Bücherbrief

Irrlichternd schön

11.02.2019. Kenah Cusanit begibt sich mit dem Archäologen Robert Koldewey auf eine schwungvolle Reise ins mythische Babylon, Yoko Tawada entwirft eine poetische und fantastische Japan-Dystopie, Daniel Wisser erzählt mit Witz, Leichtigkeit und Eleganz vom Sterben und Frank Bösch serviert ein Füllhorn an Erkenntnissen aus dem Jahr 1979. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Februar.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Kenah Cusanit
Babel
Roman
Carl Hanser Verlag. 272 Seiten. 23 Euro



Als erhellendes Buch zur aktuellen Raubkunstdebatte empfehlen die KritikerInnen Kenah Cusanits Debütroman, in dem uns die Altorientalistin, Ethnologin und Lyrikerin in den Kopf des Archäologen Robert Koldewey, ins mythische Babylon und wilhelminische Berlin mitnimmt. FAZ-Kritiker Fridtjof Küchemann bewundert neben dem Anekdotenreichtum und den schwungvollen Pointen, die Hingabe, mit der sich die Autorin den privaten Seiten Koldeweys widmet, der mit seiner Gesundheit ebenso rücksichtslos wie mit seinen Untergebenen umging und dem wir unter anderem das Ishtar-Tor in Berlin verdanken. Noch mehr staunt er darüber, wie Cusanit der Raubkunstdebatte wenig beachtete Aspekte, etwa zu Deutschlands Wettstreit mit Amerika, Frankreich und England um den Ruhm der Entdeckung, ablauscht. Auch Spon-Kritikerin Anne Haeming möchte das Buch am liebsten der Stiftung Preußischer Kulturbesitz auf den Nachtisch legen, preist aber auch die brillante Mischung aus leise bohrenden Sätzen und "lautem Witz". In der Zeit liest Ijoma Mangold das ebenso intelligente wie flirrende Buch als an Ambivalenzen reiche Mentalitätsgeschichte über deutschen Wissenschaftsheroismus, Orientbegeisterung und Kulturimperialismus. Nur in der SZ meint Thomas Jordan: Die Erzählung versinkt allzu oft im Räsonieren. In der ARD-Mediathek steht Denis Schecks Druckfrisch-Beitrag online.


John Lanchester
Die Mauer
Roman
Klett-Cotta Verlag. 384 Seiten. 24 Euro



 Es greift zu kurz, John Lanchesters neuen Roman nur als Buch zur Brexit-Debatte zu lesen, warnt in der Zeit Burkhard Müller vor. Der Verdacht drängt sich natürlich auf: In seinem fünften Roman erzählt Lanchester aus der Perspektive eines jungen Rekruten von einem England der nahen Zukunft, das, aus der EU ausgetreten, eine 10.000 Kilometer lange Mauer errichtet hat, um die Insel gegen Klima-Flüchtlinge abzuschotten. Die Menschen, die abgestellt sind, den Schutzwall zu bewachen, führen ein tristes Dasein unter ständiger Bedrohung. Für Müller ist das mit Blick auf Nationalisten und Populisten weder totalitäre noch anarchische Dystopie, sondern ziemlich konsequent in die Zukunft gedacht. Hier geht es mehr um Haltung als um Handlung, meint er. Präzise und plausibel findet SZ-Kritiker Thomas Steinfeld den Roman indes ganz und gar nicht, auch unter rein literarischen Gesichtspunkten kann er ihn nicht überzeugen, dazu sind ihm die Figuren zu flach. Verstanden als Abenteuerroman kann der Rezensent dem Text aber einiges abgewinnen. Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt auch Martin Halter in der Berliner Zeitung. Er schreibt: "Überhaupt ist 'Die Mauer', wie die meisten Dystopien von '1984' bis 'The Circle', mehr Konzept und politische Metapher als große Literatur; daran ändern auch Lanchesters Ausflüge in die Konkrete Poesie nichts." Wie Lanchester Komplexes leicht verständlich macht, dabei philosophische Reflektionen einflicht und zugleich beunruhigend und vergnüglich erzählt, findet Johanna Thomas-Corr im Guardian bemerkenswert. Im Dlf-Kultur und im br spricht der Autor über seinen Roman.

Sergej Lebedew
Kronos' Kinder
Roman
S. Fischer Verlag. 384 Seiten. 24 Euro



Der 1981 in Moskau geborene Autor Sergej Lebedew erzählt uns in seinem neuen Roman von einem russischen Historiker, der seinen deutschen Wurzeln nachspürt und dafür zwei Jahrhunderte deutsch-russische Geschichte durchquert. Klingt für FAZ-Kritikerin Christiane Pöhlmann wie ein Sachbuch ohne Quellenverweise, punktet aber mit starken atmosphärischen Szenen und Einblicken in das Leben der Russlanddeutschen, die Wirtschaftskrise der Neunziger oder den russisch-japanischen Krieg. Während Pöhlmann Spannung vermisst, lässt sich FR-Kritiker Harald Jähner von Lebedew zu einer "beglückenden Seance" einladen, der er neben historischen, teils autobiografischen Exkursen ein ganzen Füllhorn an Metaphern verdankt. Dieser Roman ist ein "breit sich dahinwälzende Sprachstrom, auf dem irrlichtend schöne Bilder treiben", schwärmt er. SZ-Kritikerin Sonja Zekri durchschaut bei dem Journalisten und kompromisslosen Putin-Kritiker Lebedew  die Logik des Terrors und der Verfolgung, auch den Rechercheaufwand und Verzicht auf Sentimentalitäten rechnet sie dem Autor hoch an - allein das Erzählen gerät ein wenig ins Stocken, meint sie. Im Dlf-Kultur-Interview mit Andrea Gerk spricht der Autor über seinen Roman.

Daniel Wisser
Königin der Berge
Roman
Jung und Jung Verlag. 400 Seiten. 24 Euro



So trocken, witzig, leicht, sprachlich virtuos und schön hat man selten vom Sterben gelesen, versichern die KritikerInnen einstimmig. Erzählt wird die Geschichte des schrulligen Mitvierzigers Robert Turin, der an Multipler Sklerose erkrankt, auf Rollstuhl und Harnkatheter angewiesen ist, impotent, verheiratet und nicht eben freundlich den Krankenschwestern nachstellt und sich nichts sehnlicher wünscht, als in der Schweiz zu sterben. Während NZZ-Kritiker Paul Jandl Rasanz, Komposition und Zärtlichkeit des Romans lobt, freut sich Rainer Moritz im Dlf-Kultur über "brillante Einfälle", etwa die Dialoge mit Turins verstorbenem Kater und das elegante Switchen zwischen "schwarzgrauen und bunten Farben". Im Falter staunt Sebastian Gilli, wie "launig" Wisser große Fragen stellt, mit Sprache experimentiert und nebenbei Einblicke in das Pflegesystem bietet. Standard-Kritikerin Andrea Heinz erkennt nicht nur die Schönheit des Lebens nach der Lektüre, sondern bewundert auch, wie eigenwillig komisch, eindringlich und doch ernsthaft Wisser mit dem Thema Sterben umgeht. Im SWR bespricht Claudia Kramatschek den Roman.

Yoko Tawada
Sendbo-o-te
Roman
konkursbuchverlag. 200 Seiten. 12,90 Euro



Ein Geheimtipp, wie SZ-Kritikerin Lea Schneider schreibt, ist Yoko Tawada vielleicht nicht unbedingt: Seit den Achtzigern veröffentlicht die in Japan geborene und in Hamburg lebende Schriftstellerin in schöner Regelmäßigkeit Romane, Essays und Lyrik. Und doch sollte mit Blick auf die lobenden Besprechungen besonders auf diesen Roman hingewiesen werden, der von einer postapokalyptischen Zukunft erzählt, in der sich Japan nach einer Katastrophe von der Außenwelt abschottet, Fremdwörter verbietet, Geschlechtergrenzen einreißt, die Polizei zur Blaskapelle degradiert, Tieren aussterben und Menschen immer älter werden. Ein ebenso furchterregender wie lustiger Roman, vor allem weil die Autorin ihr anhand von Einzelschicksalen illustriertes Zukunftsszenario bis in die Sprache hinein ausgestaltet und dabei eine beiläufige Fantastik pflegt, meint Schneider. Als "erfreulichen Lesegenuss" trotz aller Düsternis preist im Dlf-Kultur Birgit Koß das Buch. Und im Tagesspiegel staunt Ulrike Baureithel, wie Tawada Fukushima-Katastrophe und Edo-Ära zusammenbringt und dabei Selbstverständlichkeiten auf den Kopf stellt. Lobend erwähnen die Kritikerinnen auch die Übersetzung durch Peter Pörtner.


Sachbuch

Ernst Piper
Rosa Luxemburg
Ein Leben
Karl Blessing Verlag. 832 Seiten. 32 Euro



Diese umfangreiche Biografie wurde überall besprochen. Einige Einschränkungen - so sagt etwa die Historikerin Christina Morina in der FAZ, dass Ernst Piper Luxemburg immer noch ein wenig zu rosig sehe - tun der großen Anerkennung für diesen "quellensatten" neuen Blick auf die große Sozialistin keinen Abbruch. Unter anderem, hält Alexander Cammann in der Zeit fest, zerpflückt Piper den Mythos, führende Sozialdemokraten hätten von der Ermordung Luxemburgs gewusst. Das hätte zum hundertsten Jahrestag des Morde ein Debattenthema sein können - immerhin wurde der Mythos just in einem Blatt wie der Sonntags-FAZ jüngst wieder aufgewärmt (unser Resümee). Rainer Stephan hebt in der SZ hervor, dass Piper auch intensiv auf die polnische Zeit Luxemburgs blickt. Als ergänzende Lektüre käme vielleicht Mark Zaks Band über den ukrainischen Anarchisten Nestor Machno in Betracht - in der parallelen Lektüre erhält man sicher einen Blick über die ideologische Wirrnis und über die Optionen der politischen Akteure in dieser entscheidenden Zeit.

Francis Fukuyama
Identität
Wie der Verlust der Würde unsere Demokratie gefährdet
Hoffmann und Campe. 240 Seiten. 24 Euro



Ein Autor, dem mit solcher Hingabe aufs Butterbrot geschmiert wird, dass er sich ganz heftig geirrt hat, muss wohl in manchen Punkten auch etwas getroffen haben. Fast kein Rezensent ersparte es Fukuyama, noch mal festzuhalten, dass die Geschichte nach dem Mauerfall doch nicht beendet war - besonders heftig etwa Thomas Steinfeld in der SZ. Nun muss aber auch mal das Ende der Geschichte vom "Ende der Geschichte" sein! In seinem neuen Buch macht sich Fukuyama Gedanken über ein brennendes Thema, nicht nur in westlichen Öffentlichkeiten, nämlich Identitätspolitik, und wieder fallen die Rezensenten in Scharen über sein Buch her. Mit unterschiedlichem Ergebnis: Bei Steinfeld findet Fukuyama nach wie vor keine Gnade. Aber Arno Widmann ist in der FR sehr positiv (und setzt auch dem Mythos vom Ende ein Ende). Und Rezensent Marc Reichwein hält Francis Fukuyamas neues Buch in der Welt für wichtig, auch wenn der Autor sich darin ausgiebig selbst zitiert. Wieso? Weil Fukuyama dem Begriff der "Leitkultur" neue Seiten abgewinnt, meint Reichwein. Besonders gefällt ihm, dass Fukuyama das Thema der Identitätspolitik über scheinbare ideologische Grenzen von "Rechts" und "Links" hinweg verfolgt. Im FAS-Interview nimmt Fukuyama Stellung.

Frank Bösch
Zeitenwende 1979
Als die Welt von heute begann
C.H. Beck. 512 Seiten. 28 Euro



Während derzeit vor allem über das Jahr 1919 geschrieben wird, außerdem 2019 Jubiläen zu Bauhaus, Leonardo und Humboldt gefeiert werden, erinnert der Potsdamer Zeithistoriker Frank Bösch daran, dass mit der Revolution des Ayatollah Chomeini im Iran, Deng Xiaoping in China, der sowjetischen Invasion in Afghanistan und Margaret Thatchers Wahl in Britannien auch im Jahr 1979 eine Menge los war. SZ-Kritikerin Franziska Augstein liest das Buch als Füllhorn an Erkenntnissen und fabelhafte Sammlung von Einzeldarstellungen, bereichert durch Archivfunde über den politischen Umgang mit Menschenrechtsfragen in Nicaragua, der Türkei oder in Afghanistan und kann dem Autor nur zustimmen, wenn er ihr überzeugend darlegt, weshalb 1979 die Welt von heute begann. Ein "exzellent geschriebener Text und eine Schatzkammer historischen Wissens", meint im MDR auch Bastian Wierzioch. Dass Bösch manches nur streift, anderes akribisch recherchiert auf Fallstudien und Zeitzeugengespräche verweist und "verblüffende" Ereignisse schildert, hat dem Kritiker gut gefallen. Im Dlf-Kultur, im Dlf und im NDR spricht Bösch über sein Buch.

Timothy C. W. Blanning
Friedrich der Große
König von Preußen
C.H. Beck Verlag. 718 Seiten. 34 Euro



Dass Friedrich der Große  ein Mensch voller Widersprüche war, Volksfreund und autokratischer Monarch, Kontrollfreak und Libertin, nicht zuletzt Kriegsherr und selbsternannter Philosoph, wissen wir spätestens seit den Biografien von Reinhold Koser, Theodor Schieder oder Johannes Kunisch. Auch dass sich der Preußenkönig zeitlebens an den durch den tyrannischen Vater zugefügten Traumata abarbeitete, ist bekannt. Trotz üppiger Quellenlage weigerten sich bisherige Biografen aber, Friedrichs Homosexualität zu benennen. Glücklicherweise schließt der britische Frühneuzeithistoriker Tim Blanning nun diese Lücke mit einem "fulminanten" Werk, wie die Historikerin Barbara Stollberg-Rilinger in der Zeit versichert: Sie lernt in Blannings  anekdoten-  und detailreichem Buch nicht nur den privaten, sondern auch den politischen Aspekt der Homosexualität des Preußenkönigs kennen und erfährt, wie Friedrich darüber hinaus stets die militärischen Erfolge seines verhassten Vaters zu übertrumpfen versuchte. Blannings "feine Ironie" und "souveräne Distanz" vermisst sie allerdings, wenn der Autor Friedrichs Galakleidung und seine brillantbesetzen Tabakdosen als "camp", also "tuntig" bezeichnet. Zudem hätte sie gerne etwas über die zweifelhafte Rezeption des Preußenkönigs erfahren. Als "Psychogramm des Schreckens", das vor allem die drastische Beziehung zwischen Vater und Sohn beleuchtet, liest Frank Thadeusz im Spiegel die Biografie. "Lehrreich, überraschend und unterhaltsam", nennt Philip Mansel im Spectator das Buch und im Telegraph würdigt Noel Malcolm die Mischung aus "trockener Objektivität" und lebendiger Erzählung.


Susan Woodford

Kunst verstehen
Midas-Management Verlag AG. 176 Seiten. 14,90 Euro



Bisher hat erst Dlf-Kultur-Kritikerin Eva Hepper dieses in der Reihe Art Essentials erschienene Buch der britischen Kunsthistorikerin Susan Woodford besprochen - allerdings so hymnisch, dass wir nicht umhin kommen, es ebenfalls weiterzuempfehlen. In dreizehn Kapiteln bringe Woodford mehr als hundert Werke der Kunstwerke zum Sprechen, knapp und "schnörkellos", dabei lehrreich und spannend für Laien und Kenner, versichert Hepper. Wie ein Porträt funktioniert, wer warum zu welchen Mitteln griff oder wer was wie interpretierte, erfährt sie in dem reich bebilderten Buch, das beispielsweise das etwa 15.000 Jahre alte Höhlengemälde eines Bisons, antike Vasen, frühbyzantinische Mosaiken oder Gemälde und Skulpturen aus dem Mittelalter, der Renaissance, des Barock und der Moderne untersucht. Schlicht "brillant
" findet das die Kritikerin.