Im Kino

Der Stoff greift über

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Elena Meilicke
20.11.2013. Goro Miyazaki tritt mit seinem wunderschönen Anime "Der Mohnblumenberg" aus dem Schatten seines Vaters. In Roman Polanski Zweipersonenstück "Venus im Pelz" spielt das Theater des Sadomasochismus mit dem Sadomasochismus des Theaters.


Was die besten Animes vor fast allen anderen Animationsfilmen, die ich kenne, auszeichnet, ist, dass ich intuitiv geneigt bin, ihren Figuren ein Leben außerhalb des jeweiligen Films zuzurechnen. Selbst in den gelungensten Filmen von Disney und Pixar beispielsweise scheinen die Protagonisten kaum mehr zu sein als die Funktion einer - meisterlich durchexerzierten - Plotidee (auch die Marketingabteilung wird ein Wörtchen mitgeredet haben, natürlich…); in den schönsten japanischen Zeichentrickfilmen habe ich dagegen den Eindruck, die Figuren nur ausschnittshaft "besitzen" zu können, dass ich sie nach dem Ende des Films in eine mir nicht zugängliche Welt entlasse, dass sie vielleicht auch zwischen den Szenen mit ganz anderen Dingen beschäftigt sind.

Vielleicht hat dieser Eindruck mit einer Aufmerksamkeit der Filme für alltägliche Gesten und Bewegungen zu tun, mit kleinen Beobachtungen, die die Filme an ihren Figuren zu machen scheinen, wenn diese nicht mehr ganz im Korsett der Handlung gefangen sind (eine nervöse Einstellung am Ende einer Einstellung zum Beispiel). Vielleicht aber auch mit der Geduld, die sich ein Film wie "Der Mohnblumenberg" für seine erste Szene nimmt: Gezeigt wird ein Frühstück in einem japanischen Haushalt im Yokohama der 1960er Jahre (Werbetafeln für die olympischen Spiele in Tokio 1964 datieren den Film). Umi, eine Schülerin, die Hauptfigur des Films, bereitet die Mahlzeit vor, nach und nach treffen die anderen ein: ihre Großmutter, zwei Geschwister, eine Studentin, eine Ärztin. Die Mutter, erfährt man später, ist im Ausland, der Vater tot. Die Gruppe, die in der ersten Filmszene am Frühstückstisch zusammenkommt und die fast nur aus Frauen besteht, ist keine Familie und doch wieder eine. Nachher wird es rausgehen, in die Schule, where the boys are, aber die ersten Minuten gehören dieser Gemeinschaft, die eher auf gegenseitigem Respekt gründet denn auf Sozialterror und die der Film ausführlich, Bild für Bild, Blick für Blick, Bissen für Bissen zusammensetzt. Nachher verfolgen wir nur den Weg einer dieser Figuren; die anderen würden, das zu erfühlen genügt diese erste Szene, ebenso interessante Geschichten zu erzählen haben.

Seinen eigenen familiären Hintergrund dürfte der Regisseur des Films, Goro Miyazaki, gleichzeitig als Segen und Fluch erlebt haben. Einerseits hat er als Sohn Hayao Miyazakis, des weltweit gefeierten Animationskünstlers und Gründer von Studio Ghibli, unbestreitbare Startvorteile in der Filmindustrie. Andererseits wirft sein Vater einen Schatten, aus dem vollständig herauszutreten schlicht unmöglich sein dürfte. Mit seinem Zweitwerk "Der Mohnblumenberg" hatte es Miyazaki doppelt schwer. Einerseits musste er gegen den (nicht ganz unverdienten) schlechten Ruf seiner ersten Regiearbeit, der chaotischen und zumindest für ein Debütwerk überambitionierten Fantasyerzählung "Tales from Earthsea" anfilmen; andererseits hatten die Ghibli-Studios unmittelbar nach "Earthsea" die zwei vielleicht schönsten Animationsfilme der letzten Jahre nachgelegt: Zuerst "Ponyo" von Miyazaki Senior, dann "Arrietty" von dessen langjährigem Mitarbeiter Hiromasa Yonebayashi. Umso höher ist einzuschätzen, was Goro Miyazaki mit "Der Mohnblumenberg" gelungen ist.

Es scheint dem Goro Miyazaki gut zu tun, dass er diesmal gar nicht erst versucht, mit den mythologiegesättigten Großprojekten seines Vaters konkurrieren zu wollen. Näher ist der Film bei den kleineren, leiseren Ghibli-Filmen vergangener Jahrzehnte wie "Mein Nachbar Totoro" oder "Die letzten Glühwürmchen". Im Kern ist "Der Mohnblumenberg" ein shomingeki - eines jener Alltagsdramen, die eine Spezialität des japanischen Kinos waren (nur noch selten: sind) und denen der Fluss des täglichen Lebens wichtiger ist als dramaturgische Überhöhungen.



Ein schöner Film ist "From Up on Poppy Hill" aber auch, weil er, anders als die strikt ihrer jeweiligen Gegenwart verhafteten klassischen shomingeki, ein Film aus der Perspektive der Erinnerung ist. Und weil er die Erinnerung nicht als etwas Feststehendes, problemlos Zugängliches beschreibt, sondern als etwas, das sich erst nach und nach und immer wieder neu zusammensetzt; zum einen aus der Erinnerung an Routinen, an Alltag - die Seefahrerflaggen vor dem Haus, die Boote am Horizont, Mahlzeiten, Kleidungsstücke; zum anderen aus Erinnerungen an das, was sich vom Alltag abhebt, für immer aus ihm herausstechen wird: die Reise in die Großstadt, nach Tokio (der Blick aus dem Zug auf die modernen Häuser, das Gewimmel auf den Straßen), die erste Fahrradfahrt auf dem Gepäckträger des hübschen, etwas geheimnisvollen und zunächst doch eigentlich so unglaublich arroganten Klassenkameraden. Und irgendwann beginnen sich andere Fenster zu öffnen, in andere, ältere Vergangenheiten, Erinnerungen, die anderen Leuten gehören und doch einen selbst betreffen. Wenn man sich einmal auf den Blick zurück einlässt, gibt es keine Sicherheiten mehr.

Wenn der Film doch nicht ganz oben neben den besten Ghibli-Filmen steht, dann liegt das vielleicht daran, dass Miyazaki zu viele Brüche doch wieder kitten will. Vor allem die recht ausführliche Geschichte um einen Studentenclub im mit allerlei kulturhistorischem Schrott zugemüllten "Quartier Latin", der von den Schülern vor dem Abriss gerettet werden soll, steht wie ein allzu grober Klotz in dem ansonsten enzückend fragilen Film herum; um sie formt sich eine klassische Spannungsdramaturgie, die wohl die übrigen Teile des Films zusammenhalten soll, die für sich selbst aber leider nicht allzu interessant ist. Was von dem Film bleibt, sind ganz andere Bilder, Bilder, die die verborgene Vielfalt im Alltäglichen entdecken. Jeden Tag werden die Seefahrerflaggen gehisst, jeden Tag geht der Blick raus aufs Meer, auf dem die großen Industriedampfer unterwegs sind, sich horizontal über die Leinwand schieben, sich dabei in immer neue Muster fügen.

Lukas Foerster

Der Mohnblumenberg - Japan 2011 - Originaltitel: Kokurikozaka kara - Regie: Goro Miyazaki - Laufzeit: 91 Minuten.

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Roman Polanski macht wieder Theater: nach Yasmina Rezas "Gott des Gemetzels" hat er jetzt ein Broadway-Stück adaptiert, "Venus im Pelz" von David Ives. Das Ergebnis ist kleiner, feiner, reduzierter. Zwei Menschen, eine Bühne, ein paar Requisiten, sonst nichts. Ein Film über die Macht der theatralen Illusion - wie man mit ganz wenig eine Geschichte erzählen kann. Der Schauplatz ist ein kleines Pariser Theater, draußen blitzt und donnert es wie in einem Schauermärchen, drinnen verzweifelt der junge Regisseur Thomas (Mathieu Amalric, dem jungen Polanski zum Verwechseln ähnlich) an der Besetzung seiner Hauptfigur. Er will Leopold von Sacher-Masochs Skandalroman "Venus im Pelz" auf die Bühne bringen, kann aber keine passende Vanda finden. Wer könnte sie spielen, jene eiskalte Venus im Pelz und mit Peitsche, der sich der junge Severin als Sklave unterwirft?

Da platzt - viel zu spät und mit verzotteltem Haar - eine nicht mehr ganz junge Frau in den leeren Theaterraum (Emmanuelle Seigner, Polanskis Ehefrau), die behauptet, Vanda zu heißen und die geeignete Schauspielerin zu sein. In ihrem Mund pappt eine Menge Kaugummi, an ihrem Körper ein Leder-Fetisch-Korsett. Lesend und deklamierend begeben Thomas und Vanda sich in die Sacher-Masoch'schen Erzählwelt, bis Fiktion und Realität ineinanderzufließen beginnen. Stück für Stück kehrt Vanda die Machtverhältnisse um und wandelt sich von der abhängigen Schauspielerin zur Frau, die die Zügel in der Hand hält: das Stück franst aus, der Stoff greift über. Das Theater des Sadomasochismus (immer inszeniert der Masochist, er erfindet Szenarien und dirigiert Figurenkonstellationen) überlagert sich mit dem Sadomasochismus des Theaters (seinen asymmetrischen Abhängigkeits- und Machtverhältnissen).



Es ist Vanda, die sich zur eigentlichen Regisseurin mausert, die hier eine Szene hinzuimprovisiert und dort mit ein paar schnellen Handgriffen die Lichtregie übernimmt. Dabei bleibt unklar, wer sie wirklich ist und woher sie kommt. Ihr Spiel kennt kein Außen, es hört nie auf. Ist Sacher-Masochs kalte Venus als Rachegöttin in die Welt zurückgekehrt, um einem eingebildeten Jungregisseur eine Lektion zu erteilen? Alles bleibt in der Schwebe. Immer schneller dreht sich das Rollenkarussell zwischen Vanda und Thomas, immer übermütiger gleiten die beiden in verschiedene Szenen und Situationen. Ein schnell übergestreiftes Jackett, eine strenge Brille - schon erscheint Vanda als Psychoanalytikerin, die dem auf der Couch liegenden Thomas seine heimlichsten Sehnsüchte auf den Kopf zusagt. Der wiederum schlüpft schließlich selbst in die Rolle von Vanda, mit Lippenstift und Stöckelschuhen.

In visueller Hinsicht ist Polanskis Theaterspaß nicht besonders verfeinert (Kameramann Pawel Edelman erzählt, Polanski und er hätten sich zur Vorbereitung Rob Marshalls Musicalverfilmung "Chicago" aus dem Jahr 2002 angesehen), trotzdem hält "Venus im Pelz" seine Zuschauer bei der Stange: Seigners und Amalrics erotisch aufgeladene Katz-und-Maus-Spielchen gehen runter wie Öl, der Film flutscht wie gutes Boulevardtheater das eben tut (das Stück läuft seit September 2013 auch im Berliner Renaissance-Theater). Da ist ein Hang zur ironischen Brechung und Profanierung, der Spaß macht: Vandas kostbarer "Pelz" ist nichts als ein ellenlanger Wollschal, außerdem staksen Vanda und Thomas bei ihren sadomasochistischen Verwerfungen durch die übriggebliebenen Kulissen eines Westernmusicals: eher Santa Fe denn Belle Epoque.

Das größte Vergnügen bereitet natürlich Vandas freche Respektlosigkeit, wie ein Kind im Kasperle-Theater freut man sich, wenn die anfangs dumm-ordinäre Schauspielerin sich als kluge und scharfe Kritikerin entpuppen darf: Sacher-Masoch, das sei keine Weltliteratur, sondern frauenfeindliche Pornografie, wettert sie an einer Stelle. Das wiederum dürfte Polanski zu der Beteuerung angeregt haben, ihn habe die "die feministische Seite" des Projekts interessiert. Ob es die wirklich gibt, sei dahingestellt - zu augenzwinkernd selbstironisch ist die Dekonstruktion sexistischer Stereotypen, zu sehr Parodie von Geschlechterkampf denn wirklicher Kampf. Vielleicht ist man an dieser Stelle nur bei der finalen Volte des verrückten Rollenspiels von "Venus im Pelz" angekommen - eben bei Polanski in der Rolle des Feministen. Mal ganz was Neues.

Elena Meilicke

Venus im Pelz - Frankreich 2013 - Originaltitel: La Vénus à la fourrure - Regie: Roman Polanski - Darsteller: Emmanuelle Seigner, Mathieu Amalric - Laufzeit: 96 Minuten.