Bücherbrief

Von schmatzender Sprachlust

07.06.2021. Mathias Enard fährt mit einem Pariser Ethnologen aufs Land und malt ein wunderbares Wimmelbild voller Witz, Rumena Buzarovska leuchtet in einem "grotesken Kammerspiel" Paarbeziehungen in Nordmazedonien aus, Leila Slimani blickt lebendig und "fast unheimlich elegant" in die Geschichte Marokkos und Thomas de Padova erzählt bunt und spannend, wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Juni.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Mathias Enard
Das Jahresbankett der Totengräber
Roman
Hanser Berlin Verlag. 480 Seiten. 26 Euro

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Mathias Enard schickt in seinem neuen Roman einen Pariser Anthropologen aufs Land, um eine Dissertation über Sitten und Bräuche der Provinz zu schreiben. SZ-Kritiker Hubert Winkels holt tief Luft und taucht ab in ein Wimmelbild voller Witz und jeder Menge historisch-kulturellem Hintergrundwissen: Dass der Schriftsteller und Universalgelehrte Enard das mächtig ausufernde Werk, das sich mit Napoleon wie mit Wildschweinen gleichermaßen auskennt, zu bändigen weiß, ist für Winkels das eigentliche Wunder. Auch Dlf-Kultur-Rezensent Dirk Fuhrig staunt, wie farbig und unterhaltsam der Autor Zeit- und Stilebenen miteinander verschränkt, literarische Referenzen streut und dabei Kartenspiel, Blutwurst, Mittelalter und existenzielle Fragen mixt. Dem NZZ-Kritiker Roman Bucheli öffnet sich eine wahre Wunderkammer des Erzählens: Mit dem vielen Blut und den Todesarten, die Enard im Text zelebriert, wird der Leser zwar klarkommen müssen, entlohnt wird er dafür aber mit einer Sprache, die alle "Erdenschwere" verwandelt, versichert er. Zeit-Kritikerin Iris Radisch hätte gern den "literaturhistorischen Puder" abgeklopft, kämpft sich dann aber doch tapfer durch diesen burlesken und, wie sie versichert, "durchaus originellen und fesselnden Roman über die Fallhöhe zwischen Stadt und Provinz, zwischen Digitalsex und deftiger Leibesfreude. In der ARD-Audiothek steht ein Beitrag über das Buch online.

Rosmarie Waldrop
Pippins Tochters Taschentuch
Roman
Suhrkamp Verlag. 275 Seiten. 24 Euro

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Auf die Shortlist des Leipziger Buchpreises hat es dieser 1986 erstmals im Original erschienene Roman dank der Übersetzung von Ann Cotton geschafft. Den Übersetzerpreis gewonnen hat dann zwar ein anderer Roman, aber auch so liegen die Kritiker der Autorin und ihrer Übersetzerin zu Füßen. Glaubwürdig und fordernd erscheint es dem SZ-Rezensentin Ulrich Rüdenauer, wie die in Deutschland geborene und 1958 nach Amerika ausgewanderte Rosmarie Waldrop die eigene Familiengeschichte im Schatten des Nationalsozialismus erkundet, mit der gebotenen Brüchigkeit der Erinnerung und einer lyrisch-musikalischen Sprache. Von "schmatzender Sprachlust" ist der Roman gar für Maike Albath (Dlf-Kultur), die sich gern auf diesen szenischen Tanz aus Erinnerungen, Dialogen und Briefen über unersättliche Liebschaften vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus eingelassen hat. Und FAZ-Rezensent Christian Metz wünscht Waldrop nach der Lektüre dieses rasanten, an Shakespeare erinnernden Familienreigens endlich eine größere Leserschaft in Deutschland. Durch Waldrops Sprache sieht man das Leben "plötzlich wie neu", jubelt Andrea Heinz im Standard.

Leila Slimani
Das Land der anderen
Roman
Luchterhand Literaturverlag. 384 Seiten. 22 Euro

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Außergewöhnlich "frei" und "fast unheimlich elegant" nennt die SZ-Kritikerin Birthe Mühlhoff den neuen Roman der französisch-marokkanischen Autorin Leila Slimani, der den Auftakt zu einer Trilogie über die Geschichte Marokkos von 1945 bis 2015 bildet. Angelehnt an die Geschichte ihrer Großeltern erzählt Slimani vom Marokkaner Amine und seiner Frau Mathilde aus dem Elsass, die während der Unabhängigkeitsbewegung in Marokko ab 1953 zwischen den Stühlen feststecken: Vor allem Mathilde erlebt den alltäglichen Rassismus der französischen Kolonialgesellschaft und wird zugleich mit den patriarchalen Traditionen der Einheimischen konfrontiert. Die nüchterne Schilderung aus verschiedenen Perspektiven und der Verzicht auf viel Plot machen für Mühlhoff die besondere Spannung des Romans aus. Klug und feinsinnig erscheint auch Dlf-Kultur-Kritikerin Sigrid Brinkmann das Buch, in dem sie eine Menge über die Funktionsweisen von Herabsetzung und Hass erfährt. "Slimani gelingt es, so lebendig und packend (...) zu erzählen, dass man mitfühlt und mitleidet mit ihren Figuren, auch wenn sie mitunter Dinge tun, die unserem aufgeklärten europäischen Denken widersprechen", meint Heide Soltau im NDR. Im Interview mit der Literarischen Welt spricht Slimani über jene Jahre, die sie im Roman schildert (Unser Resümee).

Jenny Offill
Wetter
Roman
Piper Verlag. 224 Seiten. 20 Euro

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Als großes Panorama der amerikanischen Gesellschaft würdigen die Kritiker diesen Roman von Jenny Offill. Die Themen - Klimawandel, die USA unter Trump, Hass im Netz und jede Menge Angst - haben es in sich, aber Offill packt sie mit bemerkenswerter Leichtigkeit an, versichert uns SZ-Rezensent Alex Rühle. Hauptfigur des Romans ist die New Yorker Bibliothekarin Lizzie, die sich, gefangen und gemobbt im Job, um Besucher, ihren erfolglosen mürrischen Mann, ihre alte Mutter und den Bruder, einen "Ex-Junkie" kümmert und dazu noch an einem Klima-Blog mitarbeitet, in dem sich "Prepper, Apokalyptiker, Prediger, Klimawandelleugner und besorgte Mütter" tummeln. Rühle staunt über die "elektrostatische Spannung" des Textes und Offills Vermögen, ins "kollektive Unbewusste" einer ganzen Nation abzutauchen. "Zeitgemäß paranoid" nennt Zeit-Kritiker Christoph Schröder den Roman, während Verena Lueken in der FAZ eine formal und inhaltlich ungewöhnliche Lektüre verspricht: Mit Witz und Leichtigkeit gelinge es Offill, das globale (soziale) Klimas im Alltag ihrer Figuren abzubilden. Und dem Dlf-Kritiker Christian Metz erschließt dieser, wie er findet, warmherzige, schonungslose, analytisch kluge und zugleich lässige Roman gleich ganz neue Denkbilder.

Rumena Buzarovska
Mein Mann
Stories
Suhrkamp Verlag. 171 Seiten. 22 Euro

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Einen Blick nach Nordmazedonien verspricht uns die in Skopje geborene Schriftstellerin Rumena Buzarovska mit diesen elf Kurzgeschichten. Sie erzählt von Frauen, die erbarmungslose Porträts ihrer Männer entwerfen, darunter tote und lebendige Dichter, Gynäkologen, Machos, Betrüger und Heuchler. Für Zeit-Kritikerin Ursula März ist die Autorin eine Meisterin des "grotesken Kammerspiels" und des "schmissigen Dialogs", aber auch der Darstellung einer der Brüchigkeit aller Beziehungen innewohnenden Melancholie. Welt-Kritikerin Marlen Hobrack macht während der Lektüre eine abgründige Erfahrung, wenn sie hinter den traditionellen Rollenbildern in Buzarovskas Erzählungen universelle Muster weiblicher Komplizenschaft mit patriarchalen Regeln entdeckt. Absurd komische Wendungen lassen die Kritikerin darüber hinwegsehen, dass Buzarovskas Figuren immer dem gleichen Typus entsprechen. Der FAZ-Rezensent Tilman Spreckelsen zeigt sich vor allem berührt von den "großartigen Kindergestalten" in diesen Stories, die ihm zeigen, was Kinder in gescheiterten Ehen oft aushalten müssen. Für den WDR bespricht Terrance Albrecht das Buch.


Sachbuch

Michael Hagner
Foucaults Pendel und wir
Anlässlich einer Installation von Gerhard Richter
Verlag der Buchhandlung Walther König. 396 Seiten. 38 Euro

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Aufs Treppchen der Leipziger Shortlist hat es auch dieses Buch geschafft, das für den SZ-Kritiker Thomas Steinfeld eines der "schönsten" Sachbücher der letzten Jahre ist. Das liegt für Steinfeld zum einen an der liebevollen Gestaltung samt Illustrationen, zum anderen an dem Wirtschaftshistoriker Michael Hagner, der ihm nicht nur erzählt, wie der Journalist und Feinmechaniker Leon Foucault im Jahr 1851 im Pariser Pantheon mit einem Pendel zeigte, wie die Erde um die eigene Achse rotiert, sondern auch die Rezeptionsgeschichte von Foucaults Pendel beleuchtet.So präzise wie "elegant", versichert Steinfeld, erzählt Hagner von den Problemen mit dem Experiment, aber auch von der Reaktion der Kirche auf Galileis Lehre oder davon, in welchen Museen, Kirchen und Weltausstellung das Experiment gezeigt wurde. Auch FAZ-Kritiker Jürgen Kaube schwelgt in den spannenden Details dieses Buches, das ihm zeigt, wie sich Politik, Pädagogik und schließlich auch die Kunst und die Literatur sich des Experiments "bemächtigten". Als umfassende Kulturgeschichte mit viel Sinn für Orte und Figuren würdigt Marc Reichwein in der Welt den Band.

Lothar Frenz
Wer wird überleben?
Die Zukunft von Natur und Mensch
Rowohlt Berlin Verlag. 448 Seiten. 24 Euro

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Erst vor wenigen Wochen hat das Bundesverfassungsgericht Klimaschutz verpflichtend gemacht, aber was ist eigentlich mit dem Artenschutz? Auf die Dringlichkeit des Themas macht der Biologe und Journalist Lothar Frenz in diesem Buch aufmerksam, das laut FAZ-Kritiker Christian Schwägerl kenntnisreich und flüssig über das Schwinden der Biodiversität und den Folgen aufklärt. Anhand von zahlreichen Beispielen und wesentlichen Fragestellungen liest Schwägerl hier von der Geschichte des Naturschutzes und ausgerotteten, aber auch geretteten Tieren, bis er mit dem Autor schließlich vor der Frage steht: "Wie soll entschieden werden, wer überleben darf?" Alle, meint Frenz und kann Schwägerl das so überzeugend darlegen, dass der Kritiker ihn gar nicht mehr für "naiv" hält. Auch Johannes Kaiser (Dlf Kultur) wird zum Nachdenken über die eigene Haltung zur Natur angeregt. Faszinierend und lehrreich findet er, wie Frenz vom Gleichgewicht des Parasitentums erzählt, Fragen zum Artensterben stellt und die Komplexität des Yellowstone Nationalparks illustriert - immer lebendig erzählt, im Stil einer Reportage, gestützt auf Erlebtes, auf Interviews mit Rangern und Artenschützern und auf einschlägige Fachliteratur.

Birgit Schönau
Neros Mütter
Julia und die Agrippinas
Berenberg Verlag. 380 Seiten. 25 Euro

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Birgit Schönau war neun Jahre lang die Italien-Korrespondentin der Zeit, seit 1992 lebt sie in Rom. Nun widmet sich die Publizistin dem alten Rom, genauer: den Patchworkfamilien, Heiratsstrategien und der Unfreiheit der Frauen am Kaiserhof. Am Beispiel von Augustus' Tochter Julia sowie Agrippina der Jüngeren und der Älteren klärt Schönau über Bildung und Machtbewusstsein der Frauen am Hofe auf, zeigt aber auch, wie schnell der Stern der Damen sinken konnte. Das "Gewirr dynastischer Linien" und die Zusammenhänge aus Macht und Rollenspiel mögen dem Leser einiges abverlangen, räumt FAZ-Kritiker Uwe Walter ein. Entlohnt wird er aber durch eine "geschickte" Komposition und zahlreiche Perspektivwechsel. Dlf-Kultur-Kritikerin Katharina Teutsch wird in diesem so unterhaltsamen wie lehrreichen Buch auch auf den neusten Forschungsstand in in Sachen Agrippinas Giftmord gebracht, während Sebastian Fuchs in der Welt vor allem die Einordnung Senecas in die römische "Machtclique" spannend findet. Und das Verdienst der Autorin, den Frauen um die römischen Monarchen endlich ein Denkmal zu setzen, kann er gar nicht genug würdigen.

Thomas de Padova
Alles wird Zahl
Wie sich die Mathematik in der Renaissance neu erfand
Carl Hanser Verlag. 384 Seiten. 25 Euro

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Mathematikgeschichte ist vielleicht nicht das erste Thema, was einem auf der Suche nach spannenden neuen Sachbüchern einfällt. Aber nach der Lektüre von Gerrit Stratmanns Kritik im Dlf Kultur ändert sich das schlagartig: Wenn der Wissenschaftsjournalist Thomas de Padova in diesem laut Stratmann "üppig mit Zeitkolorit angefüllten" Buch auf die wenig bekannte Ära der Mathematik in der deutsch-italienischen Renaissance blickt, ist der Rezensent sofort bei der Sache. Facettenreich und zeithistorisch bunt erzählt ihm der Autor, wie sich die Algebra von der Geometrie löste oder wie das über den arabischen Raum überlieferte, aus Indien stammende Zahlensystem mit den Ziffern von 0 bis 9 seinen Siegeszug antrat. Dass hier ausnahmsweise mal nicht Herrscher und Päpste in den Blick genommen werden, sondern Glücksspieler, Mönche und Künstler wie Johannes Müller, Girolamo Cardano oder Albrecht Dürer, findet der Kritiker spannend und unterhaltsam.

Thomas Chatterton Williams
Selbstporträt in Schwarz und Weiß
Unlearning race
Edition Tiamat 2021, 184 Seiten, 24 Euro

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Thomas Chatterton Williams, Sohn eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter, sah sich immer als Schwarzer. Bis seine Kinder geboren wurden - beide weiß, blond und blauäugig - und ihm aufging, dass Schwarz und Weiß einfach keine Kategorien sind, in die sich die Welt aufteilen lässt. Davon erzählt er in diesem Buch. Afroamerikanische Denker wie Ibrahim X. Kendi und Ta-Nehisi Coates haben ihm deshalb Naivität und sogar Rassismus vorgeworfen. Für den Welt-Kritiker Nico Hoppe ist dagegen es ein hoffnungsvolles Buch, weil es eindringlich von der Erkenntnis erzählt, "race" als Fiktion wahrzunehmen, ohne einer nur konstruktivistischen Idee von Identität zu verfallen. Wie mit Unterschieden umgegangen werden kann, verrät der Autor auch, so Hoppe, der nur gern mehr über die Bedeutung sozialer Unterschiede gelesen hätte. Chatterton Williams' Appell, Begriffe wie Rasse und Rassismus gewissermaßen zu pensionieren (wobei er nicht behauptet, es gebe keinen Rassismus), orientiert sich an Martin Luther King, der hoffte, Hautfarbe würde eines Tages einfach keine Rolle mehr spielen, erklärte in der NZZ Marc Neumann, der das Buch bei seinem Erscheinen in den USA besprach. Sehr interessant und in die Tiefe gehend ist Conor Friedersdorfs Gespräch mit Chatterton Williams in The Atlantic, das auch auf die Kritik an dem Buch eingeht.