erst ins Amt verhalf, verbieten und bedrohte insbesondere seinen einstigen Unterstützer und nunmehr radikalsten Kritiker Neruda mit der Verhaftung. Gemeinsam mit seiner Ehefrau ging dieser in den Untergrund, bis ihm dreizehn Monate später die Flucht über die Anden nach Argentinien gelang.

Als (überaus unzuverlässige) Erzählinstanz von "Neruda" etabliert Larraín die fiktive Figur eines jungen Geheimpolizisten (Gael García Bernal), der in Diensten des Videla-Regimes den untergetauchten Dichter aufzuspüren versucht - und sich dabei, zwischen Fakten, Mythen und Projektionen oszillierend, auch auf eine sehr persönliche Reise macht, in der, wie sich am Ende zeigt, nicht nur vieles, sondern schlechthin alles mit Pablo Neruda zu tun hat. Nein, ein Biopic ist das nicht - jedenfalls nicht in dem Sinne, dass historisch akkurat vermeintlich bedeutsame biografische Stationen abgearbeitet werden, womöglich noch in chronologischer Reihenfolge. Vermutlich hilft es sogar bei der Einordnung des Gesehenen, mit ein wenig Hintergrundwissen über die chilenische Geschichte des mittleren 20. Jahrhunderts im Gepäck ins Kino zu gehen, denn für eine historische Beglaubigung seiner Erzählung ist Larraín viel zu sehr an einer grundlegenden Verunsicherung gelegen. Was stattdessen und daraus entsteht, ist ein wahrhaftiger Künstlerfilm - die Annäherung an einen politischen Poeten und einen poetischen Politiker aus dem Geiste von Politik und Poesie heraus.

In die deutschen Kinos kommt "Neruda" erst in einem Vierteljahr - aber immerhin, er hat einen deutschen Verleih. Das trifft auf nicht einmal die Hälfte der Filme aus dem Programm von Around the World in 14 Films zu - einem Festival, das in Berlin nun bereits im elften Jahr jeweils zum Jahresende geballt klaffende Lücken des Kinojahres zu schließen sucht. Das Festival ist gewachsen in dieser guten Dekade, und rund um die titelgebenden 14 Filme aus 14 Ländern sind inzwischen fast noch einmal ebenso viele Special Screenings angeordnet - oft ebenfalls Hochkarätiges und sehnsüchtig Erwartetes aus der internationalen Festivallandschaft. Insgesamt gelingt es Festivalkurator Bernhard Karl auf beeindruckende Weise, im immer umfangreicheren Programm die Balance zu halten zwischen sperrigerem, herausforderndem Festivalkino von Lav Diaz, Cristi Puiu oder Albert Serra und einigen strategisch gesetzten Crowdpleasern - ein Modell zwischen ästhetischer Kompromisslosigkeit und dem Anspruch, ein Publikum zunächst einmal zu erreichen und dann gleichwohl auch immer wieder zu fordern, von dem die prekäre deutsche Kinokultur unbedingt lernen kann.

Jochen Werner

Neruda - Argentinien, Chile, Frankreich, Spanien 2016 - Regie: Pablo Larraín - Darsteller: Luis Gnecco, Gael García Bernal, Mercedes Morán, Diego Muñoz, Pablo Derqui - Laufzeit: 108 Minuten.
  

"Neruda" läuft heute noch einmal beim Festival Around the World in 14 Films in Berlin und ab Februar 2017 offiziell im Kino.