Bücherbrief

Ein Brocken dunkler Energie

05.03.2018. Jon Kalmann Stefansson erzählt herrlich versponnen vom Island der Siebziger und Achtziger, Omar Robert Hamilton schreibt sich mit elektrisierender Wucht die  arabische Revolution von der Seele, Joshua Cohen liefert mit seinem "Buch der Zahlen" den Zauberberg des Internetzeitalters, und Zygmunt Bauman lässt in seinem letzten Buch "Retrotopia" alle Hoffnung fahren. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats März.
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Weitere Anregungen finden Sie in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Joshua Cohen
Buch der Zahlen
Roman
Schöffling und Co. Verlag, 752 Seiten, 32 Euro



Nichts geringeres als den großen "Epochenroman der Zehner Jahre", ja den "Zauberberg" des Internetzeitalters scheinen die Kritiker mit Joshua Cohens "Buch der Zahlen" entdeckt zu haben. Für SZ-Kritiker Nicolas Freund liegt das vor allem daran, wie Cohen in dieser essayistischen, autobiografischen, historischen und mit allerlei erfundenem Material angereicherten Chronik des Denkens unserer Zeit den Wildwuchs des Narrativen bündelt: "Hochleistungsprosa" ohne politische Agenda, meint er. Auch Welt-Kritiker Felix Stephan staunt, wie Cohen in seiner Geschichte um einen Schriftsteller mit Namen Joshua Cohen, der am 11. September alles verliert und bald den Auftrag erhält, eine Biografie über einen legendären Tech-CEO zu schreiben, zwei konkurrierende Weltanschauungen und Epochen aufeinander treffen lässt: Mit "gallopierender Intelligenz" werden hier Druckkultur und Aufklärung mit digitaler, kollaborativer Wissensproduktion, die statt auf Forschung auf Nutzeranfragen beruhe, konfrontiert, lobt er. FAZ-Kritiker Jan Wiele erscheint das Buch wie "The Circle", nur mit Hirn, atmosphärisch, postmodern, komplex, aber nicht abschreckend. Im Tagesspiegel verzehrt Jan Wilm ein "köstliches, vielgängiges Menü aus verschiedensten Textsorten", voller Wortwitz, "metafiktionalem Schnickschnack", das doch zutiefst privat ist. Und im DLF-Kultur weiß Carsten Hueck nach der Lektüre dieses "Informations-Tsunamis", weshalb der Autor allein 180 Bücher zur Vorbereitung las. Viel Lob gibt es auch für Robin Detjes Übersetzung, die für den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse nominiert ist.

Norbert Gstrein

Die kommenden Jahre
Roman
Carl Hanser Verlag, 288 Seiten, 16,99 Euro



Auch zwei neue deutsche Romane versuchen das Rauschen unserer Zeit einzufangen: Norbert Gstrein erzählt in seinem Roman von einem Paar in den mittleren Jahren, das sich auseinander entwickelt: Er zieht sich mehr und mehr in seine Gletscherforschung zurück, weil ihm die Gegenwart zu zweideutig und anstrengend erscheint, sie, emphatisch ganz im Jetzt aufgehend, nimmt eine syrische Flüchtlingsfamilie auf. Beziehungs-, Klima- und Flüchtlingskrise stellen die Ehe auf den Prüfstand. Dass Gstrein das antipodisch erzählt, gefällt Carsten Otte (taz) besonders gut. Gstrein zielt ins Herz der Gegenwart, meint in der NZZ Andreas Breitenstein, er habe ein tolles Gespür für die Falschheiten und Lebenslügen seiner Generation. Auf Spon imponiert Anne Haeming, wie Gstrein "auf genial subtile Weise" seine eigene Position gleich mitreflektiert: Wenn er das Flüchtlingsthema ins Zentrum seines Romans stellt, dann, weil er weiß, "dass der Grat schmal ist zum Trittbrettfahrersein". Sehr viel umstrittener ist Monika Marons Roman "Munin oder Chaos im Kopf" Sie ergründet die große Gereiztheit der Gesellschaft mit einem Figurenpersonal rund um eine Autorin, die über den Dreißigjährigen Krieg schreibt, während vor ihrer Schöneberger Tür ein Kleinkrieg um eine "Sängerin" vom Balkon ausbricht, die die einen als kolossale Nervensäge verbannt wissen möchten und die anderen als behindertes Opfer betrachten, dass es gegen "die Nazis" zu verteidigen gilt. Dazu kommt eine Krähe, mit der die Autorin ihre Gedanken teilt. NZZ-Kritiker Rainer Moritz lehnt jede Unterscheidung zwischen Romanfigur und Autorin ab und unterstellt Monika Maron, eigene Ressentiments zu verbreiten. Die Rezensenten von Welt und SZ sind dagegen hingerissen von der poetischen Intelligenz und dem Assoziationsreichtum Marons.

Omar Robert Hamilton
Stadt der Rebellion
Roman
Klaus Wagenbach Verlag, 304 Seiten, 24 Euro



Mit seinem Debütroman nimmt uns der britisch-ägyptische Filmemacher und Autor Omar Robert Hamilton mit auf den Tahir-Platz ins Kairo nach der gescheiterten arabischen Revolution im Jahre 2011 und erntet dafür viel Lob von den Kritikern. Als Roman wollen sie die autobiografisch geprägte und  mit Facebook-Posts, Tweets, SMS, Protest-Slogans und Schlagzeilen versetzte Story um Hamiltons Alter Ego Khalil und die Menschenrechtsaktivistin Mariam zwar nicht bezeichnen, macht aber nichts - denn als eindringliches historisches Zeitdokument liest man das rasant und in drastischen Filmschnitten erzählte Buch ohnehin, wie etwa FAZ-Kritiker Andreas Platthaus meint. Ihm erscheint das Werk wie die Fortsetzung von Alaa al-Aswanis 2002 erschienenem Roman "Der Jakubijan Bau" über die Herrschaft Mubaraks. Auch SZ-Kritikerin Sonja Zekri kann sich der elektrisierenden Wucht von Hamilton nicht entziehen: Hier hat sich jemand die Revolution von der Seele geschrieben, glaubt sie. taz-Kritiker Christopher Resch staunt vor allem, wie der Autor Einzelschicksale lebendig werden lässt. Dieses Buch ist ein "höchstens im Mantel des Romans steckender Beleg auch dafür, dass diese Kunstform viel mehr Realitäten offenlegen kann, als es der Journalismus vermag", lobt er. Weitere positive Besprechungen gibt es im Guardian, im DLF-Kultur und in der Zeit.

Jon Kalman Stefansson
Etwas von der Größe des Universums
Roman
Piper, 400 Seiten, 24 Euro



"Weltliteratur!" jubelt FAZ-Kritiker Andreas Platthaus über Jon Kalmann Stefanssons in Island bereits vor zwei Jahre erschienenen Roman "Etwas von der Größe des Universums". Warum? Weil die im Island der Siebziger und Achtziger spielende, autobiografisch geprägte Geschichte um den kleinen Ari, der früh den Tod der Mutter erlebt und aus der familiären Fischer-Dynastie ausbricht, voller "Trauer und Sehnsucht" steckt und zugleich herrlich versponnen, feinsinnig und detailreich in der Figurenzeichnung ist, meint er. Und wie gekonnt Karl-Ludwig Wetzig die "musikalische Komposition" des Romans ins Deutsche übertragen hat, ringt dem Kritiker ebenfalls größte Anerkennung ab. Auch NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein hält das "lavadicke" Pathos der Poesie dank Stefanssons Schalk gut aus: Und wie dieser hundert Jahre Kultur- und Sittengeschichte Islands lebendig werden lässt, dabei die Schönheit der Natur, aber auch  Misere, Enge, Suff, Sex, Verrat und Trauer einfängt, geht Breitenstein nah. Dieses berührende Buch enthält Sätze, "die sich zu ganzen Sonnensystemen auswachsen", zitiert Verena Resch auf fixpoetry.com den Autor.

Aya Cissoko
Ma
Roman
Verlag Das Wunderhorn, 180 Seiten, 24,80 Euro



Mit ihrem Roman "Ma" hat die französische Autorin und ehemalige Amateur-Boxweltmeisterin mit malischen Wurzeln, Aya Cissoko, ihrer Mutter ein außerordentliches Denkmal gesetzt, loben die Kritikerinnen. Wie ein "dunkler Brocken Energie" erscheint etwa NZZ-Rezensentin Angela Schader jene in den Siebzigern nach Frankreich zwangsverheiratete ebenso willensstarke wie opferbereite Ma, die mit einem von ihrer Verwandtschaft für sie ausgesuchten Mann vier Kinder bekommt, bis Ehemann und eine Tochter einem rechtsextremistisch motivierten Anschlag zum Opfer fallen und die Witwe sich dem Drängen ihres Clans widersetzt, nach Mali zurückzukehren: Angenehm nüchtern, kritisch und mitreißend beleuchtet Cissoko nicht nur einen "migrantischen Mikrokosmos", sondern auch das spannungsreiche Mutter-Tochter-Verhältnis, lobt Schader. FR-Rezensentin Marie-Sophie Adeoso bewundert vor allem den schroffen, unmittelbaren und authentischen Erzählton, mit dem ihr Cissoko vom "prekären Leben am Rande der Gesellschaft" erzählt. taz und Dlf-Kultur porträtieren Aya Cissoko. Ebenfalls sehr gut besprochen wurde Shumona Sinhas Roman "Staatenlos", der von dem im kommunistischen Westbengalen lebenden und von ihrer Familie verstoßenen Bauernmädchen Mina erzählt.


Sachbuch

Falko Schmieder, Georg Toepfer

Wörter aus der Fremde
Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte
Kadmos Kulturverlag, 328 Seiten, 26,90 Euro



So trocken der Untertitel "Begriffsgeschichte als Übersetzung" auch klingen mag - so faszinierend scheint diese vom Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Auftrag gegebene Publikation: Dass in Zeiten der Globalisierung und Ökonomisierung traditionelle Wörter vor allem in der Politik oft einen derartigen Bedeutungswandel erleben, dass der Rezipient sie teilweise kaum noch versteht, erfährt SZ-Kritiker Jens Grandt hier. Gespannt liest er die 52 "Miniaturen", in denen verschiedene Autoren etwa die politische Aufladung des Begriffs "sozial" nachzeichnen, erfährt, dass der Begriff der Humanität spätestens seit den Jugoslawienkriegen kompromittiert wurde und wie durch "digitale Worthülsen" und "regierungskonforme Sprachschablonen" das Sprechen überhaupt reduziert wird. Das ständige Überdenken der Begriffe ist angezeigt, meint Grandt, zumal ihm etwa Gerd Irrlitz im Band ein "frustrierendes" Bild des kommunikativen Zustands der Gesellschaft präsentiert. Im sehr lesenswerten Gespräch auf heise.de erklärt Herausgeber und Philosoph Georg Toepfer anhand von Begriffen wie "Troika", "Coming Out" oder "Rettungsschirm" Konnotation, tieferliegende Bedeutung und Wanderungsgeschichte von Fremdwörtern.

Martin Mosebach
Die 21
Eine Reise ins Land der koptischen Märtyrer
Rowohlt Verlag, 272 Seiten, 20 Euro



2017 besuchte Martin Mosebach in einem ägyptischen Dorf die Familien von 21 ermordeten koptischen Wanderarbeitern und unterhielt sich mit Priestern und Bischöfen über die Situation der Kopten im Nahen Osten. Zeit-Rezensent Alexander Cammann beschreibt Mosebachs Reportage als beeindruckendes und würdiges Gedächtnisbuch für die Opfer, das keinen Hehl macht aus seinem Befremden über den fanatischen Islamismus, der zu diesen Morden befähigt. Die Kritiker in Welt und SZ sind etwas verhaltener. Die Exkurse in Kirchengeschichte hätte sich Mosebach schenken können, meint Matthias Westerhoff (SZ). Ihn überzeugt das Buch immer dann, wenn es konkret wird, von den Menschen vor Ort erzählt. Auch Hannes Stein (Welt) mag Mosebach nur bis zu einem bestimmten Punkt folgen: Die Hintergründe zu den Morden liest er als ausgezeichnete Reportage. Bei Mosebachs Faszination für die imitatio Dei im Martyrium der christlichen Kopten als Weg zur Erlösung unserer Welt, zieht der Kritiker allerdings eine Grenze.

Zygmunt Bauman
Retrotopia
Suhrkamp, 220 Seiten, 16 Euro



Es ist das letzte Buch des 2017 gestorbenen großen polnischen Soziologen Zygmunt Bauman. In "Retrotopia" analysiert er die Sehnsucht nach längst widerlegten rechten und linken Lösungskonzepten für heutige Probleme: Kommunismus, Nationalismus, Religion, Tradition - so die Rezepte, die wieder und wieder gekäut werden, dabei sind es nur noch geplatzte Versprechungen der Nationalstaaten auf Wohlstand und Sicherheit, erkennt NZZ-Kritiker Thomas Speckmann, der Baumanns Analyse anregend genug findet, das Fehlen eines Lösungsansatzes zu verzeihen. In der Zeit möchte Franz Schuh Baumans Diagnostik einfach nur bestätigen. In der FAZ ist Gerald Wagner nach der Lektüre zu deprimiert, um das Buch empfehlen zu können: Die totale Hoffnungslosigkeit Baumans ist ihm zu einseitig, sie lasse keinen Raum für Einwände und Zweifel. "Lesen und erschauern!", ruft dagegen die taz.

Nina Verheyen
Die Erfindung der Leistung
Hanser Berlin, 256 Seiten, 23 Euro



Was steht eigentlich hinter dem omnipräsenten Begriff der Leistungsgesellschaft? Darüber klärt die Historikerin Nina Verheyen in ihrer laut Welt-Kritiker Marc Reichwein "schmalen und klug komponierten" Studie auf: Anschaulich kann ihm die Historikerin nicht nur die Geschichte der Leistungsgesellschaft von der Einführung der Benotung über Weltausstellungen, Nobelpreis, Völkerschauen und Landkarten während des Imperialismus darlegen, sondern Verheyen erläutere auch, inwiefern die juristische Regulierung der Leistung im späten 19. Jahrhundert einen Fortschritt für viele Kunden- und Arbeitnehmerrechte bedeutetet, so Reichwein. "Luzide" erscheinen ihm zudem Verheyens Exkurse zum Körper des Menschen als Maschine, zur Veränderung  von sozialen Beziehungen und Gefühlen, den sich um 1900 ausbreitenden "Leistungskummer" und den Anstieg von Ratgebern auf dem Buchmarkt während der Gründerzeit. Im DLF-Kultur-Interview mit Ute Welty spricht die Historikerin über ihr Buch und einen sinnvollen Umgang mit Leistung.

Walton Ford, Zoe Lescaze
Paläo-Art
Darstellungen der Urgeschichte
Taschen Verlag, 292 Seiten, 75 Euro



In diesem drei Kilo schweren Prachtband über Paläo-Kunst nimmt uns die Kunsthistorikerin Zoë Lescaze anhand von rekonstruierten Zeichnungen mit auf eine Reise in die Welt der Dinosaurier. Der eigentliche Reiz, so versichern es die Kritikerinnen, liegt aber natürlich in den zahlreichen hier versammelten künstlerischen Illustrationen aus den Jahren 1830 bis 1990: Zu entdecken sind neben meist für naturhistorische Museen und Institute, Enzyklopädien, Fachstudien und Kinderbücher angefertigten Zeichnungen, auch Ölgemälde, Lithografien, Mosaiken, Keramiken, Sammelkarten und Fresken, teils geprägt vom Fauvismus, Japonismus oder Jugendstil, verrät in der Allgemeinen Zeitung Annett Stein, die mit sichtbarem Vergnügen die Darstellungen von Monstern, Drachen und Sauriern im Kontext ihrer Zeit betrachtet. Auch NZZ-Kritikerin Stephanie Kusma geben die Darstellungen Aufschluss darüber, wie subjektiv die Maler Kreaturen mit ein paar Hörnern oder einem Schwänzchen mehr versehen haben - und darin liegt ihr künstlerischer Wert, meint sie. Toll findet sie auch, dass sich einige Bilder bis auf einen Meter Länge ausklappen lassen. Im Deutschlandfunk lernt Dagmar Röhrlich nicht nur einiges über die Urängste der Künstler und staunt über prächtige Dekorationen, sondern sie liest neben Lescazes schwungvollen, amüsanten und "eleganten" Texten auch das Vorwort des amerikanischen Malers Walton Ford mit großem Interesse. Im DLF-Kultur-Interview mit Frank Meyer spricht die Autorin über Paläokunst im Wandel der Zeit.