Bücherbrief

Sprachmagisches Zirpen

10.12.2018. A. L. Kennedy zeichnet ein ebenso zartfühlendes wie bitterböses Porträt zweier Londoner, Vladimir Sorokin wirft in seiner tiefschwarzen Dystopie Nabokov, Proust und Co. auf den Grill, Robert Macfarlane schreibt mit lautmalerischen Zaubersprüchen gegen den Verlust der Wörter an und Christopher Clark erkärt tiefenscharf, wie Herrscher das Zeitbewusstsein ihrer Epoche prägten. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Dezember.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

A. L. Kennedy
Süßer Ernst
Roman
Carl Hanser Verlag. 400 Seiten. 28 Euro



Fast uneingeschränkt begeistert besprechen die KritikerInnen A. L. Kennedys Roman "Süßer Ernst", der uns über 24 Stunden hinweg die Paarkrise eines von Job und Scheidung gebeutelten Staatsbeamten und einer ehemaligen Trinkerin erzählt, die sich über eine Zeitungsannonce kennenlernen und aufgrund ihrer schlechten Erfahrungen nur ganz langsam annähern. Als "literarischen Coup" würdigt Zeit-Kritiker Hans Peter Kunisch den Roman, liefert ihm die schottische Autorin doch nicht nur das zartfühlende Porträt zweier vom Leben gezeichneter Londoner, sondern auch eine messerscharfe Analyse des politischen und wirtschaftlichen Niedergangs des Vereinigten Königreichs. Als willkommene Abwechslung zu den "domestizierten" Beziehungsgeschichten, die sonst als Liebesromane verkauft werden, liest Peter Praschl in der Welt den Roman. Kennedy "schreibt so böse und perfid, so gesellschaftspolitisch empört und seelentief, so scharfsinnig und zärtlich, dass man als Leser mal schreckensbleich, mal enthemmt kichernd oder zart summend in ihren Fängen zappelt", jubelt Gabriele von Arnim im Dlf-Kultur über diesen "brillanten, vibrierenden" Roman. "Skurrile Situationen" und einen "Hauch von Agentengeschichte" entdeckt Spiegel-Kritikerin Britta Schmeis. Im Dlf-Kultur spricht Kennedy über das Buch.
 
Vladimir Sorokin
Manaraga
Tagebuch eines Meisterkochs. Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 256 Seiten 20 Euro



Bitterböse scheint auch der neue Roman des russischen, in Berlin lebenden Autors Vladimir Sorokin zu sein, der in "Manaraga" die Zukunft der Spitzengastronomie im Jahr 2037 als kriminelles Geschäftsmodell entwirft. Klassiker der Weltliteratur werden verbrannt, um "Book-'n'-grill"-Events für die Oberschicht zu organisieren, deren Sinne nicht mehr durch die Lektüre, sondern den physischen Genuss von Flaubert, Schnitzler, Proust, Nabokov und Co. entflammt werden. Für FAZ-Kritiker Hubert Spiegel ist Sorokin ohnehin ein "Meister des postmodernen Pastiches und begnadeter Stimmenimitator". Wie geistreich, unterhaltend, böse und spannend der Autor in dieser als Tagebuch angelegten Dystopie die Verhältnisse in seiner russischen Heimat entlarvt, findet Spiegel schlicht genial. In der Berliner Zeitung liest Martin Halter den Roman nicht nur als "schwarze Messe des Zynismus"  und "Schlag ins Gesicht des Bildungsbürgertums", sondern auch als Abgesang auf die Buchkultur. Für Dlf-Kultur hat sich Tobias Wenzel mit Sorokin getroffen.

 
Natascha Wodin
Irgendwo in diesem Dunkel
Roman
Rowohlt Verlag. 240 Seiten. 20 Euro



Mit ihrem Buch "Sie kam aus Mariupol", in dem sie den Suizid ihrer Mutter im Jahre 1956 verarbeitete, begann Natascha Wodin ihr autobiografisches Projekt - mit "Irgendwo in diesem Dunkel" setzt sie es nun fort. Diesmal nimmt sie uns mit in ihre Kindheit und Jugend zu einem prügelnden, schweigenden Vater, dessen Geschichte sie ausgehend von seinem Tod zu ergründen versucht, wofür sie im Kleineleutemilieu Moskaus recherchierte. Vor allem aber reflektiert Wodin ihre eigene Entwicklung im russischen Emigrantenmilieu in Deutschland, erzählt von Gewalt, Obdachlosigkeit, Armut und sozialer Ausgrenzung und von ihrer Befreiung zur späteren Schriftstellerin. Sogkraft entwickelt der Text vor allem durch die beiden weit auseinander liegenden biografischen Pole Wodins, meint in der FR Cornelia Geißler. Dank Wodins ausgezeichneter reflektierender, distanzierter Erzählhaltung wird das Berichtete überhaupt erst erträglich, findet FAZ-Kritikerin Katharina Teutsch, während Marucs Klauer in der Zeit vor allem die "karge Poesie" dieser bewegenden Geschichte hervorhebt. "Lakonie und schonungslose Härte" lobt Sigrid Löffler im Dlf-Kultur und im Tagesspiegel entdeckt Nicole Henneberg sogar "vorsichtigen Humor". In der ARD-Mediathek steht Denis Schecks Begegnung mit Wodin online.
 

Robert Macfarlane
Die verlorenen Wörter
Matthes und Seitz Berlin. 134 Seiten. 38 Euro.



Beim Blick ins "Oxford Junior Lexicon" stellte der britische Naturschriftsteller Robert Macfarlane fest, dass die englischen Begriffe für "Eisvogel", "Eichel", "Farn" oder "Weidenkätzchen" gestrichen wurden. Sein darauffolgender Band "Die verlorenen Wörter" hat in Großbritannien bereits Initiativen zur Rettung vom Verschwinden bedrohter Wörter angestoßen. Hierzulande reicht es zumindest schon mal für einige hymnische Besprechungen: Kleinen und großen Lyrikfreunden gleichermaßen legt etwa FAZ-Kritikerin Ursula Scheer den in der Naturkunde-Reihe von Matthes und Seitz erschienen Band ans Herz: Macfarlanes Gedichte sind "lautmalerische Zaubersprüche, die mit Etymologie und Klang spielen und Abwesendes durch Sprachmagie herbeizitieren", schwärmt sie und gibt sich nicht zuletzt aufgrund der auf goldfarbenem Grund prunkenden Aquarelle von Jackie Morris ganz verzaubert dem Reigen von Flora und Fauna hin. Auch vor Daniela Seels Übersetzung, die Macfarlanes sprachmagisches Zirpen und Erfinden von Zaubersprüchen so einfühlsam ins Deutsche bringt, zieht die Kritikerin den Hut. "Die verlorenen Wörter" ist "ein in Text und Bild überwältigend schöner, in seinen dominierenden Brauntönen zauberhaft irdischer Band", findet auch Wieland Freund in der Welt. Hingewiesen sei außerdem noch auf Judith Schalanskys mit dem Wilhelm-Raabe-Preis geehrtes Buch "Verzeichnis einiger Verluste" ein Prosaband, aber ebenfalls ein Panoptikum der verschwundenen Dinge, das die Kritiker als  bildungssatt, bewegend, gestalterisch brillant, poetisch und originell priesen.

Guillermo Arriaga
Der Wilde
Roman
Klett-Cotta Verlag. 746 Seiten. 26 Euro



Der mexikanische Autor Guillermo Arriaga ist nicht nur Drehbuchautor und Regisseur, sondern auch ein äußerst talentierter Romancier, wie die KritikerInnen versichern. Mit seinem neuen, 750 Seiten starken Roman, der auf der einen Seite vom Heranwachsen des jugendlichen Waisenjungen Juan zwischen Mord und Drogen im Mexiko-Stadt der 1970er Jahre, auf der anderen Seite vom Leben eines kanadischen Wolfes und der Menschen um ihn herum erzählt, landet der mexikanische Autor einen großen Wurf, versichert FAZ-Kritiker Jan Wiele. Die ebenso fordernde wie wuchtige Milieustudie, durcheinandergewirbelte Zeitebenen, brutale Details und das Umkreisen des Animalischen im Menschen lassen ihn über ein paar kitschige Passagen und didaktisch gehaltene literarische Bezüge hinwegsehen. Wenn Arriaga Drogengeschäfte und Gangkriege der Siebziger beleuchtet, lernt taz-Kritikerin Christina Meier zudem einiges über heutige mexikanische Verhältnisse. "Ungezügelte Fabulierlust", einen vereinnahmenden Helden und eine sogkräftige Komposition attestiert Patrick Wellinski im Dlf-Kultur dem Buch. Ebenfalls im Dlf-Kultur spricht Arriaga im Interview mit Dirk Fuhrig über sein Buch.
 

Sachbuch

Adam Rutherford
Eine kurze Geschichte von jedem, der jemals gelebt hat
Was unsere Gene über uns verraten
Rowohlt Verlag. 464 Seiten. 16,99 Euro



Eine "kurze Geschichte" ist Adam Rutherfords 460 Seiten starkes Buch über Genetik und Evolutionsforschung ganz sicher nicht. Ein "faszinierender Wissenschaftsschmöker" schon eher, versichert FAZ-Kritiker Joachim Müller-Jung und staunt, wie detailreich, unterhaltsam und formal verspielt der britische Humangenetiker schildert, wie Natur- und Humanwissenschaften die Menschheitsgeschichte neu ergründen. Wenn Rutherford erzählt, dass jeder von uns mit Karl dem Großen verwandt sei, den Menschen auf den Spuren der Ur- und Frühmenschen neu positioniert und nicht zuletzt die Irrwege der Erblehre diskutiert, etwa, wenn er ausführt, dass sich jede genetische Kategorisierung der Menschengruppen verbietet, kann Jung das Buch als ebenso wichtigen wie überraschungsreichen Stammbaumkrimi nur empfehlen. In der Dlf-Kultur-Buchkritik nimmt Volkhard Wildermuth das "intellektuelle Handwerkszeug" aus der Lektüre mit, um die nächste Schlagzeile zu Errungenschaften der Genetik besser einordnen zu können. Im Guardian bespricht Colin Grant das Buch.

Christopher Clark
Von Zeit und Macht
Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten
Deutsche Verlags-Anstalt. 320 Seiten. 26 Euro



Christopher Clarks historische Studien werden von den KritikerInnen regelmäßig in den höchsten Tönen gelobt. Der australische Historiker führt in seinem neuesten Werk aus, wie Herrscher das Zeitbewusstsein ihrer Epoche prägten. Für
Zeit-Kritiker Alexander Cammann ist es das inspirierendste historische Buch seit Langem. In vier miteinander verbundenen Langessays und mit bestechender Quellenkenntnis kann ihm der Autor darlegen, wie Macht in Deutschland funktioniert hat und wie sich das Zeitbewusstsein der jeweils Herrschenden unterschied. Während der Große Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg ganz auf die Zukunft ausgerichtet war, bestimmte unter Friedrich dem Großen die Antike das Denken. Bei Bismarck wurde die Zeit zu einem Meer, durch das der Steuermann das Schiff sicher führen musste, und die Nazis schufen sich "geradezu wahnhaft" ihre eigenen Jahrestage, resümiert SZ-Kritiker Jens-Christian Rabe und nennt das Buch nicht nur "meisterhaft tiefenscharf", originell und elegant, sondern verdankt ihm auch Einsichten, die auch Brexit-Kampagne und Trumps Präsidentschaft erhellen.

Philipp Blom
Eine italienische Reise
Auf den Spuren des Auswanderers, der vor 300 Jahren meine Geige baute
Carl Hanser Verlag. 320 Seiten. 26 Euro



Philipp Blom ist nicht nur Historiker und Autor, sondern auch passionierter Amateurgeiger. Und genau jenen Leidenschaften verdanken wir dieses Buch, in dem uns Blom mit auf "Eine italienische Reise" durch drei Jahrhunderte nimmt. Über seine Geige wusste Blom nur, dass sie im 18. Jahrhundert vermutlich von einem deutschen Auswanderer in Venedig gebaut wurde, auf dessen Spuren sich der Historiker hier begibt. Wenn Blom sich auf seiner Suche zu den alten Zentren des Instrumentenbaus, von Füssen im Allgäu über Venedig und zurück nach Tirol begibt, freut sich SZ-Kritiker Harald Eggebrecht über eine "liebenswürdige, facetten- und gestaltenreiche", zudem "elegant" geschriebene Serie von Landschafts-, Kultur und Gesellschaftsbildern, die ihn an venezianische "Vedoutenmalerei" erinnert. In der Wiener Zeitung liest Judith Belfkih neben den "musiksoziologischen Porträts eines zeitgenössischen Venedig oder Mailand" auch eine kurzweilige Liebeserklärung an die Violine-Solo-Stücke von Johann Sebastian Bach. Als anregendes und hochinteressantes Buch empfiehlt NZZ-Kritiker Thomas Ribi außerdem Arnold Eschs "Historische Landschaften Italiens"

Nigel Slater
Das Wintertagebuch
Rezepte, Notizen und Geschichten für die kalten Monate
DuMont. 480 Seiten. 38 Euro



Kochbücher werden ja eher selten besprochen. Das "Wintertagebuch" des britischen Foodjournalisten und Gastrokritikers Nigel Slater scheint jedoch kein normales Kochbuch zu sein, wie uns die Kritiker versichern: Ein "prall gefülltes" Werk mit Anekdoten, Kindheitserinnerungen, Küchenwissen, Kochzezepten, "historischen Exkursen und zeitgenössischen Sottisen" hält etwa FAZ-Kritiker Jakob Strobel Y Serra in den Händen und beginnt sofort mit Quittenmousse, Rebhühnern, Wachteln und Plumpudding gegen die Winterdepression anzukochen und dabei mit dem Duft von Gin mit Haferpflaumen in der Nase vorfreudig an Weihnachten zu denken. Als Hymne auf den Winter und sein Mattgrau ist das Buch für ihn die Lektüre des Augenblicks. Slater, dessen Leben bereits vor acht Jahren durch die BBC verfilmt wurde, stillt die "Sehnsucht nach echtem Erlebnis", "nach frühkindlichen Gerüchen und Geschmäckern", meint auch Marten Wolff in der SZ, warnt aber: Was die einen "poetisch" finden mögen, mag anderen doch etwas zu pathetisch sein. Im Standard und in der NZZ spricht Slater über das Buch.

Ulinka Rublack
Der Astronom und die Hexe
Johannes Kepler und seine Zeit
Klett-Cotta Verlag. 409 Seiten. 26 Euro



Im Jahr 1615 wird die verwitwete Mutter des Astronomen Johannes Kepler der Hexerei angeklagt, Kepler unterbricht für die folgenden sechs Jahre seine wissenschaftliche Arbeit und übernimmt ihre Verteidigung vor Gericht. Die in Cambridge lehrende deutsche Frühneuzeithistorikerin Ulinka Rublack hat daraus ein sowohl den historischen Verhältnissen als auch der Komplexität der Personen gerecht werdendes Geschichtsbuch, versichert Zeit-Kritikerin Elisabeth von Thadden und ist dankbar, dass im Zentrum dieser spannenden Geschichte Katharina und nicht ihr Sohn Johannes steht. Auch FAZ-Kritiker Helmut Mayer staunt, wie lebendig Rublack den Hexenprozess aus den überlieferten Akten erschließt, dabei zeitgenössische Hexenverfolgungen ebenso wie das Leben im württembergischen Leonberg im späten 16. Jahrhundert beleuchtet. Im Dlf-Kultur lobt Gerrit Statmann das Buch als lehrreiche Studie der Zustände an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit. "Mikrogeschichte in Bestform", findet auch NZZ-Kritikerin Claudia Mäder.