Bücherbrief

Zärtlich und schonungslos

08.06.2020. Ziemowit Szczerek nimmt uns mit auf einen bewusstseinserweiternden Trip ins finstere Herz Polens, Anna Katharina Hahn blickt in Stuttgarter Abgründe, Johannes V. Jensen erzählt von seiner bäuerlichen Heimat im dänischen Himmerland und Jürgen Wertheimer blickt zurück auf 3000 Jahre europäische Kulturgeschichte. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Juni.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Ziemowit Szczerek
Sieben
Das Buch der polnischen Dämonen
Voland und Qvist Verlag. 288 Seiten. 22 Euro

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Verschwörungstheorien und Fakenews sind im Zuge der Coronakrise in aller Munde. Vielleicht ist es deshalb ganz spannend, gerade jetzt einen Roman zu lesen, der aus der Perspektive eines Journalisten geschrieben ist, der Fake News für ein Internetportal produziert. Vor allem dann, wenn es sich bei dem Autor um Ziemowit Szczerek handelt - für Standard-Kritiker Ingo Petz einer der "einfallsreichsten" und "lebendigsten" Schriftsteller der jungen polnischen Literatur. Szcerek nimmt uns an der Seite seines Antihelden mit Hang zu bewusstseinserweiternden Substanzen mit auf einen Roadtrip von Krakau bis Warschau - mitten ins Herz der Finsternis: Polnische Mythen und Dämonen flankieren den Weg ebenso wie reale Begegnungen mit Nationalismus, Chauvinismus und Größenwahn. Dass der im polnischen Original bereits 2014 erschienene Text noch die Verhältnisse vor PiS schildert, geht für FAZ-Kritikerin Marta Kijowska angesichts der witzig überdrehten Rasanz des Textes und seiner Assoziationen und Reflexionen zu Pop, Träumen und nationalen Komplexen in Ordnung. Szczereks Roman ist nicht zuletzt "eine Mahnung an den Westen, nicht allen Klischees vom Osten aufzusitzen", meint Mathias Schnitzler in der Berliner Zeitung.

Olivia Wenzel
1000 Serpentinen Angst
Roman
S. Fischer Verlag. 352 Seiten. 21 Euro

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Eine ganz andere Ostgeschichte erzählt uns Olivia Wenzel in ihrem Debütroman "1000 Serpentinen Angst". Nachdem uns Bov Bjerg in seinem jüngsten Roman "Serpentinen" gerade erst in die westdeutsche Nachkriegsgeschichte geführt hat, erzählt uns Wenzel in den drei Teilen ihres Romans von einer schwarzen ostdeutschen Frau, die über ihre Rolle als Marginalisierte reflektiert und die sich gegen die Rassismen und Sexismen, die ihr begegnen, wehrt. SZ-Kritiker Felix Stephan lobt nicht nur, wie die Autorin "identitätspolitisches und linkes Denken" voneinander entbindet, sondern auch die Dialogform des Romans: Eine Stimme schildert, die andere stellt aufmüpfige Fragen. Eine große literarische Leistung, findet Stephan. Schonungslos und zärtlich nennt Fridtjof Küchemann in der FAZ den Roman, der seiner Meinung nach vor allem durch Klarheit, Reflektiertheit und Bissigkeit, spitze Dialoge sowie eine empfindsame Protagonistin besticht. Dieser Roman ist eine "Wucht", jubelt Spon-Kritiker Enrico Ippolito, der während der Lektüre  die "Wut, Ekstase, Panik, Scham" der Erzählerin verspürt.

Anna Katharina Hahn
Aus und davon
Roman
Suhrkamp. 308 Seiten. 24 Euro

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Für Welt-Kritiker Richard Kämmerlings ist Anna Katharina Hahn die "Chronistin unserer leicht hysterisierten Neo-Bürgerlichkeit". Mit viel Lob nehmen die RezensentInnen auch Hahns neuen Roman auf, der uns in familiäre und Stuttgarter Abgründe ebenso führt wie ins Pennsylvania der Weltwirtschaftskrise. Erzählt wird die Generationengeschichte der verlassenen Elisabeth, ihrer Tochter Cornelia, die sich auf die Spuren ihrer ausgewanderten Großmutter in den USA begibt, und des kleinen dicken Bruno, der mit seiner Schwester Stella bei der überforderten Oma Elisabeth in Stuttgart bleibt. Dlf-Kultur-Kritikerin Maike Albath staunt, wie Hahn all das zu einem "tiefenscharfen", mit Zeiten, Perspektiven und Märchenbezügen spielenden "Familienpsychogramm" verwebt. Überzeugende Bilder und eine überraschende Perspektive auf "das ultimative Näheverhältnis" einer Familie aus der "Untersicht" attestiert FAZ-Kritiker Patrick Bahners dem Roman. Klugheit, mit Sinn fürs Absurde und die Details des Lebens, bescheinigt Paul Jandl in der NZZ den Roman: Tragisch und komisch zugleich findet er, wie Hahn  schwäbischen Fleiß und religiöse Spießigkeit zeigt. Für die Welt hat Richard Kämmerlings mit der Autorin über ihr Talent gesprochen, aus kleinen Geschichten große Literatur zu machen.


Johannes V. Jensen
Himmerlandsgeschichten
Guggolz Verlag. 235 Seiten. 22 Euro

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Diese Büchersaison bietet eine ganze Reihe bemerkenswerter Kurzgeschichtenbände, die wir auch schon in unserer Eichendorff-Liste zum Thema zusammengestellt haben. Johannes V. Jensens "Himmerlandsgeschichten" picken wir aber gern nochmal heraus: 1904 im dänischen Original erschienen, liegen die Geschichten des Nobelpreisträgers nun laut FAZ-Kritiker Jochen Schimmang in "bravouröser" Übersetzung von Ulrich Sonnenberg auf Deutsch vor und rufen nach Wiederentdeckung: Jensen erzählt von seiner bäuerlichen Heimat im dänischen Himmerland ohne Folklore, dafür mit Sinn für Klassenunterschiede und die sturen Charaktere der Region, lobt Schimmang, der hier von  Habgier, Vergewaltigung, Findelkindern und der Spannung zwischen archaischer Provinz und der neuen Welt liest. Im Dlf-Kultur scheut Peter Urban-Halle den Vergleich mit Gottfried Keller oder Jeremias Gotthelf nicht. Lebensnahe Figuren, ein "kraftvoller" Erzählton, der Verzicht auf Moral und das instruktive Nachwort von Reinhard Kaiser-Mühlecker lassen den Kritiker eine klare Leseempfehlung aussprechen.

Helen Wolff
Hintergrund für Liebe
Roman
Weidle Verlag. 216 Seiten. 20 Euro

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Als Verlegerin war Helen Wolff (1906-1994) berühmt. Zusammen mit ihrem Mann Kurt Wolff emigrierte sie 1941 in die USA, wo sie den Verlag Pantheon Books gründeten. Nach dem Tod ihres Mannes 1963 verlegte sie bis 1981 die Reihe "Kurt and Helen Wolff Books" bei Harcourt, Brace & World: mit Autoren wie Günter Grass, Max Frisch und Uwe Johnson, Italo Calvino und Georges Simenon. Dass sie selbst schrieb, wusste kaum jemand. Wolff hatte offenbar auch nie vor, ihren Roman "Hintergrund für Liebe" zu veröffentlichen. Jetzt ist es doch geschehen, und die Rezensenten sind froh darüber: Der Roman über eine junge Frau, die sich in den 1930er Jahren in Südfrankreich in einen älteren Mann verliebt, ist eine "zauberhaft leichte" Geschichte vor dem Hintergrund politischen Unheils, schreibt Julia Schröder im Dlf. Wie Wolff von einer selbstbewussten Frau erzählt, märchenhaft zuweilen, "zwischen Kitsch und Kunst", findet FAZ-Rezensentin Maria Frisé auf jeden Fall lesenswert. Dass es sich bei dem sich trennenden und wiederfindenden Paar im Text um Helen und Kurt Wolff handelt, steht für sie fest.


Sachbuch

Jan Mohnhaupt
Tiere im Nationalsozialismus
Carl Hanser Verlag. 256 Seiten. 22 Euro

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Ein spannendes und in der Forschung bisher vernachlässigtes Thema geht der Journalist Jan Mohnhaupt mit dieser Studie an: Ob Haustierverbote, Görings Jagdobsession, "Herrentiere", den Kartoffelkäfer als "Volksschädling" oder die Bedeutung von Seidenraupenzucht für die Fallschirmproduktion - Mohnhaupt lässt keinen Aspekt über das Tier-Mensch-Verhältnis im NS-Staat aus, loben die KritikerInnen. In der Zeit hebt Nora Voit die Faktentreue dieses, wie sie findet, eminent politischen Buches hervor, im Dlf zieht Jutta Person das Nachdenken über die Zusammenhänger von Tier- und Menschenzucht dem Anekdotischen im Band vor. Dieses Buch behandelt keineswegs nur einen "Bagatellaspekt" der Nazi-Herrschaft, insistiert Oliver Pfohlmann in der NZZ: Das Verhältnis der Nazis zu den Tieren werfe sehr charakteristische Schlaglichter auf ihre Ideologie, und das mache der Autor in "griffigem Schreibstil" mehr als deutlich. Während Hitlers Schäferhund "Blondi" als deutsches Herrentier inszeniert wurde, behandelte man Hauskatzen als die "Juden unter den Tieren" (nach einer Formulierung des NS-Literaten Will Vesper), lernt Pfohlmann. Er gibt eine emphatische Leseempfehlung.

Desmond Morris
Das Leben der Surrealisten
Unionsverlag. 352 Seiten. 26 Euro

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Als "Husarenstück" würdigt Eva Hepper in Dlf-Kultur dieses Buch des inzwischen 92-jährigen Zoologen und Verhaltensforschers Desmond Morris. Hepper ist die einzige Kritikerin der von uns ausgewerteten Medien, die das Buch bisher besprochen hat - aber nach ihrer Empfehlung möchte man sofort mit der Lektüre loslegen: Morris war vor seiner Karriere als Zoologe selbst surrealistischer Maler und stellte unter anderem mit Miró aus, klärt uns Hepper auf. Der Autor ist also bestens gerüstet, um in Kurzbiografien und Episoden aus dem Leben von Andre Breton, Max Ernst oder Dali, aber auch von weniger bekannten Künstlern wie Victor Brauner oder Leonor Fini zu erzählen. Fotos und Werkabbildungen ergänzen die Geschichten über das Liebesleben und die Stärken und Schwächen der Figuren, freut sich die Kritikerin: Ein so unterhaltsames und zugleich informatives Buch über die Surrealisten hat man noch nie gelesen, meint sie.

Jürgen Wertheimer
Europa
Eine Geschichte seiner Kulturen
Penguin Verlag. 576 Seiten. 26 Euro

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Das Reisen fällt ja diesen Sommer etwas sparsamer aus - mit Jürgen Wertheimers europäischer Kulturgeschichte kann man aber nicht nur quer durch europäische Orte, sondern auch durch die Zeiten reisen. Mit Kulturgeschichte kennt sich der Tübinger Literaturwissenschaftler nämlich aus, versichert Thomas Speckmann in der NZZ, der Wertheimers Vorgehen, durch Erkennen und Aufzeigen Gegensätze und Gemeinsamkeiten zu erschließen, ausdrücklich lobt. Wertheimers 3000 Jahre zurückreichende Reise von der minoischen Kultur über den Kampf des Ostens gegen den Westen bis zum Europa des 19. Jahrhunderts, zeigt Speckmann auch, dass die Stärke Europas in der Ausbalancierung von Autonomiebestrebungen und Bindungsbedürfnissen liegt. "Ein Ritt, der es in sich hat", meint im Dlf auch Matthias Bertsch, der in dieser ebenso "grandiosen" wie "aktuellen" Identitätsgeschichte nicht nur in die kulturellen Abgründe des Kontinents blickt, sondern von Wertheimer auch auf die Doppelgesichtigkeit von Sprache und Kultur hingewiesen wird. Im Dlf-Kultur spricht der Autor über europäische Diversität.


Philip Manow
(Ent-)Demokratisierung der Demokratie
Suhrkamp Verlag. 160 Seiten. 16 Euro

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Für den Politikwissenschaftler Philip Manow steckt die repräsentative Demokratie in einer Krise: Als Demokratieform, die über Institutionen und Parteien funktioniert, erscheint sie oft nicht mehr zeitgemäß, weil diese oft nur noch mit sich selbst beschäftigt sind. Direkte Demokratie ist das neue Schlagwort, das uns aber eben auch Politiker wie Donald Trump beschert hat. Populisten wie er attackieren erfolgreich die Ausschlussmechanismen, die eben auch der Disziplinierung des unzivilisierten Plebs dienten, erklärt Jens Bisky in der SZ. Zum anderen aber scheint Manow laut Bisky auch ein äußerer Stabilisator zu fehlen, das heißt ein äußerer Gegner, so dass sich innere politische Gegnerschaften zu undemokratischen Feindschaften steigern. Für Bisky ist Manows Essay eine "so genaue wie dichte Beschreibung der demokratisch entdemokratisierten Gegenwart". Auch Jens Balzer (dlf Kultur) lobt das Buch als gut lesbar und in seiner Verkehrung gewohnter Perspektiven inspirierend. Beim Dlf findet man auch ein Interview mit dem Autor.

Barbara Bleisch, Andrea Büchler
Kinder wollen
Über Autonomie und Verantwortung
Carl Hanser Verlag. 304 Seiten. 22 Euro

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Im Zuge der Coronakrise gingen Bilder von rund hundert Neugeborenen um die Welt, die von ukrainischen Leihmüttern in einer Klinik ausgetragen und wegen der Pandemie nicht abgeholt werden konnten. Sonst wird eher selten über das Thema gesprochen - genau wie über sogenanntes "Gene Editing" oder "Social Egg Freezing". Nun aber legen die Ethikerin Barbara Bleisch und die Medizinrechtlerin Andrea Büchler dieses Buch vor, das Susanne Billig im Dlf-Kultur als sachkundigen, umfassenden Überblick über die ethischen Fragen der Fortpflanzungsmedizin empfiehlt. Dass die Autorinnen die verschiedenen Perspektiven auf das Thema rechtsphilosophisch und gesellschaftspolitisch analysieren, ergibt laut Billig einen anspruchsvollen und differenzierten Text, der zu eigener Meinungsbildung einlädt. Dass sie auf manch kritischen Aspekt (etwa über die Leihmutterdienste indischer Frauen) verzichten, findet die Kritikerin schade, aber auch so gibt das Buch ihr viel zu denken. Die NZZ hat ein Interview mit den beiden Autorinnen zum Thema geführt.