Im Kino

Drehbuchdasein zum Tode

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
26.09.2007. Fatih Akins neuer Film "Auf der anderen Seite" bietet nicht viel mehr als das Herumschieben von Figuren in Schicksalsbilanzen. In Nuri Bilge Ceylans "Iklimler - Jahreszeiten" wird dagegen das Zeigen des Ungesagten zum filmischen Ereignis.
Yeter (Nursel Koese) stirbt. Das erfahren wir eine ganze Weile vor ihrem Tod durch eine Schrifttafel. Genauer gesagt: Wir erfahren es schon, bevor wir sie ein erstes Mal sehen. Dann kommt sie ins Bild, hinter einem Kellerfenster. Der Rest ist Drehbuchdasein zum Tode und das Drehbuch, das keiner Figur die Luft zum Atmen lässt, geht so: Yeter stammt aus der Türkei, hat den Kontakt zu ihrer Tochter verloren, arbeitet als Prostituierte, bekommt Besuch von einem alten türkischen Mann, der den Sex, den er mit ihr hat, gerne auf Dauer stellen möchte, also kauft er sie sich, nimmt sie mit nach Hause, wo sie seinen Sohn Nejat (Baki Davrak) kennenlernt, der Germanistikprofessor ist und zuvor, im Prolog des Films, schon einmal zu sehen war. Dann muss Yeter sterben. Es überrascht uns nicht, es trifft uns kaum, Akin stellt das Understatement aus, mit dem er ihren Tod filmt.

Lotte (Patryzia Ziolkowska) stirbt. Das teilt uns der Film mit, bevor seine zweite Hälfte beginnt, auf einer Schrifttafel. Der Rest dieser zweiten Geschichte, die sich von Hamburg nach Istanbul bewegt, ist eine kolportagehafte Mixtur aus lesbischer Liebe, Frauengefängnisfilm, politischem Engagement und Hanna Schygulla. Verlust und Versöhnung, die ganz großen Themen, hamburgisch unterkühlt serviert. Ayten, die Frau, in die Lotte - die dem Tod vom ersten Bild an anheimgegebene Lotte - sich verliebt, ist die Tochter der sinnlos zu Tode gekommenen Yeter. Der Germanistikprofessor kreuzt von der ersten Geschichte in die zweite, verfehlt aber ein ums andere Mal Ayten (Nurgül Yesilcay), die Frau, die er sucht. Verlust und Versöhnung, Suche und Verfehlung, Hamburg und Istanbul, Lotte und Ayten, ein Sarg fliegt nach Osten, ein Sarg fliegt nach Westen. Und die schwerfällige Symbolik ist immer schon da.

Fatih Akins Film "Auf der anderen Seite" ist eine Versuchsanordnung. Ein Drehbuchfilm, der seine Figuren nötigt, Dinge zu tun, die ein Autor auf der Suche nach einer Struktur sich ausgedacht hat. Nun ist aber "Auf der anderen Seite" kein strukturalistischer Film, der die Verschiebungen in seinem Koordinatensystem mit dem Sinn fürs Spielerische und Konstruierte seines Tuns ausstellte. Nein, Fatih Akin will Schicksal spielen und dass man ihm dabei so genau, Zug um Zug, auf die Finger sehen kann, ist gerade das Gegenteil dessen, was er sich wünscht.

Was Fatih Akin sich wünscht, sind Regungen des Herzens. Aber wie soll man als Zuschauer etwas empfinden für Figuren aus Pappe? Die auf einem Schachbrett von der einen zur anderen, von der anderen zur einen Seite geschoben werden nach Herzenslust des Regisseurs. Eines Regisseurs, der noch dazu weder auf die eine Seite noch die andere sich beschränkt, sondern immer schon auf beiden Seiten zugleich ist. Der türkischen und der deutschen. Der der Verletzung und der der Versöhnung. Der des erzählischen Strukturalismus und der des Realismus. Der Öffnung und der Schließung. Des Zufalls und der Notwendigkeit.

Überdies hat Akin für all das auch kein inszenatorisches Konzept, was man spätestens dann merkt, wenn ihm aus heiterem Himmel doch mal ein Einfall kommt. Einmal zerlegt er eine Sexszene in die Bestandteile des Raums, in dem sie stattfindet. Eine hübsche Idee, nur ohne Bezug zu dem Film drumherum. Ein anderes Mal zeigt er aus oberster Zimmerecke Hanna Schygulla in sanften Überblendungsmontagen in heftiger Trauer - die Verbindung von manierierter Kameraposition, Schygullas Klageweibtheatralik und Überblendungen entbehrt als weiterer Einfall ohne Bindung an den Rest nicht der unfreiwilligen Komik.

Nach seinem Volldampfmelodram "Gegen die Wand" wollte Akin ein paar Gänge zurückschalten. Das ist ihm gelungen, aber um welchen Preis! Der Plot ist ein weiteres Mal reich an Trivialitäten, nur dass sie hier nicht als Sprungbrett zu höheren Formen des Wahnsinns genutzt, sondern tatsächlich beim Nennwert genommen werden. Das aber führt dazu, dass man den Darstellern - die mehr als einmal allein gelassen wirken mit ihren Figuren - kaum ein Wort glaubt. Sie spazieren durch Hamburg und Istanbul wie ausgedacht. Freiräume lässt ihnen das Drehbuch dabei nicht. Es muss erzählt werden ohne Unterlass. Akin ist bei alledem sehr um Lakonie bemüht, aber auch das wird zum Problem. Denn Lakonie ist etwas, das sich ein-, nicht etwas, das man ausstellt.

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Keine großen Themen, nur die Szenen einer Ehe in Nuri Bilge Ceylans meisterhaftem neuem Film "Iklimler - Jahreszeiten". Welche Freiheit darin liegen kann, sich Zeit zu nehmen und den Bildern, den Darstellern Zeit zu lassen, demonstriert schon der Beginn. Ein Ehepaar - Isa, gespielt von Regisseur Ceylan selbst und Bahar, gespielt von seiner Ehefrau Ebru - im Urlaub zwischen antiken Ruinen am Schwarzen Meer. Die Einstellungen wechseln zwischen Großaufnahmen und Totalen, zwischen ihrer Perspektive und seiner.

Der Ort aber ist nicht Kulisse und die Darsteller spielen nicht die Gefühle nach, die ein Drehbuch ihnen vorschriebe. Es geht hier tatsächlich um das Verhältnis von Figur und Raum, darum zu sehen, wie der Mann einmal stolpert und wie Bahar sich etwas abseits niederlässt und beim Blick auf den Mann zu weinen beginnt. Es ist das Gesicht in Großaufnahme dabei aber nicht Vehikel für Auszudrückendes, sondern nicht weniger Schauplatz als die in Totalen gezeigte antike Stätte, zwischen deren Säulen der Isa sich stolpernd fast verliert. Die Kamera bezeugt und dokumentiert, was sich abspielt, in Räumen, auf Gesichtern, zwischen Menschen; es ist eine Neugier und Offenheit in diesem Blick, eine Intimität, die sich in der distanzierten Nüchternheit die gewahrt bleibt, erst einstellt.

Beklemmend die Szene später, das Paar am Strand, ein Alptraum, der "Iklimler" für einen Moment fast zum Horrorfilm macht. Isa bekennt seine Liebe, Ceylan rückt die Gesichter, einander sich nähernd, in den Vordergrund. Ein Kuss, Isa beginnt spielerisch, den Körper seiner Frau mit Sand zu bedecken. Dann aber schüttet er ihr den Sand auch übers Gesicht. Bahar erwacht und es ist so klar, wie es nur sein kann, und ohne Worte fast, dass das Verhältnis der beiden nicht mehr zu retten ist. Es werden im weiteren noch Worte fallen, aber die beiden verwenden sie entweder als Waffen. Oder sie sind stumpf und kraftlos, sie trennen, im Versuch zu verbinden, es lässt sich mit ihnen nicht mehr sagen, was man meint.

Die Wut, die in Isa ist, findet Ausdruck in einer so rabiaten wie verzweifelten Sexszene mit einer anderen Frau. Ceylan filmt das nüchtern, vom Beginn dieser Annäherung an, die zum Kampf wird, der auf das, was folgt, noch gar nicht zu zielen scheint. Ceylan lässt sehr viel Raum und Freiheit und Spiel für die Ambivalenz zwischen zwei einander nicht nahen, einander nicht einmal begehrenden Menschen in einem Zimmer, auf einer Couch. Er hat nicht - wie Akin - einen Einfall, sondern er findet für diese heiklen Momente eine Form und einen Blick auf die Figuren, die schonungslos sind und doch nicht denunziatorisch.

Auch "Iklimler - Jahreszeiten" bewegt sich von Istanbul ans Schwarze Meer. Der äußeren korrespondiert eine innere Bewegung, aber beides geht nie ineinander auf. Keines der Moment dieses Films ist auf ein anderes reduzierbar. Es geht nicht um symbolische Entsprechungen, nicht um das Herumschieben von Figuren in Schicksalsbilanzen. Der Reichtum von "Iklimer" ist ein Reichtum, der sich dem Aneinanderreiben von Winzigkeiten verdankt, dem Fehlgehen der Worte, den Verletzungen, die zwei sich zufügen, ohne zu wissen, ob sie das, was sie da tun, auch tun wollen. Es ist in diesem Film alles in der Schwebe, ohne die mindeste Vagheit. Hier hastet niemand von plot point zu plot point, aus Angst, etwas könnte ungezeigt, etwas könnte ungesagt bleiben. In "Iklimler" wird vielmehr das Zeigen des Ungesagten zum filmischen Ereignis.

Auf der anderen Seite. Deutschland / Türkei 2007 - Originaltitel: Yasamin kiyisinda - Regie: Fatih Akin - Darsteller: Baki Davrak, Nursel Köse, Hanna Schygulla, Tunçel Kurtiz, Nurgül Yesilçay, Patrycia Ziolkowska, Yelda Reynaud - FSK: ab 12 - Länge: 122 min.

Iklimler - Jahreszeiten. Türkei / Frankreich 2006 - Originaltitel: Iklimler - Climates - Regie: Nuri Bilge Ceylan - Darsteller: Ebru Ceylan, Nuri Bilge Ceylan, Nazan Kesal, Mehmet Eryilmaz, Arif Asçi, Can Özbatur - FSK: ab 16, nicht feiertagsfrei - Fassung: O.m.d.U. - Länge: 97 min.