Bücherbrief

Furchtlose Nestflüchterin

06.09.2020. Deniz Ohde erzählt fragil-schön und mit leiser Wucht von einem schmerzhaften Aufstieg aus dem Industrieproletariat, Mieko Kawakami vermisst mit subtilem Humor Brüste und Rolle der postmodernen Japanerin, Jeremy Tiang blickt klar und nüchtern auf die gewaltvolle Geschichte Singapurs und Malaysias zurück und Eliot Weinberger zerpflückt mit Biss das pralle Desaster von Trumps Amtszeit. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats September.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Deniz Ohde
Streulicht
Roman
Suhrkamp Verlag. 284 Seiten. 22 Euro

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Mit ihrem Debütroman hat es die deutsche Autorin gleich auf die Longlist geschafft - und eine Lücke in der deutschen Literatur geschlossen: Aufsteigergeschichten über Kindheiten im Arbeitermilieu kamen bisher vor allem aus Frankreich. So liest Dlf-Kritiker Ingo Eisenbeiß den Roman über die Tochter eines deutschen Industriearbeiters und einer türkischen Einwanderin, die als junge Erwachsene noch einmal in das Milieu ihrer Kindheit zurückkehrt, auch im Vergleich zu den Romanen von Edouard Louis. Berührend und schmerzhaft erscheint ihm der Roman, der das Ausgeschlossensein des "abgehängten Prekariats" einfühlsam, überzeugend und nie kitschig schildere. Hymnisch bespricht auch taz-Kritiker Dirk Knipphals den Roman, der von der Fremdheit, der Frustration und den Schwierigkeiten auch noch nach dem gelungenen Aufstieg erzählt. Kein Thesenroman, sondern einer, der ganz genau hinschaut, meint er. SZ-Kritiker Hubert Winkels erträgt die "beschreibungsmanische Düsternis", mit der Ohde von Gewalt und Sprachlosigkeit erzählt, zwar nur schwer, eine klare Leseempfehlung spricht er dennoch aus. Im Tagesspiegel bewundert Carsten Otte vor allem die "fragil-schönen" Sätze, mit denen die Autorin die gesellschaftlichen und familiären Verhältnisse vermisst. "Eine leise Geschichte, deren Wucht langsam einsickert", schreibt Lili Hering auf Zeit Online.

Mieko Kawakami
Brüste und Eier
Roman
Dumont. 496 Seiten. 24 Euro

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Über Kitsch-Kirschblüten-Cover und den schrägen Titel schauen die meisten RezensentInnen lieber hinweg, ansonsten aber sind sie hin und weg von Mieko Kawakamis Roman über die Ziele der postmodernen japanischen Frau. Die Geschichte um die erfolglose Tokioter Schriftstellerin Natsuko Natsume, deren Schwester Makiko mit der pubertierenden Tochter Midoriko zu Besuch kommt und die alle drei auf unterschiedliche Weise mit ihrem Körper und ihrerRolle als Frau hadern, besticht durch subtilen Humor, "peppige Dialoge" und einen von Katja Busson hervorragend ins Deutsche übertragenen Osaka-Dialekt, versichert Irmela Hijiya-Kirschnereit in der FAZ. Wie Kawakami Themen wie Brustvergrößerung, Brustwarzen-Optimierung oder Mutterschaft in der japanischen Gesellschaft, die alles Intime und Körperliche tabuisiert, in "schillernde", groteske Szenen packt, findet Marlen Hobrack in der Zeit so amüsant, dass sie dem Roman ein paar Schwächen verzeiht. "Weltliteratur!", ruft indes SZ-Kritikerin Juliane Liebert, die vor allem die Unverwechselbarkeit der Figuren und die geradezu "immersive" Beschreibungskunst der Autorin hervorhebt.

Ronya Othmann
Die Sommer
Roman
Carl Hanser Verlag. 288 Seiten. 22 Euro

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Fast nur Lob gab es für den autobiografisch geprägten Debütroman von Ronya Othmann, die vor kurzem noch eine taz-Kolumne mit Cemile Sahin schrieb. Othmann erzählt uns hier von Leyla, Tochter eines jesidischen Kurden und einer Deutschen, die im Schwarzwald aufwuchs, aber ihre Sommerferien bei den Großeltern in einem jesidischen Dorf in Nordsyrien verbrachte - und während des Studiums in Leipzig vom syrischen Bürgerkrieg und der Ermordung der Jesiden durch den IS erfährt. In der taz bewundert Doris Akrap vor allem, wie Othmann mit knappen Sätzen lebendige Figuren und Situationen schafft und dabei auch die Differenzen zwischen den Kulturen beleuchtet. Als glänzenden Erfahrungsbericht über Menschen mit Migrationshintergrund liest Marlen Hobrack in der Welt den Roman, wenngleich ihr der Teil über den syrischen Bürgerkrieg ein wenig zu konturlos gerät. Starke Figuren, sprachlichen Variantenreichtum und lebendige Dialoge hebt Meike Feßmann im Dlf-Kultur hervor, während SZ-Kritikerin Kristina Maidt-Zinke eine atmosphärisch dichte, unaufdringliche Geschichte über Identitätssuche liest.

Jeremy Tiang
Das Gewicht der Zeit
Roman
Residenz Verlag. 304 Seiten. 24 Euro

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Endlich kehren nach den Werken von Joseph Conrad und William Somerset Maugham Singapur und Malaysia wieder in die Literatur zurück, freut sich Marko Martin im Dlf-Kultur. Der in Singapur geborene Autor Jeremy Tiang führt uns mit sechs Figuren in sechs Kapiteln durch die gewaltvolle Geschichte Singapurs und Malaysias seit den fünfziger Jahren: FAZ-Kritiker Fridtjof Küchemann staunt über den klaren, nüchternen Ton, mit dem der Autor von kolonialen Massakern, Bombenanschlägen, linkem Widerstand und Familienschicksalen erzählt. In der SZ hebt Thilo Eggerbauer vor allem Tiangs "große Empathie" für seine Figuren hervor, die aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf ihre postkolonialen Traumata blicken. Nachhallend und überzeugend nennt auch Dlf-Kritiker Marko Martin das Buch - nur hätte er gern auch gelesen, was ein Sieg der prochinesischen Guerillas für Folgen gehabt hätte.

Giulia Caminito
Ein Tag wird kommen
Roman
Klaus Wagenbach Verlag. 272 Seiten. 23 Euro

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Die KritikerInnen sind ganz hingerissen von Giulia Caminitos neuem Roman, der uns anhand der Geschichte zweier Brüder in den Marken ein "einzigartiges und sinnliches Panorama des turbulenten 20. Jahrhunderts in Italien" ausbreitet, wie Franziska Wolffheim im Tagesspiegel schreibt. Vom Beginn des Faschismus, von Anarchie, der Macht der Kirche, vom Hass der Bauern und von Bruderzwist liest sie hier in diesem bildgewaltigen "Meisterwerk des sinnlichen, fröhlichen Fabulierens, das in der hervorragenden Übersetzung von Barbara Kleiner all seine Reize behält", wie sie versichert. Im Dlf Kultur bewundert Anne Kohlick, wie die Autorin starke Figuren, dichte Beschreibungen und große Bilder ohne Pathos in ihre Rassismus, sexuelle Gewalt und religiöse Hingabe thematisierende Story packt. In der taz hebt Marlen Hobrack vor allem die Sprache der Autorin hervor: Von erstaunlicher Reife und Kraft, ohne altmeisterlich zu sein, lobt sie. In die italienische Geschichte der neunziger Jahre führt uns derweil Elena Ferrante in ihrem neuen Roman "Das lügenhafte Leben der Erwachsenen" (Bestellen), den die ersten Kritiker für Knalleffekte und Abgründiges loben.

Sachbuch

Christoph Schlingensief
Kein falsches Wort jetzt
Gespräche
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 336 Seiten. 23 Euro

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Kaum zu glauben, dass sich Christoph Schlingensiefs früher Tod in diesem August bereits zum zehnten Mal jährte. Er fehlt, konstatierten die Feuilletons am Todestag, aber ein bisschen Trost gibt es dennoch: Neben einem neuen Dokumentarfilm von Bettina Böhler (Unser Resümee) ist auch dieser von Schlingensiefs Witwe Aino Laberenz unter Mitarbeit von Diedrich Diederichsen herausgegebene Gesprächsband erschienen, der vor allem SZ-Kritiker Peter Laudenbach mit ebenso viel Begeisterung wie Wehmut erfüllt: Wer Schlingensiefs Gedankenwegen, Abschweifungen und Witz zuzuhört, erkennt schon in den frühen Äußerungen das Talent, den Sadismus und die Neurosen des manischen Theatermachers. Die Interviews sind für Laudenbach eine "Fortsetzung seiner Kunst mit anderen Mitteln". Auf Monopol fragt sich Elke Buhr: "Wie würde Schlingensief im aufgeheizten Debattenklima von heute wohl bewertet werden? Er, der Asylbewerber in Container sperrte? (...) Hätte er Shitstorms gesammelt ohne Ende? Wäre er überhaupt noch kompatibel gewesen für ein Klima, in dem vermeintlich jedes Wort auf die Goldwaage gelegt werden muss?". Der Standard bringt einen Vorabdruck aus dem Interviewband.

Eliot Weinberger
Neulich in Amerika
Berenberg Verlag. 272 Seiten. 16 Euro

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Dieses Buch mit Eliot Weinbergers Essays über politische Kultur in den USA von Bush bis Trump ist schon jetzt ein Klassiker, versichert eine begeisterte Katharina Teutsch im Dlf Kultur. Tief blickt sie mit dem "letzten Heroen der amerikanischen Linken" in den "Phrasensumpf" von Bush und Trump: Zunächst muss sie schmunzeln, wird bald aber sprachlos angesichts der mit rhetorischen Stilmitteln eingeleiteten und mit Biss geschilderten Einzelheiten, etwa der amerikanischen Irak- oder Corona-Politik. Erschütternd für Teutsch, noch einmal mit dem prallen Desaster von Trumps Amtszeit konfrontiert zu werden. Fassungslos liest auch Susanne Mayer in der Zeit das Buch, das ihr mit Blick auf Korruption, Zusammenbruch des Rechtsstaates und anderen Skandalen jede Hoffnung austreibt. Immerhin bleibt dieser "scharfsinnige, gebildete" Autor, der hier anders als in seinen "poetischen Feuilletons" atemloser, distanzierter und nüchterner erscheint. Großes Lob gab es auch für Franco Morettis unter dem Titel "Ein fernes Land" (Bestellen) erschienene Vorlesungen, in denen der italienische Literaturwissenschaftler etwa anhand von James Joyce oder Walt Whitmann die kulturelle Hegemonie der USA herausstellt. Ein neues Standardwerk, meint Maike Albath im Dlf Kultur.

James Walvin
Zucker
Eine Geschichte über Macht und Versuchung
oekom Verlag. 336 Seiten. 29 Euro

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Der britische Historiker James Walvin stützt seine Globalgeschichte des Zuckers in weiten Teilen auf die 1987 erschienene, bahnbrechenden Studie "Die süße Macht" des amerikanischen Anthropologen Sidney Mintz, weiß FAZ-Kritiker Thomas Weber. Dennoch empfiehlt er das Buch gern als Einstieg in die "mit Millionen von Opfern gepflasterte Geschichte des Zuckers", auch weil Walvin die jüngsten Entwicklungen in der Nahrungsmittelindustrie miteinbezieht. Von der Sklaverei im karibischen Plantagensystem und davon, wie dieses am Beginn des kapitalistischen Produktionssystems in Großbritannien stand, liest er hier ebenso wie von den Folgen des Zuckerkonsums: Etwa Übergewicht, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen. In der New York Times kann Sven Beckert nach dieser Reise durch 500 Jahre Geschichte des Zuckers bei Süßem an nichts anderes mehr denken als an Sklaverei und Karies, Imperialismus und Fettleibigkeit - so kenntnisreich, deprimierend, aber auch unterhaltsam erzählt ihm der Autor von einem der wichtigsten Rohstoffe der Welt. Dass Walvin oft wiederholt, an anderer Stelle allzu vage bleibt und aus einer "eurozentrischen" Perspektive schreibt, geht für Beckert angesichts der vielen wichtigen Fragen, die der Autor aufwirft, in Ordnung. Im Guardian kritisiert Padraic Scanlan allerdings, dass Walvin nicht verdeutlicht, wie sich Kapitalismus und Rassismus verstärken. Weniger Opferschelte (Arme, die sich ungesund ernähren, Dicke in den USA) und mehr Ursachenforschung hätten dem Buch gut getan, meint er.

Ingo Rose, Barbara Sichtermann
Augen, die im Dunkeln leuchten
Helena Rubinstein. Eine Biografie
Kremayr und Scheriau Verlag. 320 Seiten. 24 Euro

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Es ist bestimmt interessant, diese von der Schriftstellerin Barbara Sichtermann und dem Journalisten Ingo Rose verfasste Biografie der Unternehmerin Helena Rubinstein zu lesen. 1870 in Krakau geboren, floh sie vor einer arrangierten Ehe nach Australien, änderte ihren Vornamen Chaja in Helena und begann als Pionierin der modernen Kosmetikindustrie eine Firma aufzubauen, die ein Weltimperium wurde: "Als sie 1965 mit 95 Jahren starb, beschäftigte sie rund 30.000 Mitarbeiter in 100 Salons in 14 Ländern", staunt Brigitte Werneburg über die "furchtlose Nestflüchterin" in der taz. Von Rubinsteins Lebensstationen - Krakau, Wien, Australien, London, Paris und New York  - erzählen uns Sichtermann und Rose "elegant und flüssig", so die Kritikerin, die im Buch die Intelligenz und den Geschäftssinn der 1,45 Meter großen Grande Dame der Schönheitssalons ebenso herausgestellt findet wie Rubinsteins herrische Art und ihre großartige Kunstsammlung.

Klaus Vieweg
Hegel
Der Philosoph der Freiheit
C.H. Beck Verlag, 824 Seiten, 34 Euro

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Am 27. August feierte die Welt Georg Wilhelm Friedrich Hegels 250. Geburtstag. Besonders aufgefallen ist uns Klaus Viewegs schon im November erschienene Biografie Hegels, die den Philosophen als Universalisten, Anhänger der Französischen Revolution und Gegner des Antisemitismus und Rassismus feiert (dass er in dieser Hinsicht nach heutigen Maßstäben nicht ganz sauber war, kann man hier bei Aleida Assmann nachlesen). Als Grundlagenwerk, lebendig geschrieben und "ohne mokante Untertöne", wie Otto A. Böhmer in der FR versicherte, wurde das Buch auch von den Kritikern in Dlf, Welt, FR, taz, FAZ und SZ lebhaft diskutiert und insgesamt ausgesprochen positiv rezensiert. Einen kleinen Einstieg bietet ein Interview von rnd.de mit Vieweg über den Philosophen. Ein Buch über "Hegels Welt" (bestellen) des FAZ-Herausgebers Jürgen Kaube erschien letzten Monat. Auch dafür wurde ordentlich Lob verteilt: Die in der Welt rezensierende Lüneburger Philosophin Charlotte Szász weiß jetzt, was ein "Rentkammersekretär" ist. Nicht so gut weg kommt Slavoj Zizeks Band "Hegel im verdrahteten Gehirn" (bestellen), der die SZ mit seinen wahllosen Assoziierungen ermüdete. Wer Zizek mag, wird das Buch aber genau deshalb lesen wollen. Und dann gibt's natürlich noch den echten Stoff, den Quelltext: Empfehlen können wir Hegels Hauptwerke in einer sechsbändigen Taschenbuchausgabe bei Suhrkamp für 58 Euro (bestellen) und in einer historisch-kritischen Taschenbuchausgabe bei Felix Meiner für 78 Euro (bestellen).