Bücherbrief

Lebensfrühjahrsputz

13.05.2018. Alexander Schimmelbusch reist rau, wirklichkeitssatt und irrwitzig durch ein dystopisches Hochdeutschland, Eric Vuillard erzählt mit Witz, Sachkenntnis und einer Prise französischem Pathos' von der Machtergreifung der Nazis, Claire-Louise Bennett lässt ihre Fantasie in einem irischen Garten sprießen und Andreas Guski erzählt magisch, spektakulär und klug von Dostojewski. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Mai.

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Weitere Anregungen finden Sie in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

CoverAlexander Schimmelbusch
Hochdeutschland
Roman
Tropen Verlag 2018, 214 Seiten, 20 Euro

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Alexander Schimmelbusch arbeitete fünf Jahre als Investmentbanker, weiß also, wovon er schreibt, wenn er in "Hochdeutschland" hinter die Kulissen des Kapitalismus blickt. Und so loben die Kritiker nicht nur die ausgezeichnete Milieukenntnis in dieser Geschichte um einen geläuterten Banker, sondern küren den Roman gleich zum "Buch der Stunde". So "rau", wirklichkeitssatt, irrwitzig und doch elegant hat seit den "Buddenbrooks" niemand mehr von der wirtschaftlichen Realität erzählt, schwärmt Zeit-Kritiker Florian Illies. In der SZ denkt Jens-Christian Rabe an Houellebecq, wenn ihm Schimmelbusch bitter, böse und brillant von Finanztricksereien und Wirtschaftspolitik erzählt. Für Zeit-Kritiker Tomasz Kurianowicz geht der Roman als veritable Populismus-Satire durch, wenn hier linke Polemik und Reformversuche mit plumper Islamkritik gemixt werden. Auf Spon würdigt Felix Bayer das Buch als mehrheitsfähiges und zugleich "radikales Manifest" über Verstaatlichung von Vermögen und ungerechte Einkommensverteilung, und im Standard hat Christian Schachinger angesichts dieses hessischen "American Psycho" über entfesselte Märkte und Ausgrenzung laut gelacht, sich ordentlich gegruselt und schließlich bitterlich geweint. Großes Kino, findet auch FAZ-Kritiker Jan Wiele und nimmt dem Autor linkes Sendungsbewusstsein und ein paar Kalauer nicht übel.

CoverEric Vuillard
Die Tagesordnung
Matthes und Seitz 2018, 128 Seiten, 18 Euro

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Der französische Historiker, Regisseur und Schriftsteller Eric Vuillard erzählt uns in seinem mit dem "Goncourt"-Preis ausgezeichneten Buch "Die Tagesordnung" von der Machtergreifung der Nazis mit besonderem Blick für Hitlers Treffen mit Industriefunktionären und Politikern, darunter etwa dem österreichischen Kanzler Schuschnigg oder dem britischen Premierminister Chamberlain. Im Französischen wird dieses Genre als "recit", im Deutschen als "erzählendes Sachbuch" bezeichnet, erklärt Zeit-Kritikerin Iris Radisch und schwärmt: Großartig, mit wieviel Sachkenntnis und Witz, Sinn für Pointen und Apercus und einer kleinen Prise französischem Pathos' Vuillard Weltgeschichte seziert und auf 180 Seiten zusammenschnurren lässt. Während Christina Lenz in der FR diesem virtuos montierten, spannenden, hochpolitischen und poetischen Kammerspiel einen ganz ungewohnten Blick auf die Geschichte verdankt, will FAZ-Kritiker Jochen Schimmang dem szenenreichen "Bilderbogen" nicht ganz trauen, denn wer hier - durchaus empört - erzählt, bleibe unklar. In der SZ staunt Joseph Hanimann vor allem, wie Vuillard historische Szenen knapp, genau bis zu den Schweißperlen der Figuren kondensiert, und im DLF liest Christoph Vormweg "hochkarätige Prosa" voller Dynamik, der er auch "flache Witzchen" und Momente "moralischer Empörung" verzeiht. In der ZDF-Mediathek steht ein Aspekte-Beitrag zum Buch online.

CoverClaire-Louise Bennett
Teich
Luchterhand Literaturverlag 2018, 224 Seiten, 22 Euro

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Was für ein Debüt! jubeln die Kritiker einstimmig über Claire-Louise Bennetts "Teich", in dem uns die britische Autorin von einer jungen Frau erzählt, die nach gescheiterten Lebensstationen Job, Freund und Karriere hinter sich lässt, um sich in ein altes Steincottage in einem irischen Küstendorf zurückzuziehen. Welt-Kritiker Richard Kämmerlings hat sich von der überbordenden Fantasie der jungen Autorin geradezu verschlingen lassen - auch wenn er das zwischen "hyperrealistischem Beschwören" a la Peter Handke und dem Fragmentarischen von Tom Espedal switchende Buch nicht als Roman bezeichnen möchte. Wie Bennett ihre amokartig einen Garten umpflügende Heldin "Lebensfrühjahrsputz" betreiben lässt, hat ihn aber tief beeindruckt. Kapitel wie knappe Gedichte oder Momentaufnahmen entdeckt Spiegel-Kritikerin Anne Haeming hier und stellt fest: Hier wird alles auf den Kopf gestellt, was man über Literatur und Einsamkeit zu wissen glaubte. Von einer "immersiven" Lektüre berichtet Andrew Gallix im Guardian und fügt hinzu: Dieses witzige, wunderschön geschriebene Buch erinnere uns an das Leuchten alltäglicher Dinge. In der New York Times bespricht Meghan O'Rourke das Buch.

Cover: Herr Katō spielt FamilieMilena Michiko Flasar
Herr Kato spielt Familie
Roman
Klaus Wagenbach Verlag 2018, 176 Seiten, 20 Euro



Milena Michiko Flasars neuer Roman ist wieder eine ihrer kleinen, "ungewöhnlichen" Geschichten, in denen Menschen sich aus ihrem Alltagskorsett befreien, um für eine Weile ein anderes, aufregendes Leben zu führen, freut sich FR-Kritikerin Dorothee Wahl. Erzählt wird die Geschichte von Herrn Kato, der nach seinem Renteneintritt am "Retired Husband Syndrome" erkrankt: Zeitlebens auf die Arbeit fixiert, fehlen ihm nun sämtliche soziale Kompetenzen. Aus der Sinnkrise und zu Empathie findet Herr Kato dank einer Stand-In-Agentur, die ihn als Mietopa, -ehemann oder -chef an Fremde vermittelt. Ergriffen von der "leichtfüßig" erzählten, die Grenzen zwischen Realität und Fiktion auslotenden Geschichte zeigt sich Christoph Schröder in der SZ. Ganz hingerissen von der "pulsierenden Energie", mit der Flasar ihre Figuren beschreibt, ist Paul Jandl in der NZZ, während sich Zeit-Kritiker Markus Clauer von der wunderbar ironischen, gelegentlich ein wenig kitschigen Story "diskret entwaffnet" fühlt. Im Standard attestiert Stefan Gmünder der österreichischen Autorin einen "sanften" Blick für ihre Figuren und im ORF hat Kristina Pfoser ein "berührend melancholisches Kammerspiel" gelesen.

Cover: Ein schönes PaarGert Loschütz
Ein schönes Paar
Roman
Schöffling und Co 2018, 240 Seiten, 22 Euro



Autobiografisch geprägt ist Gert Loschütz' Liebes- und Ehegeschichte, erzählt aus der Perspektive eines Fotografen, der mit Mitte 60 und nach dem Tod der Eltern deren schicksalhafte Beziehung zwischen Ost und West, zwischen Zusammenhalt und Trennung betrachtet. Literarisch intelligent, elegant, taktvoll und kitschfrei nennt Zeit-Kritikerin Ursula März diesen Roman über die Unergründlichkeit der Liebe, während Lerke von Saalfeld in der FAZ staunt, wie "subtil und zart", leise und poetisch Loschütz Schicht um Schicht Einzelheiten aus dem Leben seiner Figuren entblättert. In der SZ erkennt Insa Wilke hinter den Sepiafarben der Erzählung nicht nur eine hochaktuelle Auseinandersetzung mit individuellem Sehnen unter kollektivem Zwang, sondern sie staunt auch, wie Loschütz eine reale Erfahrung ins beinahe Mythisch-Allgemeine hebt. Und im RBB-Kulturradio bewundert Salli Sallmann vor allem die "bedächtige, sich ihrer Gefühls- und Gedankenschritte immer wieder rückversichernde Sprache" und die "sensibel-genaue" Bedächtigkeit der Erinnerungssequenzen. Ein wenig zu "artifiziell" gerät indes Joachim Dicks im NDR der Roman.


Sachbuch

CoverJonathan B. Losos
Glücksfall Mensch
Ist Evolution vorhersehbar?
Carl Hanser Verlag 2018, 384 Seiten, 26 Euro



1989 legte Stephen Jay Gould den Band "Zufall Mensch" vor - nun legt sein ehemaliger Schüler, der Biologe Jonathan B. Losos mit "Glücksfall Mensch" nach - und die Kritiker sind glücklich: Dass der Homo sapiens nur das Ergebnis einer glücklichen Fügung ist, lernt etwa Welt-Kritiker Michael Pilz hier und verdankt dem anschaulich geschriebenen Buch auch die Einsicht, dass der Mensch im Anthropozän wieder verantwortlich für sein Handeln gemacht werden kann. Losos verschwendet keine Worte über den Kreationismus - geht allerdings umso mehr auf den Determinismus ein und mit jenem auch "höflich ins Gericht", schreibt Pilz. Von den Feldforschungen des Biologen, etwa mit Fruchtfliegen, Hirschmäusen, Mikrovölkern oder den Bakterien im innermenschlichen Milieu des Lungenschleims liest der Kritiker ebenfalls mit Gewinn. In der FAZ lobt Thomas Weber vor allem die Lockerheit des Stils, die ausgewogene Sachlichkeit und die breite Kenntnis neuester evolutionsbiologischer Forschung. Neben schönen Illustrationen bewundert Michael Lange im DLF-Kultur, dass Losos auf sorgfältiges Beobachten und Informationsdichte statt auf schnelle Urteile setzt.

Cover: Staat ohne GottHorst Dreier
Staat ohne Gott
Religion in der säkularen Moderne
C.H. Beck 2018, 256 Seiten, 26,95 Euro



Seit die AfD in den Bundestag gekommen ist, haben sich die Debatten erheblich verschärft. Die Parteien in der neuen Großen Koalition betonen wieder stärker ihre angeblichen "Unique Sellings Points". Das führt bei CDU und CSU dazu, dass die trübe Leitkulturdebatte wieder aufgerührt wird und dass die CSU anfängt, Kreuze in Amtsstuben zu hängen. Da kommt ein mäßigendes Buch wie das Dreiers, das die Notwendigkeit der Trennung von Staat und Religion - "und heiße sie auch Christentum" - begründet, wie gerufen. Das Buch wurde positiv aufgenommen. In der NZZ lobt der Philosoph Otfried Höffe die Präzision Dreiers, der dennoch ohne nervende Gelehrsamkeit auskomme. Ähnlich der Rechtsphilosoph Christoph Möllers, der in der Zeit lobt, dass Dreier darauf verzichtet, auf die Tagespolitik zurückzugreifen: Gerade dadurch, so Möllers, werde das Buch zum Lehrbuch. Der NDR brachte ein leider nicht transkribiertes 25-minütiges Gespräch mit dem Autor. "'Staat ohne Gott' bedeutet dabei nicht, dass Mensch und Gesellschaft ohne Gott leben sollten. 'Ehrfurcht vor Gott' indes als festgeschriebenes Erziehungsideal für bayerische Schulen widerstreite dem Neutralitätsgebot", heißt es in der Einleitung.

Cover: IntegrationHamed Abdel-Samad
Integration
Ein Protokoll des Scheiterns
Droemer Knaur Verlag 2018, 272 Seiten, 19,99 Euro



Im NDR-Interview betont Dreier, dass religiöse Konflikte nur innerhalb einer staatlichen Neutralität gelöst oder zumindest beherrscht werden könnten. Dem würde sicher auch Hamed Abdel-Samad zustimmen, der in seinen Büchern strikt religions- und nicht nur islamkritische Positionen bezieht. Integration scheitert für ihn in Deutschland nicht nur, weil sich Muslime in Parallelgesellschaften verschanzen, sondern weil die Aufnahmegesellschaften kein klares Integrationsangebot machen - unter anderem, weil sie etwa in der Islamkonferenz mit angeblichen Vertretern der Muslime verhandeln, statt sich an die einzelnen zu wenden. Das Buch ist in den von uns ausgewerteten Zeitungen (FAZ, FR, NZZ, taz, Welt und Zeit) bisher leider erst in der SZ besprochen worden - negativ und mit dem üblichen Vorwurf an Islamkritiker, sie würden den Rechten in die Hände arbeiten. Gerade in der Religionskritik dürfte sich Abdel-Samad aber erheblich auch von den Neuen Rechten unterscheiden, die den religiösen und kulturellen Unterschied gerade betonen. Vielfach hat Abdel-Samad den Kirchen vorgeworfen, durch ihre Privilegierung des "Dialogs" mit konverativen Imamen eine Verfestigung der Parallelgesellschaften zu befördern. Der WDR brachte ein Interview zu dem Buch. Als Plädoyer für Pluralismus und Inklusion empfiehlt Jörg Scheller in der NZZ "Zusammen leben" - das Buch des Mechelener Bürgermeisters Bart Somers.

Cover: Afrika: genauer betrachtetKirsten Rüther
Afrika: genauer betrachtet
Perspektiven aus einem Kontinent im Umbruch
Edition Konturen 2017, 207 Seiten, 26,80 Euro



Bereits im vergangenen Jahr erschienen und wenigstens von der FAZ mit einiger Verspätung besprochen, ist dieses zugegeben unscheinbar aufgemachte Buch von Kirsten Rüther, in dem die in Wien lehrende Professorin für die Geschichte Afrikas den Kontinent anhand verschiedener Themengebiete aus Geschichte und Gesellschaft betrachtet. FAZ-Kritikerin Monika Remé liest in dem kreuz und quer durch Themen und Kontinent springenden Buch etwa vom geschickt taktierenden König von Buganda, von der religiösen Führerin Nana Asma, von Nigerias Faible für Spitzen aus Österreich oder den schwindenden Perspektiven der wachsenden Jugend. Dank Rüthers ganz eigener Stimme vermisst die Kritikerin Systematik oder Analyse nicht. Und im Standard bewundert Tanja Traxler "Rüthers Gabe, Geschichten eines Kontinents im Umbruch zu erzählen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, den Lesern Afrika umfassend in seiner Gesamtheit zu erklären". Sie empfiehlt das Buch sowohl Afrikakundigen als auch Menschen, die sich noch nicht eingehender mit dem Kontinent beschäftigt haben.

CoverAndreas Guski
Dostojewskij
Genie und Spieler
C.H. Beck 2018, 460 Seiten, 28 Euro



Sympathischer ist den Kritikern Dostojewski nach der Lektüre von Andreas Guskis Biografie zwar nicht geworden, dem Buch des Basler Slawisten und versierten Dostojewski-Kenners widmen sie allerdings ausnahmslos hymnische Besprechungen: NZZ-Kritiker Ulrich M. Schmid würdigt das Buch als sorgfältig recherchiertes Gegengewicht zur "pathosschwangeren" deutschen Dostojewski-Philologie, das ohne kruden Biografismus, aber mit "anspruchsvollen" Werkdeutungen ein komplettes Bild des Künstlers entstehen lasse. Magisch, groß und außerdem "schwer, leicht, spektakulär, klug" nennt FAS-Kritikerin Anna Prizkau das Buch nach einer atemlosen Lektüre, die sie von Dostojewskijs Aufstieg bis hin zu seiner Scheinhinrichtung im Gefängnis über seine Jahre in der sibirischen Verbannung und später bis an die Casino-Tische von Wiesbaden und Baden-Baden führt. In der FAZ möchte sich Christiane Pöhlmann sofort in Dostojewski-Werke vertiefen, auch wenn sie in Guskis erfreulich unhagiografischer Biografie auch etwas über die dunklen Seiten des Künstlers, etwa dessen Antisemitismus, erfahren hat. Im WDR bewundert Brigitte van Kann, wie Guski noch aus dem kleinsten, bisher unbekannten Detail neue Funken schlägt und im Standard versteht Ronald Pohl nach der Lektüre, weshalb Dostojewski als "nationalrussischer Moralist und überzeugter 'Antiwestler'" auch in Putin-Russland ein Autor von großer Brisanz bleibt.