Bücherbrief

95 freundliche Sonnenthesen

11.01.2021. Laurent Binet stellt mit Witz, Verve und Ironie die Weltgeschichte auf den Kopf, indem er die Inkas Europa erobern lässt. Elif Shafak schickt eine dicke Frau und einen kleinen Mann satt, farbig und voller Metaphern auf den Basar der Blicke. Markus Ostermair wandert mit einem Obdachlosen zu den gemiedenen Orten Münchens, und Tobias Roth öffnet eine wahre Schatztruhe der Renaissance. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Ali Smith
Winter
Roman
Luchterhand Literaturverlag. 320 Seiten. 22 Euro

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Genau ein Jahr ist es her, dass der Roman "Herbst" von Ali Smith in den deutschen Feuilletons gefeiert wurde, nun liegt "Winter" vor - und die KritikerInnen jubeln erneut. FAZ-Kritikerin Sandra Kegel möchte gar nicht glauben, dass die schottische Schriftstellerin immer noch als Geheimtipp gilt: So unaufdringlich und durchdacht fangen nur wenige AutorInnen große Themen ein, findet sie. Wenn Smith hier eine Fremde an einem familiären Weihnachtsfest teilnehmen lässt, dabei unter viel Gelächter, Traurigkeit und Protest Themen wie verkorkste Beziehungen, Kunst, Flüchtlingskrise oder die Macht der Großkonzerne diskutiert, ist Kegel so mitgerissen, dass sie umso sehnsüchtiger die Folgebände der Tetralogie erwartet. taz-Kritikerin Eva Tepest stört gar nicht, dass der Roman im Original bereits 2017 erschienen ist: Auch heute hat der spannungsreiche Text noch als Spiegel der Verhältnisse im Post-Brexit-Britain Bestand, versichert sie. Im Dlf Kultur liest Johannes Kaiser eine "Spukgeschichte" mit zahlreichen Anspielungen auf die "Befindlichkeit einer Nation" - und in der FR ist Judith von Sternburg geradezu berauscht von diesem "literarischen Feuerwerk", in dem neben Shakespeare und Dickens auch lauter familiäre Abgründe herumgeistern. Ausdrücklich lobt sie zudem Übersetzerin Silvia Morawetz. Im Standard staunt Michael Wurmitzer über die "flirrende Unmittelbarkeit" des Romans.

Elif Shafak
Schau mich an
Roman
Kein und Aber Verlag. 397 Seiten. 24 Euro

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Dieser frühe Roman der türkischen Schriftstellerin Elif Shafak mag nicht so politisch sein wie spätere Romane der Autorin, räumt Dirk Fuhrig im Dlf Kultur ein. Gern gelesen haben die KritikerInnen ihn dennoch: "Satt, farbig und voller Metaphern" nennt Laura Weißmüller in der SZ die Geschichte, in der ein Paar, bestehend aus einer sehr dicken Frau und einem kleinwüchsigen Mann, ganz unterschiedlich mit den starrenden Blicken der anderen umgeht. Shafaks überbordender Stil passe hervorragend zum Thema des Buchs: Wie das Auge auf einem bunt wimmelnden türkischen Basar unterschiedliche Details fokussiert, so streife auch diese Geschichte durch Orte, Zeiten und Fiktionen, um ein leuchtendes Bild nach dem anderen einzufangen. In der NZZ taucht auch Irene Binal hinab in die märchenhafte Tiefe des Romans, in dem ihr Sultane und Eunuchen, Zyklopen und Wahrsager begegnen. Das mitunter Barocke und nicht immer Pointierte des Romans verzeiht sie Shafak angesichts der genauen Beobachtungen gern. Im Literarischen Quartett des ZDF wurde das Buch von dem Schauspieler Ulrich Matthes empfohlen. Für den SWR2 bespricht Theresa Hübner den Roman.

Markus Ostermair
Der Sandler
Roman
Osburg Verlag. 350 Seiten. 20 Euro

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Die großen Verlage sollten sich schämen, diesen Roman des Münchner Autors Markus Ostermair nicht mit ins Programm genommen zu haben, meint SZ-Kritiker Alex Rühle. Umso schöner, dass der kleine Osburg Verlag sich an das Debüt herangewagt hat, das kein einfaches Thema aufgreift: Ostermair erzählt uns hier von dem Obdachlosen Karl Maurer, der von Suppenküche zu Kleiderkammer durch München wandert und immer wieder an sein altes Leben als Mathematiklehrer mit Frau und Tochter zurückdenkt. Rühle bewundert nicht nur die Milieukenntnis des Autors, der in einer Bahnhofsmission gearbeitet hat, sondern er lobt auch Ostermairs herausragende Beobachtungsgabe, die ganz auf Kitsch, Moral und Larmoyanz verzichte. Ein Buch, das ihn an die unbekannten, gemiedenen Orte Münchens führt und ihm ganz nebenbei in Zeiten gepflegten Jammerns die Augen für eine andere Welt öffnet. taz-Kritikerin Maria Müller hebt besonders die Empathie und Figurenzeichnung des Autors hervor, der ihr facettenreich nahebringt, was Obdachlosigkeit bedeutet: Armut, Repression, Erniedrigung. Dem Buch gelingt der Spagat zwischen Politik und Poesie, lobt sie. Auf YouTube ist eine neunzigminütige Lesung des Autors verfügbar.

Laurent Binet
Eroberung
Roman
Rowohlt Verlag. 384 Seiten. 24 Euro

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Kaum ein Buch wurde im Dezember häufiger besprochen als Laurent Binets Roman "Eroberung". Vielleicht weil der französische Autor in Zeiten, in denen die Welt ohnehin Kopf steht, die Weltgeschichte noch einmal komplett umkrempelt. Binet malt sich aus, wie Kolumbus von Indigenen in der Karibik überwältigt wird und dann der Inkaherrscher Atahualpa aufbricht, den Habsburger Karl V. zu töten und dessen Nachfolge anzutreten. Luther muss ebenfalls dran glauben. Atahualpa verbreitet an dessen Stelle 95 freundliche "Sonnenthesen" und beauftragt Michelangelo mit einer Statue des Sonnengottes Viracocha. Die KritikerInnen haben größtes Vergnügen bei der Lektüre: Witz, Ironie und die überraschend einleuchtenden Einfälle Binets, der für seinen Roman "HHhH" einst mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet wurde, hebt Dirk Fuhrig im Dlf Kultur hervor, Rasanz, schnelle Sprachstilwechsel gewürzt mit hoher historischer Kenntnis bewundert Joseph Hanimann in der SZ. In der FR freut sich Kerstin Klamroth, dass Binet endlich für Gerechtigkeit sorgt: Die Eroberer schaffen die Inquisition ab, sorgen für Religionsfreiheit und geben den Bauern Rechte. Während Fuhrig im Dlf Kultur diesen Mix aus Karl May, Don Quichote und Monty Python gerade wegen des Verzichts auf Kolonialkritik empfiehlt, liest FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen das Buch als literarisches Dokument einer globalisierten Welt, die nicht mehr zwischen eigener und fremder Bevölkerung unterscheidet. Im NDR empfiehlt Tobias Wenzel den Roman.

Olive Schreiner
Die Geschichte einer afrikanischen Farm
Manesse Verlag. 608 Seiten. 28 Euro

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Im Jahr 1883 erstmals erschienen, sorgte das Debüt der südafrikanischen Schriftstellerin Olive Schreiner in Südafrika für Furore. Die damals 28jährige Autorin schrieb zunächst unter männlichem Pseudonym über weibliche Selbstbestimmung, den Farmalltag unter der weißen Kolonialherrschaft, sowie das Aufbegehren gegen eine gewaltvolle, "bigotte und verlogene Gesellschaft", erläutert uns Manuela Reichart im Dlf Kultur. Sie empfiehlt dringend, diesen frühen feministischen Klassiker wiederzuentdecken. Auch SZ-Kritiker Nicolas Freund staunt über die Aktualität der Geschichte, in der er der jungen Lyndall folgt, die mit der Ignoranz und Bigotterie ihrer Umwelt kämpft. Modern sind die Themen wie Individualismus und Feminismus, aber auch Schreiners Erzählton und die philosophisch-psychologischen Figurenintrospektionen, versichert Freund, der auch das aus der Ausgabe von 1968 übernommene Nachwort von Doris Lessig und die "sensible" Übersetzung durch Viola Siegemund lobt. Für Rbb-Kultur bespricht Katharina Döbler den Roman.


Sachbuch

Tobias Roth
Welt der Renaissance
Galiani Verlag. 640 Seiten. 89 Euro

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Schier überwältigt sind die RezensentInnen nach dem Blättern in Tobias Roths Prachtband zur Renaissance. Wobei - das räumt der in der FAZ rezensierende Romanist Andreas Kablitz gleich ein - es höchste Zeit sei, den Begriff der Renaissance, verstanden als Wiedergeburt des Menschen, zu verabschieden. Wie die anderen KritikerInnen auch, lobt allerdings auch Kalbitz, dass der Lyriker, Verleger und Essayist Tobias Roth endlich die Schriften, Essays und Gedichte der Renaissance würdigt. Eine wahre Schatztruhe öffnet FR-Kritiker Arno Widmann, der in Texten von 63 AutorInnen von Francesco Petrarca bis Torquato Tasso über die Pest, den Streit der Geschlechter oder die Ruinen Roms schwelgt, wenngleich er kritisch anmerkt, dass Themen wie Wissenschaften, Frauen, jüdische Kultur oder der Rassismus der spanischen Reconquista hier leider nicht behandelt werden. Dennoch empfiehlt er das Buch nachdrücklich als "Anthologie humanistischer Dichtung". Ganz hingerissen insbesondere wegen der Gestaltung des Bandes durch Hanne Mandik, Manja Hellpap und Lisa Neuhalfen sind vor allem Alexander Cammann in der Zeit und Bernd Boeck in der NZZ: Zu bewundern sind ornament-verzierte Handschriften, der Naturgeschichte des Plinius etwa oder der Biografien Plutarchs, und exzellente Abbildungen von Holzschnitten und Druckkunstwerken. So lässt es sich herrlich an der Seite von Leonardo, Michelangelo oder Cellini durch Italien flanieren, findet Roeck, der einmal mehr über die mitunter pornografische Derbheit der Epoche staunt.

Werner Lorenz, Roland May, Hubert Staroste
Ingenieurbauführer Berlin
Michael Imhof Verlag 2020, 400 Seiten, 29,95 Euro

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Zur Zeit kann man ja nur traurig online zu seinen Sehnsuchtsorten reisen. Da wir aber spazieren gehen dürfen, könnte auch ein Blick auf die nähere Umgebung lohnenswert sein. Wunderbare Spaziergänge durch Berlin kann man zum Beispiel mit dem "Ingenieurbauführer Berlin" planen: Vom Wellblechpalast zur Belgienhalle oder dem Kuppelsaal im Haus des Deutschen Sports zum ehemaligen Kühlhaus am Osthafen - man kommt an die frische Luft und lernt noch was mit diesem Führer, versichert in der Welt Dankwart Guratzsch, der mit dem reich bebilderten Buch in der Hand die "innere Wahrheit" von 111 Bauwerken in seiner Stadt entdeckt. Da lernt selbst der Einheimische noch Neues. Wer nicht in Berlin wohnt, findet zu seiner Stadt vielleicht einen Architekturführer, der zu Entdeckungen ermuntert.

Ulrich Weber
Friedrich Dürrenmatt
Eine Biografie
Diogenes Verlag. 752 Seiten. 28 Euro

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2021 erwarten uns wieder einige Jubiläen: Todestage von Dante und Napoleon, 100. Geburtstage von Sophie Scholl, Joseph Beuys - und Friedrich Dürrenmatt, dem Ulrich Weber, Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern, eine wie die KritikerInnen finden ganz formidable Biografie spendiert hat. Steile Thesen sind hier nicht zu erwarten, meint Marc Reichwein in der Welt, der stattdessen mit Genauigkeit und einer gewissen Zurückhaltung in Bezug auf eine mögliche neue Dürrenmatt-Konjunktur belohnt wird: Dürrenmatt war nie weg, lernt der Rezensent und bekommt nicht zuletzt dank Webers Ausflügen in Erzählmuster, Motive und Formen in Dürrenmatts Texten Lust auf alte Schullektüren. Dlf-Rezensentin Eva Pfister ist mit dem Schweizer Dramatiker, Romancier und Maler nach der Lektüre gleich per du, so nahe fühlt sie sich Dürrenmatt, wenn ihr Weber auf über 700 Seiten das "Erzählgenie" in seiner Zeit, sein Werk, seine Abgründe (etwa die Sympathien für die "Frontisten") und auch wenig bekanntes Privates vorstellt. Überraschende Einsichten verdankt Jörg Magenau dem Buch, wie er in der SWR2-Buchkritik verrät. Und im NDR spricht Biograf Ulrich Weber über Dürrenmatts Erfolg.

Naomi Pollock
Japanisches Design seit 1945
DuMont Verlag. 448 Seiten. 58 Euro.

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Längst überfällig ist dieser Bildband zu japanischem Design seit 1945, den die amerikanische Architektin und Autorin Naomi Pollock nun vorlegt. Entsprechend begeistert stürzt sich auch Dlf-Kultur-Kritikerin Eva Hepper auf das "opulente" Werk, in dem sie bahnbrechende Entwürfe und Objekte von achtzig Designern und DesignerInnen entdeckt. Ob Kenji Ekuans 'Kikkoman' Sojasaucen-Flasche, der 'Walkman' von Sony, Möbel, Leuchten, Verpackungen bis hin zu den Modestücken Issey Miyakes, den Alltagsgegenständen der Firma Muji oder der Kleidung von Uniqlo - die Kritikerin schwelgt nicht nur in den Bildern, sondern lernt in "aufschlussreichen und spannenden" Begleittexten über die Entstehung und die Schöpfer der Werke auch, wie japanisches Design die Welt eroberte. Im WDR3-Interview erklärt der Design-Experte Rene Spitz anhand des Buches die Schönheit und Schlichtheit japanischen Designs.

Mickaël Launay
Die Regenschirm-Formel
oder Die Kunst, die Welt mit klarem Verstand zu betrachten
C.H. Beck Verlag 2020, 281 Seiten, 22,95 Euro

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Wir alle bewegen uns mit Lichtgeschwindigkeit. Glauben Sie nicht? Es ist nur eine Frage der Perspektive. Das lernt man aus diesem Buch des französischen Mathematikers Mickaël Launay. Die Kritiker haben das Buch mit wachsendem Enthusiasmus gelesen: "Perspektivwechsel, so macht das kurzweilige Buch des Mathematikers deutlich, sind oft der beste Weg, um zu neuen Erkenntnissen zu gelangen. Auch in der Wissenschaft", lernt etwa Gerrit Stratmann vom Dlf Kultur. Launay zeigt uns, wie man mit unlösbar scheinenden Problemen umgeht, erklärt Manon Bischoff im Spektrum: "Man schafft eine mathematische Modellwelt, die sich von der echten unterscheidet, in der sich die Aufgabe aber lösen lässt, und überträgt das Ergebnis anschließend wieder in die Realität." SWR-Kritikerin Margrit Irgang fühlt sich nach der Lektüre "angeregt und hellwach". Ein dickes Lob geht auch an Chloé Bouchaour, deren Zeichnungen Launays Exkurse laut Stratmann fantasievoll verdeutlichen.