Im Kino

Der Mensch ist Nebensache

Die Filmkolumne. Von Andrey Arnold, Lukas Foerster, Patrick Holzapfel, Michael Kienzl
02.11.2018. Vier Filme der diesjährigen Viennale: eine Naturdoku, die bis an die Schmerzgrenze geht; eine Ode ans Leben als Antwort auf den Tod; eine Kindheit, in der nicht soziale, sondern Objektbeziehungen dominieren; die ultimative Verkörperung aristokratischer Selbstzersetzung.


Das Wort "Naturdoku" hat einen betulichen Beiklang. In Österreich denkt man dabei unweigerlich an den TV-Dauerbrenner "Universum". Dieser Fixpunkt des öffentlich-rechtlichen Abendprogramms bietet schon seit 1987 ansehnliche Aufnahmen mehr oder weniger exotischer Flora und Fauna: Bunte Fantastik terrestrischer Art, deren vorzeitliche Aura wurlenden Gesellschaftsstress vergessen lässt - und neuerdings auch als zweckdienliches Hilfsmittel zum Benchmarking von HD-Fernsehern dient. Jedenfalls, trotz beachtlicher Reputation als Vorreiter in bildtechnischen Belangen: nur selten Thema cinephiler Debatten. Womöglich nicht ganz zu Unrecht - wenngleich das Experiment, sich eine "Universum"-Folge ohne onkelhaften Off-Kommentar zu Gemüte zu führen, interessante Erfahrungen zeitigen könnte.

Dieser Einstieg nur, um zu konstatieren: Auf Festivals laufen keine Naturdokus. Genauer gesagt: Es laufen kaum Filme, die als Naturdokus präsentiert werden, aus Angst vor dem oben erläuterten Trivialitätsstigma. Oder vor Esoterikvorwürfen, die Bilderbögen wie "Baraka" und "Koyaanisqatsi" anhaften. Schade eigentlich. Natur auf der Leinwand in Szene zu setzen, zumal ohne audiovisuelle Gemeinplätze, ist keine Pemperlaufgabe. Sie fordert Mut, Einfallsreichtum und Hingabe ans Material.

Eigenschaften, die man dem russischen Leinwandnomaden Viktor Kossakovsky nicht absprechen kann. Wie seinen verstorbenen Seelenverwandten Michael Glawogger treibt ihn zuvorderst eine unbändige Bildergier, das Bedürfnis, Dinge oder Un-Dinge, die man von dort aus, wo und wer man ist, nicht immer sehen kann, vielleicht nicht sehen darf und will, zumindest aber so noch nicht gesehen hat, mit seinem Kamerablick aufzusaugen. Etwa Menschlichkeit an der Schmerzgrenze, wie im Familienporträt "Belovy". Oder sonderbare Parallelitäten zwischen konträren Gefilden des Erdenrunds, wie in "¡Vivan las antípodas!". Schrecken und Schönheit, Schmerz und Euphorie - da macht Kossakovsky keinen Unterschied, sein Zugang ist, wie man so sagt, "poetisch", im Geiste glühender Kinoelegiker wie Artavazd Peleshian.

Sein neuer Film "Aquarela" will es besonders elementar. Er heißt "Aquarela", könnte aber auch "Die wundersame Welt des Wassers" heißen. Nur bedeutet bei ihm "wundersam" mitunter: "Was für ein Wunder, dass wir nicht schon längst ertrunken sind!" Die Gnadenlosigkeit und Gewalt, die in den Naturdoku-Passagen jüngerer Filme Terrence Malicks von einer strahlenden ästhetischen Decke im Zaum gehalten wird, bricht bei Kossakovsky ungeschminkt hervor. Er möchte sehen, wie Regentropfen in Superzeitlupe herabschweben, aber auch, wie Taifune durch Häuserschluchten peitschen, und fährt dafür wie ein Tornadojäger aus "Twister" mitten durchs Feuchtigkeitsbombardement. Er kostet die sublime Ruhe über den Eisdecken des Baikalsees aus, zeigt aber auch, wie schnell man unter selbiger verschwinden kann - und was für fremdartige, unheimliche Blüten allfällige Wasser-Aggregationen treiben können. Sein Blick ist mikro- und makroskopisch zugleich, schweift vom zitternden Tropfen zum berstenden Gletscher. Der Mensch ist Nebensache.

Zuweilen ist dieses Erhabenheitsgedöns ziemlich Metal. Kossakovsky scheint diese Ansicht zu teilen, was mir offen gesagt große Freude bereitet. Den lautstarken Post-Rock-Soundtrack zu "Aquarela" liefert Eicca Toppinen, Mitglied der finnischen Cello-Drescher "Apocalyptica". Seine schwergewichtigen Krawumms-Kompositionen untermalen auch eine ausgedehnte Passage, die man salopp Tsunami-Pornografie nennen könnte: Gigantische Wellen schwellen an und überschlagen sich, dräuend die Bildbreite ausfüllend, drauf und dran, in den Saal zu schwappen. Wer bestimmte Metal-Spielarten schätzt, kennt diese Bilder. Sie wachsen im Kopf, wenn die Musik die Oberhand gewinnt. In natura oder anderswo habe ich sie noch nie gesehen. Kossakovsky schon - und nun serviert er sie mir ungefragt auf dem Silver-Screen-Tablett, Ton, Tempo und Rhythmus präzise getroffen, als hätte er sie direkt aus irgendwelchen kollektiven Vorstellungsdimensionen gefischt. Dass das Kino zu derartigen Kunststücken imstande ist, haut mich nach wie vor um.

Andrey Arnold

Aquarela - Großbritannien, Deutschland 2018 - Regie: Victor Kossakovsky - Laufzeit: 89 Minuten.

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Zu Beginn fällt ins Auge, dass "I diari di Angela" nicht als Film von Yervant Gianikian über seine Anfang diesen Jahres verstorbene Lebens- und Arbeitspartnerin Angela Ricci Lucchi kreditiert ist, sondern als ein weiterer Film von Yervant Gianikian und Angela Ricci Lucchi. Dabei hatte sie nicht mehr daran gearbeitet. So würde das auch in Zukunft aussehen, sie würden weiter zusammen Filme machen, das hätten sie so besprochen, sagt der Filmemacher in Wien. Er trotzt dem Tod mit Zärtlichkeit und Arbeit. Es ist ein großer Liebesfilm geworden und ein bewegendes Festhalten des eigenen Schaffens.

Das Filmemacher- und Künstlerduo arbeitet seit den 1970er Jahren an einer Bewahrung der europäischen Geschichte von Gewalt. In ihrer Arbeit mit Archivmaterial spiegeln sich Geschichten des vergangenen Jahrhunderts, die wortwörtlich von ihrem Verschwinden und Zerfall bedroht werden. Bild für Bild arbeiten sich die beiden durch das Material, kolorieren es, vertonen es und schaffen einen filmischen Raum der Aufmerksamkeit, der das erkennbar macht, was im Material wohnt, nicht in den Gedanken jener, die es gedreht haben. In dieser Hinsicht sind die Filme von Gianikian und Ricci Lucchi die politische Fortführung des photogénie-Konzepts von Jean Epstein. Das, was der Apparat sieht, hat ein eigenes Leben.

In "I diari di Angela" besteht das Archiv jedoch nicht aus Fremdmaterial, sondern aus persönlich gesammelten Videos und Materialien. Vor allem das titelgebende Tagebuch spielt dabei eine Rolle. Mit einer unfassbaren Akribie und Schönheit hat Ricci Lucchi die Wege der beiden Filmemacher seit den 1970er Jahren dokumentiert. Tausende Seiten geschrieben und bemalt. Man spürt eine große Vorsicht in den zittrigen Händen des Mannes, der diese Notizen mit der Welt teilt. Der Film fokussiert größtenteils auf jene Exzerpte, zu denen es auch Filmmaterial gibt: eine bewegende Reise durch die aufgerissenen Narben des jugoslawischen Kriegsgebiets, die Suche nach der Geschichte von Gianikians Vater in Armenien und die Arbeit an der Dokumentation der überlebenden Avantgarde in Russland sechzig Jahre nach deren Hochzeit. Das Persönliche und Politische eng verschränkt. So erläutert Ricci Lucchi an einem Abend in einem Bett in Zagreb in einer sehr intimen Situation mit großer Klarheit und inspirierender Kraft die Moral ihres Filmemachens: wider das Vergessen und für das Stellen der großen Fragen.

Doch im Film gibt es Momente der Freude und Komik. Gianikian filmt Ricci Lucchi beim Kochen, man ist unter Freunden, diskutiert, lebt, reist und tanzt. Eine zentrale Episode erzählt mit von Ricci Lucchi gemalten Bilder vom Brandunfall Gianikians. Sie habe ihm das Leben gerettet. Wie viele große Filme, die aus einem Tod entstehen, ist "I diari di Angela" eine Ode an das Leben. Sie werden weiter gemeinsam Filme machen.

Patrick Holzapfel

I diari di Angela - Noi due cineasti - Italien 2018 - Regie: Yervant Gianikian, Angela Ricci Lucchi - Laufzeit: 125 Minuten.

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Mit einer selbstvergessenen (genauer: die Mühen, die zu ihrer Aufrechterhaltung notwendig sind, nicht mitreflektierenden) Geduld, wie sie wohl nur ins Spiel vertiefte Kinder aufbringen können, schneidet die achtjährige Yael mit einem winzigen Messer auf einem winzigen Hackbrett winzige Lebensmittelstücke in noch winzigere Scheiben. Anschließend wirft sie sie in einen winzigen Kochtopf und bereitet auf einem winzigen Herd (als Hitzequelle dient eine Kerze) eine winzige Mahlzeit zu. Die sie anschließend nicht ihrer Puppe serviert, sondern selbst aufisst.

Yael ahmt die Welt der "Großen" nach - indem sie sie im Miniaturmaßstab nachbaut. Die Kindheit als ein autonomes Wahrnehmungs- und Welterklärungsregime zu zeigen und dennoch nicht beim fantasmatisch verklärten Märchenkitsch zu landen, sondern einfach nur sorgfältig, Einstellung für Einstellung, ein Stück psychosoziale Realität zu rekonstruieren, das notwendigerweise immer schon eingelassen ist in einen größeren, historisch-antropologischen Zusammenhang: Das ist die große Leistung von "Nervous Translation", einem Kleinod das philippinischen Independentkinos.

Nicht an der im Modus des wahlweise nostalgischen oder desillusionierenden Rückblicks nach Sinn und Prägung fragenden Erzählung einer Kindheit ist der Regisseurin Shireen Seno gelegen, sondern an einer nichthierarchischen Inventarisierung von Dingen, Texturen, Bildern und Menschen der Kindheit. Wobei Menschen keine allzu große Rolle spielen, Yael wächst in einem bevorhangten, von der Außenwelt weitgehend isolierten Mittelklassehaushalt auf, die Mutter liegt nach der Arbeit regungslos auf der Couch, der Vater verdient sein Geld im Ausland, er schickt der Familie Audiokasetten, die von Yael angehört, nachgesprochen, aber auch mit Kugelschreibern bearbeitet werden. Dominant sind durchweg nicht soziale, sondern Objektbeziehungen.

Auf einer abstrakteren Ebene ließe sich das Verhältnis der Welt der Kindheit zur Welt der Erwachsenen mit "Nervous Translation" beschreiben als Mimesis unter den Bedingungen der Maßstabsverzerrung, beziehungsweise des Kategorienwechsels. Interessanter als die Fernsehnachrichten - wir befinden uns in den Philippinen der späten 1980er Jahre, die Marcos-Diktatur ist kurz vorher zu Ende gegangen - ist für Yael ein abstruser japanischer Werbeclip; und am allermeisten fasziniert sie ihre eigene Reflexion, die nach dem Ausschalten auf dem Bildschirm erscheint; nicht einfach nur ein Spiegelbild, sondern gleichzeitig Nachbild der vorher dort betrachteten popkulturellen Sensationen.

Lukas Foerster

Nervous Translation - Philippinen 2017 - Regie: Shireen Seno - Darsteller: Jana Agoncillo, Angge Santos, Sid Lucero - Laufzeit: 90 Minuten.

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In "Roi Soleil" versucht der katalanische Regisseur Albert Serra einen Gedanken, den er bereits mit seinem Spielfilm "Der Tod von Ludwig XIV." sowie dem Theater-Projekt "Liberté" an der Berliner Volksbühne bearbeitet hat, im Bereich der zeitgenössischen Kunst fortzuführen. In jeder der drei Arbeiten geht es um einen im 17. Jahrhundert verwurzelten, langsam dahinsiechenden Adel, der sich erfolglos an leer gewordene Rituale und seiner schwindenden Macht festkrallt. Diesmal handelt es sich um die filmischer Zuspitzung einer Performance, die letztes Jahr in einer Lissaboner Galerie zu sehen war. Serras Stammschauspieler Lluís Serrat verkörpert darin den Sonnenkönig, wie er schleppend seinen fülligen Leib durch den kargen, in ein aggressiv rotes Licht getauchten Raum bewegt, dabei stöhnt, wimmert und innehält - bis er dann irgendwann tot ist.

Dadurch, dass es diesmal weder Sprache noch eine Handlung gibt, tritt das Sinnliche in den Vordergrund. Serrat beherrscht mit seiner sehr eigenen, stets etwas teilnahmslos wirkenden körperlichen Präsenz und seinem weichen, mit einem Clark-Gable-Schnauzer veredelten Gesicht die Bilder. Schön sind besonders die Großaufnahmen, in denen er sein unaufgeregtes Spiel entfalten kann. Wenn ihn dabei ständig Bauchschmerzen überwältigen und er sich trotzdem immer wieder eine neue Praline einfährt, wird er zur ultimativen Verkörperung aristokratischer Selbstzersetzung.

Obwohl Serra immer mit einer bewussten, teilweise durchaus provokativen Entdramatisierung arbeitet, scheinen sich seine Qualitäten - die galanten Abschweifungen etwa oder der morbide Humor - in diesem skizzenhaften Format nur bedingt zu entfalten. "Roi Soleil" ist eine Konzentration auf den Raum, den Körper und seine nonverbalen Laute, dabei aber auch eine Reduktion, bei der letztlich mehr verloren geht als gewonnen wird, bei der oft nur noch das bloße Verstreichen der Zeit im Vordergrund steht. Wenn der Film am Ende auch noch seinen Illusionismus bricht, die Galerienbesucher miteinbezieht und den Regisseur für die süffisante Schlusspointe auftreten lässt, fühlt es sich endgültig so an, als hätte man in erster Linie einem müden Scherz beigewohnt.

Michael Kienzl

Roi Soleil - Spanien 2018 - Regie: Albert Serra - Darsteller: Lluís Serrat - Lauzeit: 61 Minuten.

Mehr Informationen zum Festival: www.viennale.at.