Bücherbrief

Poetische Ironie

05.08.2009. Die weißrussische Dichterin Valzhyna Mort beweist Weltliteraturformat. Joseph O'Connor besingt die irischen Auswanderer des 19. Jahrhunderts. Christian Pernath schafft einen neuen Krimihelden: einen dicklichen einsamen Tierarzt in der Bretagne. Daniel Pennac richtet Schulversager auf. Guy Delisle zeichnet eine Reportage über Burma. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats August.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Frühjahr 2009, den Leseproben in Vorgeblättert und in den Büchern der Saison vom Herbst 2008.


Valzhyna Mort
Tränenfabrik
Gedichte
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2009
Kartoniert, 86 Seiten, 10,00 Euro

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Die weißrussische Dichterin Valzhyna Mort gehört zu den aufsteigenden Sternen des östlichen Literaturhimmels, und auch die deutschen Kritiker besingen sie mittlerweile hymnisch. In der Zeit bescheinigt Insa Wilke der jungen, 1981 in Minsk geborenen Mort nicht nur Weltliteraturformat, sondern auch einen souveränen Umgang mit erotischen Motiven und manchmal gar die "Kraft eines Walt Whitman". In der SZ gefällt Helmut Böttiger besonders die Musikalität der Gedichte ("Schrammelmusik mit Punk- und Kalinka-Elementen") und sieht eher Anklänge an die junge Ingeborg Bachmann. Allerdings komme Morts Art brut wesentlich schroffer daher, wie zum Beispiel in ihrem Gedicht auf die weißrussische Sprache, die Mort erst als Jugendliche gelernt hat und die Katharina Narbutovic "wunderbar tönend" übertragen hat: "diese sprache existiert nicht, / sie hat nicht einmal ein system. / ein gespräch mit ihr zu führen ist unmöglich - / sie schlägt einem sofort in die fresse". Hier kann man sie einige Gedichte lesen hören. Und hier ein Auftritt im Bowery Poetry Club in New York 2007.




Tom McCarthy
Achteinhalb Millionen
Roman
Diaphanes Verlag, Berlin 2009
Gebunden, 304 Seiten, 19,90 Euro



Bei diesem Roman des Briten Tom McCarthy scheint es sich um kein ganz leichtes Vergnügen zu handeln, aber um ein großes, wie die begeisterten Rezensionen nahelegen. Der Plot zumindest klingt vertrackt: Ein Mann verliert nach einem Unfall sein Gedächtnis und versucht sich durch beständiges Re-enactment bestimmter Situation seine Authentizität wiederzugeben. Es geht also um Identität, Kunst und die Konstruktion von Wirklichkeit. Lavinia Meier-Ewert feiert in der taz "Achteinhalb Millionen" als intelligentes und urkomisches Experiment - und als ein "erzähltes Baudrillard-Zitat", in dem sich die Simulation schließlich selbst ein Bein stellt. Alexander Müller (FAZ) hat das "Wunder der Substantiation" erlebt und findet dies ebenfalls "fesselnd, aberwitzig und philosophisch durchdacht".


Joseph O'Connor
Wo die Helden schlafen
Roman
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2009
Gebunden, 558 Seiten, 22,95 Euro



"Wo die Helden schlafen" ist der zweite Teil von Joseph O'Connors Trilogie über die irischen Auswanderer des 19. Jahrhundert. In der "Überfahrt" hatte O'Connor von der großen Atlantiküberquerung erzählt, mit der sich eine Millionen Iren vor der großen Hungersnot in die USA retteten. Im vorliegenden Roman nun schildert er, wie eben diese Flüchtlinge in das Elend des Amerikanischen Bürgerkriegs stürzen. Ulrich Sonnenschein preist O'Connor in der FR als "avanciertesten" der irischen Autoren und seinen Roman als beeindruckend vielschichtig. Friedhelm Rathjen stellt in der NZZ klar, dass trotz einer gewissen Actionlastigkeit die literarische Qualität dieses "abgründigen" Werkes nicht in Frage steht und ihm - im Gegensatz zum deutschen Titel - jegliches Pathos fremd ist.


Maeve Brennan
Der Morgen nach dem großen Feuer
Erzählungen
Steidl Verlag, Göttingen 2009
Gebunden, 160 Seiten, 16,00 EUR



"Durch und durch mondän" findet die FAZ diese Erzählungen der irisch-amerikanischen Schriftstellerin Maeve Brennan, die in den fünfziger und sechziger Jahren unter anderem für Harper's Bazaar und den New Yorker schrieb. Gut vorbereitet auf Manhattans Upperclass hat sie offenbar das Leben im katholischen Dublin in den Zwanzigern, in dem auch diese Erzählungen angesiedelt sind. Mitleidlos entlarvt sie darin die Heucheleien ihrer Figuren, von der Toilettenfrau über die unwillige Braut bis zur eigenen Mutter. Kein einziges Klischee hat Ingeborg Harms (FAZ) hier entdeckt, stattdessen Scharfsinn und geistige Freiheit. In der FR fröstelt es Sabine Peters zwar bei einigen arg unterkühlten Geschichten, sie zeigt sich aber dennoch gebannt von dem brillanten Stil.


Christian Pernath
Ein Morgen wie jeder andere
Krimi
dtv, München 2009
Kartoniert, 218 Seiten, 14,90 EUR



Christian Pernaths Krimi "Ein Morgen wie jeder andere" verknüpft den Mord an einer Familie in einem bretonischen Dorf mit der sich anbahnenden zarten Beziehung zwischen einer verletzten jungen Frau und dem Tierarzt Belouard, der sie verletzt auf einem Acker fand und mit nach Hause nahm. Dieser Belouard ist der eigentliche Held des Buches: ein freundlicher, dicker, einsamer Mann. Die eigentliche Krimihandlung - der Mord an der Familie - scheint nur eine untergeordnete Rolle zu spielen. In der Zeit ist Tobias Gohlis hingerissen von Pernaths Fähigkeit, die Beziehung zwischen dem schüchternen Tierarzt und der Frau mit knappsten Mitteln zu skizzieren. Und Kolja Mensing vergleicht den Roman im Tagesspiegel mit den romans durs von George Simenon, jenen Romanen, die ohne Maigret auskommen und "unter dem Deckmantel einer vermeintlich leicht erzählten Geschichte tatsächlich einen gnadenlosen Blick auf die dunkle Seite der menschlichen Seele" werfen.


Hörbuch

Charles Baudelaire
Les Fleurs du Mal - Die Blumen des Bösen
4 CDs
Parlando Verlag, Hamburg 2009, 24,95 Euro



Diese Hörbuch-Fassung von Baudelaires Großgedicht "Les Fleurs du Mal" hat unter den Kritikern bisher nur Wolfgang Schneider begeistert, dies aber nachhaltig. Hier stimmt einfach alles, schreibt er in der FAZ: Baudelaires ungeschminktes Paris, Wolfgang Kemps Prosa-Übersetzung und Christian Brückners Lesung, die dem ganzen erst den rechten Hohen Ton verleiht. Eine eindeutige Hörempfehlung.


Sachbuch

Daniel Pennac
Schulkummer
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2009,
288 Seiten, 18,95 Euro

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Daniel Pennac war ein schlechter Schüler. Dann war er ein Lehrer. Dann einer der wichtigsten und - manchmal - witzigsten Krimiautoren Frankreichs (mehr hier). Jetzt geht er zurück in die Schule und erinnert sich seiner Zeit als Hinterbänkler, Niete und Versager, singt ein Loblied auf liebevolle Lehrer, die Schüler aus ihrer Isolation und Blockade hervorholen können und streut auch reflexive und theoretische Passagen ein. Christian Geyer liest das Buch in der FAZ durchaus als Ratgeber. Wie auch die Kritiker von SZ und Zeit ist er von Pennacs Ansatz begeistert: Den Schülern kommt er nicht mit Kuschelpädagogik, sondern mit Vermittlung von Enthusiasmus. Und den Lesern kommt er nicht als Pädagoge, sondern als Schriftsteller. Im Video erklärt Pennac: "Ich war ein schlechter Schüler vom Lernen des Alphabets bis zum Abitur, bei dem ich die 20 Jahre überschritten hatte. Es gibt keinen glücklichen Versager." Aber er erzählt auch, wie ihm das Wissen über diese Art des Unglücks als Lehrer später half.




Ben Kiernan
Erde und Blut
Völkermord und Vernichtung von der Antike bis heute
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2009,
911 Seiten, 49,95 Euro

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Die Verfolgung ganzer Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer ethnischen, nationalen oder religiösen Zugehörigkeit ist kein Phänomen der jüngeren Zeit, erfährt der vom finsteren 20. Jahrhundert geprägte Leser mit Erstaunen. Die Geschichte der Völkermorde zieht sich seit der Antike durch das Gedächtnis der Menschheit. Der in Yale lehrende Historiker Ben Kiernan hat sie in einer über 900-seitigen Studie materialreich aufgearbeitet. Die bisherigen Rezensenten waren beeindruckt. Immer wieder begegnen Kiernan laut Thomas Hummitzsch in der taz dieselben Motive: Rassismus, Expansionismus, Verklärung des "eigenen" Bodens und Sehnsucht nach einer idealisierten Vergangenheit. Ein "Standardwerk", so Hummitzsch. Und ein "großer Wurf" laut Thomas Speckmann in der NZZ, der ebenfalls besonders auf die von Kiernan herausgearbeiteten immer wiederkehrenden Motive eingeht, in deren gezielter Bekämpfung die Lehre für die Zukunft bestehen müsste.


Guy Delisle
Aufzeichnungen aus Birma
Reprodukt Verlag, Berlin 2009,
272 Seiten, 20,00 Euro

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Reportage-Comics, das gibt es auch. Der Frankokanadier Guy Delisle ist der bekannteste Vertreter des Genres. Über ein Jahr lebte er mit seiner Familie in Burma, wo seine Frau für eine NGO arbeitete. Delisle zeichnet sowohl sein Privatleben als auch seine Umgebung in Burma. Der Band hat über 270 Seiten. Thomas von Steinaecker bezeichnet den Comic in der SZ als "seltenen Glücksfall": Nie, meint Steinaecker, gehe Delisle auf einen journalistischen Konfrontationskurs, sondern berichte vielmehr von den Misslichkeiten eines jungen Vaters in einem vom Militär beherrschten Alltag. Der episodenhafte Erzählstil und die minimalistischen Darstellungen ergeben für Steinaecker dabei eine "poetische Ironie". Christoph Haas lobt in der taz Delisles Sinn fürs Detail.


Ilko-Sascha Kowalczuk
Endspiel
Die Revolution von 1989 in der DDR
C. H. Beck Verlag, München 2009,
602 Seiten, 24,90 Euro

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Es ist in diesem Jahr eine Fülle von Büchern zum Mauerfall erschienen. Liest man die durchwegs positiven Kritiken zu Ilko-Sascha Kowalczuks "Endspiel", so könnte es sich hier um ein historisches Standardwerk handeln, das über den Jahrestag hinaus Bestand hat. Peter Voss hebt in der FAZ hervor, dass dem breiten Publikum die Vorgeschichte der Wende jenseits der bekannten Marksteine gar nicht so bekannt sei - hier fand er sie aufgearbeitet. Die Schilderung der Bürgerrechtsbewegung, der verschiedenen Phasen des Protests, des Rücktritts Honeckers und des Demokratisierungsprozesses findet er überaus spannend. Zug um Zug entfalte der Autor das "Endspiel zwischen Regime und Regimegegnern". Auch Franziska Augstein in der SZ und Christoph Kleßmann in der Zeit empfehlen dieses "erfahrungsgesättigte, bunte, meinungsfreudige, Widerspruch herausfordernde und höchst lebendig geschriebene" Buch.


Peter von Matt
Wörterleuchten
Kleine Deutungen deutscher Gedichte
Carl Hanser Verlag, München 2009,
220 Seiten, 17,90 EUR

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Die beste aller Rubriken im FAZ-Feuilleton ist die von Marcel Reich-Ranicki seit Jahrzehnten betreute "Frankfurter Anthologie". Der Germanist Peter von Matt versammelt hier einige seiner Gedichtinterpretationen für diese Rubrik, die den großen Vorteil hat, dass sie durch Kürze zu Präzision zwingt. Kollege Harald Hartung zeigt sich in der FAZ nicht ganz überraschend entzückt von den Interpretationen. Aber auch Tobias Lehmkuhl spart in der SZ nicht mit Lob. Besonders freut ihn von Matts Bandbreite und seine Offenheit auch für unbekanntere Autoren. Ein gutes Geschenk für Lyrikfreunde und solche, die es werden sollten.


Bildband

Frida Kahlo
Fridas Kleider
Aus dem Museo Frida Kahlo, Mexico City
Schirmer und Mosel Verlag, München 2009,
189 Seiten, 49,80 Euro

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Das Buch des Monats aus der Rubrik "Vom Fetisch zum Teetisch". Im Klappentext zu diesem Bildband heißt es: "Als sie 1954 starb, hatte ihr Mann Diego Rivera verfügt, Fridas Ankleidezimmer für 50 Jahre verschlossen zu halten. 2004 war es soweit: Türen, Schränke und Schubladen durften geöffnet werden, und was zum Vorschein kam, übertraf alle Erwartungen." All die Kleider, die man von Frida Kahlos Gemälden kennt, existieren in Wirklichkeit. Rose-Maria Gropp war in der FAZ überwältigt. Der opulente Band ist mit einem kundigen Essay der Anthropologin Marta Turok angereichert.