Im Kino

Filmemachen als Hobby?

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster
25.05.2018. Wie lässt sich unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen unabhängiges Filmemachen lebenspraktisch realisieren? Im Gespräch mit Lukas Foerster sucht die Dokumentarfilmerin Sabine Herpich mit Blick auf die ökonomisch prekären Ränder nach einer Antwort.
Im Rahmen seines Siegfried-Kracauer-Stipendiums veröffentlicht Lukas Foerster neben seinem "Konfetti"-Blog bei Filmdienst auch sechs längere Essays. Sein erster Beitrag kreist um die Dokumentaristin Sabine Herpich, deren Filme jenseits traditioneller Verwertungswege ein Publikum suchen.

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Sabine Herpich. Foto: Roland Schäfenacker
Sabine Herpich (Webseite) hat bislang drei lange Dokumentarfilme fertiggestellt. "Neukölln-Aktiv" (2012), ihr Abschlussprojekt an der HFF Potsdam-Babelsberg, drehte sie gemeinsam mit Gregor Stadlober. Im Jahr 2014 entstand in Zusammenarbeit mit Diana Botescu der Film "Zuwandern", zwei Jahre später "David" (2016). So unterschiedlich die Filme sind, formen sie sich doch zu einem in Deutschland einmaligen, aber bislang leider weitgehend unsichtbaren Werk.

Der Debütfilm "Neukölln-Aktiv" ist ein Institutionenporträt. Der Titel bezieht sich auf den Namen einer unter anderem vom Berliner Jobcenter geförderten so genannten Aktivierungsmaßnahme mit dem Ziel, jungen Männern "mit vielfältigen Schwierigkeiten" (so ein Flyer des Programms) einen Schulabschluss zu ermöglichen oder einen Ausbildungsplatz zu vermitteln. "Aktivieren" heißt in diesem Zusammenhang: miteinander reden. Noch deutlicher als die späteren Filme ist "Neukölln-Aktiv" ein Film über Sprechen. Nicht über Sprache als ein abstraktes System (langue), sondern über ihren Gebrauch (parole).

Interessant sind dabei gerade die Redundanzen, der vermeintliche Noise, alles das, was über Informationsvermittlung hinausweist. Eine wiederkehrende Grundsituation des Films ist das rekapitulierende Gruppengespräch: Reihum sollen die Teilnehmer an Neukölln-Aktiv die letzte Woche Revue passieren lassen. Man kann in diesen Szenen beobachten, wie schwer es ist, dem eigenen Leben eine Form zu geben. Und wahrnehmen, dass die Antwort beziehungsweise die ausbleibende Antwort auf eine simple Frage wie "Was haben wir am Montag gemacht?" im Zweifelsfall mehr von der Welt offenbart als eine hochtrabende politische Analyse.

Auch in "Zuwandern" spielen Institutionen eine wichtige Rolle. Im Zentrum steht allerdings eine Familie: Marina Carmen und Nicolae George Badea und ihre drei Kinder. Die Rumänen sind erst seit kurzer Zeit in Deutschland; in Berlin hoffen sie auf eine bessere Zukunft. Anfangs sind sie in einer verlassenen Gartenlaube untergekommen; zu Beginn des Films folgt ihnen die Kamera beim Pfandflaschensammeln. Später findet die Mutter Arbeit und die Kinder eine Schule. Eine stabile Erfolgsgeschichte ist das noch lange nicht, doch "Zuwandern" ist auch keine Elends-Pornografie; es geht um einen vorurteilsfreien Blick auf migrantischen Alltag. Und auch wieder darum, Gespräche geduldig zu beobachten, innerhalb der Familie, auf Ämtern, in der Schule. Entscheidend scheint mir dabei zu sein, dass der Film die Individuen und das System nicht gegeneinander ausspielt. Stattdessen zeigt er die Gesellschaft als eine Serie von Aushandlungsprozessen, in denen Handlungsmöglichkeiten und Freiheitsgrade ständig neu bestimmt werden müssen. Und die notwendig zwischen Menschen stattfinden. Der Film wiederum nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Erkenntnis, dass jede einzelne Interaktion, aus denen sich unser Miteinander zusammensetzt, es wert ist, gefilmt zu werden.

"David" scheint mit den beiden ersten Filmen zu brechen; er wirkt fast wie ein Neuanfang: Das Porträt eines Mannes mittleren Alters, der in Neukölln einen Schusterladen betreibt und in seiner Werkstatt außerdem Skulpturen herstellt. Der Film ist deutlich kleiner formatiert, minimalistisch auch in der Form. Ausführlich zeigt er die Entstehung der Kunst und auch die der Schuhe, registriert jeden einzelnen Arbeitsschritt. Oft sind nur die Hände und das Produkt der Handarbeit im Bild. Dennoch fügt sich der Film in gewisser Weise ins Werk von Sabine Herpich, oder zumindest passt er zu einer Bewegung im Werk: von der Institution über die Familie hin zum Individuum. In "David" wird deutlich, dass Herpichs Filme von der Immanenz eines gewissermaßen interesselosen dokumentarischen Blicks ausgehen. Vielleicht auch, weil Kunst als Objekt dieses Blicks besonders gut geeignet ist. Will man die Entstehung eines Kunstwerks filmen, so lässt sich nichts vorab festlegen; jeder Moment des Schaffensprozesses ist gleichwertig. Eine weitere Verbindung ist das Sprechen. David spricht, während er arbeitet, über seine Kunst, seinen Alltag und auch über die Vergangenheit. Gleich zu Beginn über Verwandte, die im Holocaust ermordet wurden. Er selbst ist in Israel aufgewachsen und kam erst nach einer Karriere als Sportler nach Deutschland. Historisch-staatliche Gewalt und eine Familiengeschichte sind in den Film eingelassen; sie schieben sich aber nicht vor die Konkretion des Handwerks und des Kunstschaffens. Das eine wird nicht als Ursprung beziehungsweise Abbild des anderen funktionalisiert.

"David" ist gleichzeitig auch ein Film über die Ökonomie der Kunstproduktion. Die Schuhherstellung ist für David ein Mittel, um seine eigentliche Leidenschaft, die Kunst, zu finanzieren. Dennoch investiert er in die Schuhe genau dieselbe unbedingte Konzentration und Sorgfalt wie in die Skulpturen. Für sich selbst hat David eine Möglichkeit gefunden, selbstbestimmte Kunstproduktion und Alltagsleben unter einen Hut zu bringen. Aber ist das auch fürs Kino eine Perspektive? Ist das extreme Maß an Autonomie, das der israelisch-neuköllner Handarbeiter für sich erkämpft hat, für Filmemacher*innen erreichbar oder auch nur wünschenswert?

Das leitet zu einer Formulierung über, die ich vor einiger Zeit auf Herpichs Website entdeckt hatte: "Filmemachen als Hobby", stand dort als Teil ihrer Selbstbeschreibung zu lesen. Mich hatte das damals für einen Moment ziemlich getroffen: Wie kann es sein, dass eine junge Regisseurin, die einige der für mich schönsten Dokumentarfilme der letzten Jahren gedreht hat, sich mit einer solchen Formulierung aus dem professionellen Kino zurückzieht? Daran schließen weitere Fragen an: Was heißt es heute überhaupt noch, wenn jemand von sich sagt, sie oder er sei Filmemacherin oder Filmemacher? Gibt es überhaupt noch das Berufsbild Regisseur*in?

Andererseits: Wenn das Filmemachen oft kein Beruf (mehr) ist, was ist es dann? Kann man Filme (also lange Filme mit einer Perspektive für eine professionelle Auswertung) wirklich nebenher drehen, so wie andere Leute in ihrer Freizeit Briefmarken sammeln? Irgendetwas stimmt an diesem Gedanken nicht. Die Energien, die fürs Filmemachen aufgewendet werden müssen, sind doch anderer Art, sind raum- und zeitgreifender. Auf Herpichs Homepage ist inzwischen nichts mehr von "Filmemachen als Hobby" zu lesen. Ihre filmischen Arbeiten stehen wieder gleichberechtigt neben anderen Tätigkeiten, die ebenfalls filmbezogen sind: Herpich ist Teil des Kollektivs, das das Berliner Kino fsk und den peripher-Filmverleih betreibt.

Dennoch ist die Frage nach wie vor ungeklärt: Wie lässt sich unter den aktuellen gesellschaftlichen Bedingungen unabhängiges Filmemachen lebenspraktisch realisieren? Was macht es mit einem und auch mit dem Kino, wenn immer weniger Geld unter immer mehr Filmemacher*innen aufgeteilt wird? Auf die eine oder andere Art betreffen solche Fragen vermutlich jeden, der heute in Deutschland Filme dreht oder drehen möchte. Aber natürlich betreffen sie jeden und jede auf eine andere Weise. Das Gespräch mit Sabine Herpich habe ich nicht deshalb geführt, um allgemeingültige Antworten zu finden. Mich interessiert die spezifische Perspektive einer Filmemacherin, die in ihren Filmen aufmerksam und unvoreingenommen auf die Gegenwart schaut und dabei vor allem die ökonomisch prekären Ränder im Blick hat.

Lukas Förster: Wie bist Du zum Filmemachen gekommen?

Sabine Herpich: Als ich nach Berlin gezogen bin, habe ich zuerst als Filmvorführerin gejobbt. Zuvor hatte ich in München an der Kinokasse gearbeitet. Mir war es nie in den Sinn gekommen, Filme zu machen. Das war viel zu weit weg, ungefähr so, wie man nie auf die Idee kommen würde, zum Mond zu fliegen. Ich stamme aus ganz einfachen Verhältnissen; so etwa wäre mir nie in den Sinn gekommen. Es rückte dann aber über einen Freund näher, der im selben Kino arbeitete und der Mediengestalter war; mit dem habe ich gemeinsam eine Idee entwickelt. Als ich nach Berlin kam, hat mich sehr irritiert, dass so viele aus meinem neuen Freundeskreis arbeitslos waren. Mich hat interessiert, was das mit ihnen macht. Einige aus dem Freundeskreis wurden deswegen depressiv. Als wir zu drehen anfingen, habe ich gemerkt, dass ich gar keine Ahnung davon hatte, was ich genau machen muss. Ich wollte nicht noch einmal studieren, da ich gerade mein erstes Studium abgeschlossen hatte. Dann aber bin ich auf die Filmarche gestoßen, eine unabhängige Filmschule in Berlin. Ich wollte dort Dokumentarfilmregie lernen, neben meiner Arbeit als Filmvorführerin. Da aber alle anderen an der Filmarche Spielfilme machen wollten, habe ich mich für Schnitt beworben. Das hat auch geklappt; ich habe dort Schnittprogramme kennengelernt und bei kleineren Projekten mitgearbeitet.

Dann bist Du zur HFF Potsdam-Babelsberg gegangen?

Es gab bei der Filmarche einen Gastprofessor, Gerhard Schumm von der HFF. Der hat kostenlos unterrichtet, weil er das Konzept der Filmarche toll fand und die Schule unterstützen wollte. Ich fand seinen Unterricht klasse und dachte mir, wenn die HFF Studierende über 30 Jahre nimmt, dann bewerbe ich mich. Das hat geklappt, und so habe ich doch nochmal zu studieren angefangen. Zuerst habe ich nur geschnitten, dann aber gemerkt, dass ich die Idee, selbst Filme zu machen, etwas aus den Augen verloren hatte. Das hat sich an der HFF dann aber als kompliziert erwiesen. Gegenüber den Schnittleuten wurde die Haltung vertreten: Ihr habt euch für Schnitt beworben, also müsst ihr dabei bleiben. Es gab damals das 10/10/10-System: Es gibt jeweils zehn Zulassungen für Regie, Schnitt, Kamera. Die Regiestudenten brauchen Leute, die ihre Filme schneiden; wenn ich etwas Eigenes mache, dann fehlt jemand von der Regie die Editorin. Man musste sich innerhalb seines Jahrgangs finden, was zum Teil zu unangenehmen Situationen führte. Die Regisseure pitchten ihre Projekte, und es war dann ein bisschen wie in der Schule beim Sportunterricht; die einen finden sich schnell, aber es bleiben Kombinationen übrig, die zusammenarbeiten müssen, obwohl nicht alle Beteiligten etwas mit dem Projekt oder miteinander anfangen können. Ich hatte allerdings Glück, weil ich immer mit Jöns Jönsson zusammenarbeiten konnte. Als ich im Hauptstudium dann aber etwas Eigenes machen wollte, wurde es kompliziert.

Hattest Du auch einmal vorgehabt, im Schnittbereich zu arbeiten?

Ja, ich wollte vom Schneiden leben. Nicht vom Filmemachen. Das können nur die wenigsten. Außerdem will ich darin ganz frei sein. Beim Schnitt bin ich bis zu einem gewissen Grad kompromissbereit. Ich dachte, das könnte mein Beruf werden, durch den ich dann eigene Filme selbstständig finanzieren kann. Ich habe das auch zwei Jahre lang probiert, aber es hat nicht funktioniert, weil ich immer wieder über einen längeren Zeitraum keinen Job hatte. Ich bekam dann extreme Existenzängste; das hatte auch körperliche Auswirkungen, ich hatte Herzrhythmusstörungen. Ich war total dankbar, als das fsk-Kino, bei dem ich schon während des Studiums gearbeitet hatte, mir einen Einstieg ins Kollektiv anbot. Da muss ja jeder alles machen, Kasse, Verleih, Abrechnung und so weiter. Meine Lebensqualität hat sich dadurch verbessert, ich hatte nicht mehr so viel Angst. Ich habe gemerkt, dass mir eine gewisse Sicherheit wichtig ist. Die Editorinnen und Editoren aus meinem Freundeskreis haben große Schwierigkeiten; es gibt Leute, die tolle Projekte machten und darauf gehofft haben, irgendwann mehr Geld zu verdienen, aber das hat sich oft nicht eingelöst. Da immer mehr Leute auf den Markt kommen, wird es auch immer schwieriger. Überdies ist die Angst vor der Altersarmut sehr groß.

Heißt das, dass die handwerklicheren Aspekte des Filmemachens nicht mehr als Berufsbild taugen?

Ja, das funktioniert nicht mehr. Die allerwenigsten haben genügend Angebote, um sich das ganze Jahr über Wasser zu halten. Das hat ja auch Konsequenzen für ihre Familien und alles andere.



Dein allererster Film "Wertingen" ist ein mitellanger Spielfilm. Wie kam es dazu?

Das ist eine persönliche Geschichte. Ich hatte Liebeskummer, und ein Freund hat mir seine unglückliche Liebesgeschichte erzählt. Ich mochte seine Geschichte und fand sie auch lustig. Da wollte ich meinem passiven Leiden etwas entgegensetzen und aus dieser Geschichte einen Film machen. Es sollte eigentlich mein Drittjahresfilm werden. Doch es gab Probleme mit der Schule; der Herstellungsleiter hatte mir das nicht zugetraut und mir das Geld, das eigentlich jedem Studierenden zur Verfügung steht, nicht bewilligt. Deshalb musste ich die Kameratechnik von einem externen Verleih besorgen. Es war ein kleines Team; wir sind hingefahren und dachten, wir gehen das ganz gelassen an, verbringen Zeit mit Freunden, die in diesem Ort Wertingen im Landkreis Dillingen an der Donau wohnen. Dass es ein Spielfilm geworden ist, lag an dieser speziellen Geschichte. Aber ich wollte immer Dokumentarfilme machen. Danach war mir erst recht klar, dass Spielfilm nicht mein Ding ist.

Die Schauspieler kommen von dort?

Das sind keine Schauspieler, sie sind alle aus dem Ort und spielen mehr oder weniger sich selbst.

Auch der Polizist? Das hat mich gewundert: Würde ein bayerischer Polizist zu jemandem sagen: Übernachte doch einfach draußen? Der würde den doch eher davonjagen...

Das hat ein Polizist tatsächlich zu dem Freund gesagt, allerdings war das in Baden-Württemberg. Den bayerischen Polizisten mussten wir lange überreden, bis er sich bereit erklärt hatte, den Satz zu sagen.

"Neukölln-Aktiv" war dann der Abschlussfilm. Wie ist der entstanden?

Gregor Stadlober und ich wollten zusammen einen Dokumentarfilm machen. Wir haben zuerst etwas sehr Kleines als Übung gemacht, um zu sehen, ob wir überhaupt zusammenarbeiten können. Gregor meinte, ich soll meine allererste Idee, also einen Film über Arbeitslosigkeit, noch einmal aufgreifen. Wir wollten dann einen Film über das Jobcenter Neukölln machen und haben dort angefragt. Es gab auch eine positive Reaktion, aber es ist ein langer Gang, bis alle Ebenen gefragt werden. Im Hauptstudium steht man, gerade als Schnittstudentin, unter Zeitdruck. Deshalb war klar, dass wir darauf nicht warten können. Bei den Recherchen über Jugendarbeitslosigkeit sind wir dann auf die Initiative Neukölln-Aktiv gestoßen, die männliche Jugendliche und junge Männer beim Erwerb von Schulabschlüssen und der Suche nach Ausbildungsplätzen unterstützt. Gregor hat dort angerufen, der Leiter war sofort begeistert, es ging alles ganz schnell. Ich habe mich dann entschieden, die Kamera selbst zu machen, obwohl ich damit kaum Erfahrung hatte. Am Ende des Studiums stehen alle unter Druck, einen Film zu machen, der so etwas wie eine Visitenkarte ist; ich wollte deshalb niemanden in das Projekt mit hineinziehen, weil mir bewusst war, dass ich scheitern könnte, es war ja mein erster Dokumentarfilm. Wir sind ja auch für die Lebenszeit der anderen verantwortlich. Die ersten beiden Wochen mit der Kamera waren schwierig, aber im Lauf der dreimonatigen Drehzeit habe ich bemerkt, dass ich das total gerne mache. Ich möchte das jetzt auch nicht mehr abgeben. Für mich ist das eins geworden, den Film zu machen und mein Blick.

Ist die Angst vor dem Scheitern auf Filmschulen präsent?

Das ist mein persönlicher Eindruck. Oft wird gesagt: Ihr dürft auch scheitern. Ich habe das nie geglaubt, weil ich gleichzeitig gespürt habe, wie wichtig es ist, schon mit dem ersten Film erfolgreich zu sein. Das war sehr präsent. Auch untereinander. Da ist es so oft um Festivalzusagen und -absagen gegangen. Noch krasser ist es für Regiestudenten, dort ist der Konkurrenzdruck am höchsten. Wir Schnittstudenten hatten es ein wenig einfacher, auch wegen des Professors Schumm, dem Leiter des Studiengangs, ein 68er, der allein schon mit den kleinen, abseitigen Filmen, die er zeigt, dem entgegenzuwirken versucht. Die Schule als ganze hat aber etwas anderes ausgestrahlt. Es ging immer um Erfolg. Das zeigt schon der Bildschirm im Foyer, auf dem die Festivalteilnahmen von HFF-Filmen aufgelistet sind. Allein das ist ein Symptom für diese Entwicklung.

In "Neukölln-Aktiv" steht die Institution deutlich im Mittelpunkt, nicht so sehr einzelne Protagonisten. Man hätte das ja auch anders machen können, etwa indem man exemplarische Fälle zeigt: Mal klappt es, mal nicht.

Das war von Anfang an die Idee: Wir filmen nur in der Institution und gehen nur nach draußen, wenn die Institution auch raus geht. Wir wollten keine individuellen Geschichten, sondern die Mechanismen der Institution darstellen. Die Ausgangsfrage war: Wie werden junge Leute, die außerhalb stehen, wieder in die Gesellschaft gezogen? Wie funktioniert es, jemanden für die Anforderungen der Arbeitswelt passend zu machen? Und wo scheitert so etwas? Interessant fand ich die Idee, dass das allein durch Reden geschehen soll, dass sich also Dinge nur durch Reden verändern lassen. Deshalb liegt der Fokus auf den Gesprächen in ihren verschiedenen Varianten. Wie bei einem Kaleidoskop. Jemand der mit sich reden lässt, jemand, bei dem es schwieriger wird, und so weiter.

Besonders eindrücklich ist ein schier endloses Gespräch über Handy-Verbote, das nie vom Fleck kommt. Geht es den Mitarbeitern von Neukölln-Aktiv darum, durch das Sprechen einen Umgang miteinander einzuüben?

Ja, aber es sollen auch Werte vermittelt werden. Die Eingriffsmöglichkeiten der Institution sind allerdings beschränkt. Sie kann einen Rahmen setzen; die Jungs müssen morgens kommen und können erst nachmittags wieder gehen. Aber wie bringt man Menschen dazu, sich auf den nächsten Schultag vorzubereiten? Oder sich für ein Praktikum zu bewerben? Die Institution kann das nur durch Reden erreichen. Durch ein Gespräch muss der andere dazu gebracht werden, das zu tun, was gefordert wird: zu lernen, pünktlich zu sein, sich so zu verhalten, wie es von Jugendlichen erwartet wird, die fit gemacht werden sollen für einen Arbeitsplatz, um sich dann selbst versorgen zu können. Deshalb ist die Frage nach Sanktionen interessant. Die Jugendlichen können, wenn sie zu selten kommen, aus der Maßnahme hinausgeworfen werden; wenn sie bei mehreren Maßnahmen rausfliegen, werden Leistungen gekürzt. Da gibt es dann schon Druck. Aber das Jobcenter will ja nicht, dass jemand rausfliegt, weil diese Person dann wieder bei ihnen auftaucht. Deswegen soll Neukölln-Aktiv mit den Sanktionsmöglichkeiten sparsam umgehen, so dass niemand aus der Maßnahme fliegt; gleichzeitig aber soll auch Druck ausgeübt werden, wenn die Teilnehmer unpünktlich oder zu selten kommen.

Du hattest bei mehreren Projekten Probleme mit Institutionen, die nicht bereit waren, die Kamera zuzulassen. Woran liegt es, dass es manchmal doch klappt?

Ganz oft an Einzelpersonen. Das ist natürlich auch ambivalent. Im Fall von Neukölln-Aktiv wollte der Leiter das so sehr, dass er seine Mitarbeiter fast schon gedrängt hat. Ich weiß nicht, ob Gülay, die im Film viel auftaucht, dazu ja gesagt hätte, wenn sie ganz frei gewesen wäre. Ich habe den Film zuerst ihr gezeigt. Im Nachhinein ist sie froh über alles, obwohl es Szenen im Film gibt, in denen man sie kritisieren kann. Das ist ein Dilemma; sie war meine Ansprechpartnerin und es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen uns. Ich will niemanden verletzen und trotzdem zeigen, was ich sehe.

Deine Filme sind im Verhältnis zu den Institutionen ambivalent, aber nie zynisch. Es geht ja nicht darum zu zeigen, wie Leute einfach durchgeschleust werden. Wie erlebst Du das selbst?

Ich habe verschiedene Erfahrungen gemacht. Bei vielen Institutionen gibt es Mitarbeiter*innen, die sich ganz anders verhalten als erwartet. Ich habe ja auch Vorurteile und bin überrascht, wie hilfsbereit, offen oder bemüht manche sind. Andere passen genau ins Vorurteil. Spannender finde ich es natürlich, wenn ich überrascht werde und gegen Vorurteile anfilmen kann. Es ist immer komplexer als erwartet. Wenn man Filme zu politischen Themen macht, wird man oft von Leuten angegriffen, die eigentlich auf derselben Seite stehen, aber sie wollen einen Agitpropfilm, sie wollen, dass die Behörde auf der einen, und der Protagonist auf der anderen, der guten Seite steht. Wenn man das nicht erfüllt, heißt es, dass man haltungslos sei.



Warst Du schon beim fsk-Kino, als Du "Zuwandern" gedreht hast?

Nicht Vollzeit, ich habe zweimal pro Woche gejobbt und hauptberuflich geschnitten. Auf die Idee zu dem Film kam ich, weil ich auf dem Weg ins fsk am Kottbusser Tor Roma gesehen habe, die die Fensterscheiben der Autos putzten. Ich habe mich gefragt, wo diese Menschen wohnen. Es gab in dieser Zeit auch viele richtig widerliche, tendenziöse Beiträge im Fernsehen; kaum jemand hat versucht, die andere Seite zu verstehen. Ich habe dann nach Anlaufstellen für Roma recherchiert, die Hilfe suchen. So bin ich auf die Roma-Organisation Amaro Foro gestoßen und habe dort hospitiert. Wenn ich ein Projekt anfange, versuche immer ich zuerst zu hospitieren, um einen Eindruck zu bekommen. Dadurch habe ich dann die Familie kennengelernt, die im Zentrum von "Zuwandern" steht. Einer meiner Jobs als Praktikantin war, der Familie eine Notunterkunft zu zeigen. Auf dem Weg dorthin haben wir uns mit Mimik und Gestik unterhalten; dabei habe ich entdeckt, dass das auch ohne sprachliche Kommunikation funktioniert. Später habe ich dann mehr erfahren, auch dass sie in einer Laube übernachtet hatten. Und sie gefragt, ob sie nicht mehr über sich erzählen wollen. Diana Botescu, die bei Amaro arbeitet, hat mit beim Übersetzen geholfen. Als wir mit der Familie sprachen, war der Vater total dankbar, jemand von seinen Erfahrungen in Berlin erzählen zu können. Das führt dazu, sie über einen längeren Zeitraum mit der Kamera zu begleiten. Mich hat dabei insbesondere interessiert, wie sie in Berlin langsam Fuß fassen. Als eine Art Ausgleich, weil ich ja auch ihre Zeit gestohlen habe, habe ich dann kleine Aufgaben für sie übernommen, die ich ohne Übersetzungsarbeit machen konnte, etwa bei Behörden.

Die Familie hat nicht mehr in der Laube gewohnt, als Du mit den Dreharbeiten begonnen hast?

Ich hätte nicht gefilmt, wenn sie noch dort gewohnt hätten. Das kann ich nicht. Ich kann nicht da filmen und anschließend nach Hause gehen. Das ist eine zu große Diskrepanz. Viele Dokumentarfilme handeln von Leuten, die sich in solch extrem schwierigen Situationen befinden. Es gibt mehr Schauwerte, wenn man krasse Situationen zeigt. Man begibt sich in solche Situationen, macht einen Film und zeigt ihn auf Filmfestivals. Gerade die größeren Filmfestivals sind eine komplett andere Welt, das hat gar nichts mehr miteinander zu tun. Das ist etwas ganz Komisches: Wie verbindet man diese beiden Welten in der Person des Filmemachers?



Dein neuer Film "David" ist deutlich anders. Er ist nicht so stark von einem sozialen Thema her gedacht; es geht nicht um eine Institution, sondern um das Porträt eines Schuhmachers und Künstlers. Du hast den Film neben Deiner Arbeit im fsk realisiert. Wie ist es dazu gekommen?

Das Bedürfnis ist immer da, neben der Arbeit etwas Eigenes zu machen, obwohl ich die Arbeit im fsk sehr mag. Wenn man einen Film gedreht hat, will man den nächsten machen. Ich war auf der Suche nach einem neuen Thema und bin an Davids Laden vorbeigelaufen. Ich habe durchs Fenster geschaut und ihn arbeiten sehen. Seine Arbeit an der Skulptur, ein totales In-sich-ruhen, das langsame Arbeiten an etwas, das richtig lange dauert, hat mich fasziniert. Auch der philosophische Aspekt: Wie verbringt man seine Lebenszeit? Ich habe gefragt, ob ich zusehen kann Und, da ich die Kamera dabei hatte, ob ich filmen darf. Er fand das in Ordnung und hat sich überhaupt nicht irritieren lassen. Auch das hat mich erstaunt. Später hat er zugestimmt, dass ich die Arbeiten an einer neuen Skulptur von Anfang bis Ende begleiten darf. Zunächst habe ich einmal die Woche gefilmt und dann immer öfters. Ich habe das als Herausforderung gesehen, mehr über filmische Auflösung nachzudenken. Seine Arbeit kann man nicht filmen, indem man sich einfach nur hinstellt und nicht bewegt. Ich musste überlegen, wie ich auflöse und schneide, damit ich den Prozess, der sich über Wochen erstreckt, komprimieren konnte. Eine andere Herausforderung war, Kunst zu filmen. Mir war aufgefallen, dass ich noch nie ein Bild gemacht hatte, auf dem kein Mensch zu sehen war, also etwa von einem Haus, von Gegenständen oder Dingen; ich hatte das nie getan, weil ich keine Motivation dazu hatte. Ich wusste deshalb lange nicht, wie ich Davids Kunst filmen soll. Ich habe viel rumprobiert und bin dann auf die Schwenks gekommen, die gut zu den Formen der Skulpturen passen.

Er redet ja die ganze Zeit mit Dir beim Arbeiten.

Ja. Wenn ich mit jemandem für viele Stunden alleine bin, dann hätte ich es komisch gefunden, wenn wir nicht miteinander gesprochen hätten. Das sollte dann auch Teil des Films werden, einfach weil das die Situation war, als ich filmte.

Kanntest Du seine Lebensgeschichte?

Nein, überhaupt nicht. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte, als er darüber sprach. Das war gleich am zweiten Tag. Ich hatte Angst, die Kamera lief und ich wusste nicht, ob ich richtig reagiere.

Es gibt in dem Film einen Ausflug…

Er hat mir von einer Kuh-Statue erzählt, die er hergestellt hat. Ich dachte, es sei schön, eine ältere Arbeit anzuschauen, die er länger nicht mehr gesehen hat. Auch, um einmal aus der Werkstatt herauszugehen. Da habe ich dramaturgisch gedacht: Wir machen das, wenn meine Schuhe, die ich mir von ihm habe anfertigen lassen, fertig sind. Das war das einzige, was vorab geplant war.

Deine Filme sind stark von der konkreten Situation der Aufnahme geprägt, aber es gibt immer auch eine Dramaturgie. Keine Fernsehdramaturgie, aber Setzungen, wie in "Zuwandern" etwa die Gartenlaube, die am Ende des Films auf Fotos nochmals auftaucht.

Ich versuche schon, Sachen anders zu machen, weil ich sie auf eine andere Weise machen möchte. Zum Beispiel die langen Einstellungen. Das gefällt mir einfach besser, auch in den Filmen von anderen. Ich bin viel mehr drin, wenn ein Film sich Zeit lässt. Wenn nur kleine Häppchen verteilt werden, habe ich das Gefühl, dass ich gar nicht rankomme, es prallt an mir ab. Wenn ich einen Film sehe, möchte ich in ihn hineingezogen werden; das funktioniert bei mir persönlich bei langen Einstellungen ganz gut. Ich bin ja auch die erste Zuschauerin meines Materials. Das verbraucht sich während des Schnitts natürlich. Irgendwann während des Entstehungsprozesses will man, dass die Einstellung aufhört, weil man ja alles in- und auswendig kennt. Aber es ist mir wichtig, dieses erste Gefühl zu halten, auch wenn es dann zehn Minuten dauert, bevor die Einstellung wechselt. Das ziehe ich durch. Was die Dramaturgie anbelangt, denke ich, dass ich nicht frei bin. Da merke ich, dass ich erzählen will, wie ich es schon einmal gesehen habe. Zum Beispiel, dass nicht alles auf einem Level sein soll, sondern dass es tiefer geht. Das sind ja dramaturgischen Fragen: Wann setze ich was? Da hat das Studium auf jeden Fall etwas mit mir gemacht.

Mein Eindruck ist, dass sich die Dramaturgie trotzdem stark aus dem Material ergibt. Das hebt deine Filme von anderen Dokumentarfilmen ab. Das ist keine Struktur, die von außen kommt.

Das ist ganz bestimmt so. Aber die Frage ist, wenn man wie ich eine Lebensrealität zeigt, unterschiedliche Aspekte davon, wie man da wieder herauskommt. Man muss den Film ja irgendwann beenden. Da stellt sich für mich die dramaturgische Frage am stärksten. Ich muss ein Ende vorbereiten, das sich auch wie ein Ende anfühlt. Die Haltung meines früheren Professors war eine andere: Eigentlich wäre es ideal, einfach Materialsammlungen herauszugeben. Dramaturgien sind verflixt. Ich habe ja viele Filme gesehen, von denen ich beeinflusst bin; ich kann gar nicht sagen, ob ich das mache, weil ich das möchte oder weil ich so sozialisiert wurde.

Noch einmal zu den langen Einstellungen. Oft sind das ja Einstellungen von Menschen, die reden. Da geht es um Geduld, die von Dir, aber auch die von den Sprechenden. Du drehst weiter, auch wenn es minutenlang nicht vorangeht. Was interessiert Dich daran?

Das finde ich auch bei John Cassavetes toll, das Sprechen, wenn es Verstehen und Missverstehen gibt, diese Wechsel von Spannung und Entspannung. Ich weiß nicht, warum mich das fesselt; vielleicht ist das eine psychologische Angelegenheit, hinter die ich nicht blicken kann.

Du kommt nicht in die Versuchung, zu schneiden?

Nein, ich finde das total spannend, wie so ein Gespräch funktioniert. Was es für Konsequenzen hat, wenn jemand etwas einwirft. Ich schaue da total gerne zu und finde es deshalb toll, wenn ich zufällig da bin, wenn genau so etwas passiert. Das ist wie ein Geschenk für mich.

"David" ist einmal im fsk gelaufen, aber nicht auf Festivals. Warum?

Das hatte ich von Anfang an nicht vor. Ich fand es gut, dass ich mich außer vor David vor niemandem rechtfertigen muss. Da passt das Wort Hobby gut. Ich mochte es, aus einem Bedürfnis heraus zu filmen, ohne dass das ein Produkt werden muss. Ein paar Leute haben dann gesagt, schick ihn dahin und dorthin; das habe ich auch gemacht und nur Absagen bekommen. Danach habe ich den Film ins Netz gestellt. Ich bin in der tollen Position, in einem Kino zu arbeiten, deshalb ist es völlig okay für mich, wenn er dort einmal läuft. Die ganzen Absagen machen ja auch etwas mit einem, und ich will weiterhin Lust haben, Filme zu drehen.

Alle Deine Filme sind nicht viel gezeigt worden, vor allem nicht auf den einschlägigen Festivals. Hast Du eine Vermutung, warum das nicht geklappt hat, warum die Filme nicht in das System der Förderer und Festivals hineingekommen sind?

Förderung habe ich bei den bisher gedrehten Filmen gar nicht beantragt. Das habe ich nur bei dem (abgebrochenen) Jugendamt-Film versucht und jetzt bei meinem neuen Projekt. "Zuwandern" wollte ich bei Festivals zeigen. Aber es ist halt so, dass sie sehr viele Filme bekommen. Wenn man ganz alleine einreicht, wenn man die einzige ist, die daran interessiert ist, dass der Film auf dem Festival läuft, dann ist es sehr schwierig. Bei größeren Filmen sind da viel mehr Leute dahinter, Produktionsfirmen, Verleihe und so weiter. Aber bei den Filmen von mir, oder auch bei denen von Freunden ist meist nur eine einzige Person daran interessiert, dass er gezeigt wird. Da muss es entweder ein Hammerfilm sein, oder er geht unter.

Du machst klassische Dokumentarfilme. Hast Du es mit dieser Art des Filmschaffens vielleicht besonders schwer, weil es dafür keine Festivals gibt?

Für manche wirkt das vielleicht zu einfach, was ich mache. In Duisburg oder Marseille suchen sie Dokumentarfilme, die formal etwas Neues ausprobieren. Meine Sachen sind dafür vielleicht zu eingestaubt. Auf der anderen Seite gibt es viele Festivals, die formatierte Filme zeigen. Filme über einzelne Protagonistinnen, die alle ähnlich funktionieren.

Mein Eindruck ist, dass es auch bei den avancierteren Festivals Formatierungen gibt.

Sicherlich. Ich merke das auch in meinem Freundeskreis; es gibt viele, die nicht dem aktuellen Geschmack der Festivals entsprechen. Ich habe jüngst den Vorschlag gelesen, alle zehn Jahre die Leitung der Festivals zu wechseln, weil deren Auswahl stark davon geprägt ist, was gerade gemacht wird und was sichtbar ist.

Wie finanzierst Du Deine Filme?

Für "Neukölln-Aktiv" hatte ich 1000 Euro, aber natürlich auch die Infrastruktur der HFF, was viel wert ist. Bei "Zuwandern" habe ich 4000 Euro von der Stiftung "Menschenwürde und Arbeitswelt" erhalten. "David" ist ohne Geld entstanden, was ein Dilemma ist, weil ich ja andere Personen mit hineinziehe. Wenn ein Film im Kino laufen soll, braucht es einen Standard. Es braucht eine gute Tonmischung, eine Farbkorrektur. All das kostet Geld. Dann fängt man an, Menschen zu fragen, ob sie für wenig Geld oder ohne Geld arbeiten können, in der Hoffnung, dass die Filme irgendwo laufen und auch deren Karriere voranbringen. Manchmal ergibt sich aber gar nichts, die Filme gehen nirgendwohin. Das heißt, dass man den Leuten unter Umständen falsche Hoffnungen macht. Ich kenne beide Seiten. Ich habe schlecht bezahlte Schnittjobs gemacht und als Filmemacherin andere schlecht bezahlt. Es ist schön, solche Projekte zu machen, aber man trägt dazu auch zu dieser elenden Situation bei.

Wie erlebst Du Deine Arbeit im Kino? Wie wählt ihr die Filme aus, die im fsk laufen?

Wir sind Teil des Systems. Wir zeigen die Filme, die starten. Wir haben nicht das Budget, Filme oder Filmreihen außerhalb der Startliste zu zeigen. Wir haben kaum staatliche Unterstützung, nur die Programmkinopreise; wir müssen also wirtschaftlich funktionieren. Wir können nur ab und zu Besonderes machen. Natürlich zeigen wir aus der Startliste das, was uns gefällt, aber auch da müssen wir Kompromisse machen; es ist eine Mischkalkulation. Für alle ist es ein Problem, dass immer mehr Filme starten und kürzere Zeit im Kino bleiben. Ich finde es erschreckend, dass Filme oft nur eine Woche laufen und damit zu einem Wegwerfprodukt werden. Darüber klagen alle, aber ich weiß auch keine Lösung. Was noch funktioniert, sind Filme, die in Cannes prämiert werden, über die jede Zeitung schreibt, "must-sees" wie die Filme von Michael Haneke. Ein Großteil unseres Publikums kommt aus dem Bildungsbürgertum, sie wollen die Filmemacher begleiten, die sie kennen.

Ihr habt aber auch noch einen Verleih.

Ja, wir haben einen Verleih und kommen auch noch mit unseren Filmen an. Man wird als Disponentin zur Staubsaugervertreterin: unsere Filme sollen in mindestens 20 Kinos unterkommen. Nicht einmal das klappt immer. Bei unseren jüngsten Filmen haben die anderen Kinos Verluste gemacht, das ist auch eine schlechte Situation. Viele kleinere Verleihe versuchen, sich mit Verleihförderung über Wasser zu halten. Das Problem dabei ist da, dass man nicht für die eigene Arbeit bezahlt werden kann, sondern Aufträge an andere vergeben muss. Wir müssten dann alles auslagern, was wir normalerweise selbst machen, also Dispo, Presse, Versand und so weiter. Manche Verleiher gründen deshalb unterschiedliche Firmen für die einzelnen Bereiche und schieben das hin und her. Wir wollen uns aber aus praktischen Gründen nicht in unterschiedliche Firmen aufsplitten und arbeiten deshalb fast immer ohne Förderung. Zur Zeit verleihen wir gar nicht, wir versuchen, ein neues Konzept zu erarbeiten: Wie verleiht man ohne Förderung und ohne zu große Verluste zu machen? Wie schafft man es, auch selbst die Lust daran zu behalten? Es macht keinen Spaß, andere Kinos überreden zu müssen. Unsere Filme werden vor allem von Kommunalen Kinos gespielt, die ja auch unter den Druck von Lokalpolitikern geraten, weil sie Filme zeigen sollen, zu denen genug Zuschauer kommen.

Hat sich für Dich als Filmemacherin etwas durch die Arbeit im Kino verändert?

Ja, ich habe manchmal das Gefühl, dass ich jetzt auch noch etwas auf den Berg werfe. Der ist schon so groß genug, und jetzt komme ich noch dazu. Es ist mir wichtig, meinen Bedürfnissen zu folgen und Filme zu machen, aber manchmal schaue ich mich dann von der Kinoseite her an und denke, mein Gott, noch so ein Ding. Dann bemerke ich, dass ich gar nicht will, dass meine Filme in den Verleih kommen. Ich will nicht, dass andere Kinos, die oft von Leuten betrieben werden, die ich kenne, mit meinen Filmen Verluste machen. Ich weiß um die Konsequenzen. Filmemacher, die diese Konsequenzen nicht kennen, erwarten ganz andere Sachen von ihren Filmen; sie denken, dass der Verleih oder wer auch immer schuld ist, wenn es nicht läuft. Wenn ich nicht im Kino und im Verleih tätig wäre, würde ich mir auch wünschen, dass meine Filme verliehen würden. Ich stelle einen Film wie "David" deshalb gleich lieber auf Vimeo.

Werden die Filme auf Vimeo angeschaut?

Ja, ein bisschen. Vimeo ist auf Dauer natürlich keine Lösung. Aber ein Film wie "David" würde in der Maschinerie eh nicht funktionieren, dafür ist er zu klein. Ich habe keine Idee, was man stattdessen machen kann. Vielleicht ist Regionalisierung eine gute Idee. Film als eine Möglichkeit der Selbstverständigung in der Nachbarschaft. Wenn "David" einfach in dem Kiez läuft, in dem er entstanden ist. Sich so gegenseitig über sich selbst zu verständigen, finde ich eigentlich schön. Mit "Zuwandern" wurde ich nach Oldenburg eingeladen und war da bei Werkstattfilm, dem Verein, der auch das Saless-Archiv betreibt. Da werden solche Filme realisiert: Oldenburg in der NS-Zeit, ein Film über die Geschichte von Läden und Straßen in Oldenburg oder andere Filme zu regionalen Themen. Ich glaube, das ist eine gute Idee, die total unterschätzt wird.

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Filmografie:

"David". Deutschland 2016. Regie: Sabine Herpich. 81 Min.
"Zuwandern". Deutschland 2014. Regie: Sabine Herpich, Diana Botescu. 81 Min.
"Neukölln-Aktiv". Deutschland 2012. Regie: Sabine Herpich, Gregor Stadlober. 97 Min.
"Wertingen". Deutschland 2011. Regie: Jöns Jönsson, Sabine Herpich. 30 Min.

Der Beitrag ist im Rahmen des vom Verband der deutschen Filmkritik zusammen mit der MFG Filmförderung Baden-Württemberg und der Film- und Medienstiftung NRW vergebenen Siegfried-Kracauer-Stipendiums entstanden.