Bücherbrief

Vulgär funkelnd

11.06.2019. Fernanda Melchor entwirft bei flirrender Hitze einen mexikanischen Reigen des Grauens, Colson Whitehead erzählt drastisch, aber verhalten-poetisch vom Rassismus in einer Besserungsanstalt im Florida der Sechziger, Jachym Topol schickt eine kuriose Gruppe Glücksritter quer durch Osteuropa und Rachel Carsons Ökobibel "Stummer Frühling" scheint aktuell wie nie zuvor. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Juni.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Fernanda Melchor
Saison der Wirbelstürme
Roman
Wagenbach. 240 Seiten. 22 Euro

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Sicher kein Roman für Dünnhäuter - so weit sind sich die KritikerInnen einig: Die Geschichte um eine in der mexikanischen Provinz ermordete Hexe, die bei glühender Hitze von ein paar Kindern im Zuckerrohrdickicht gefunden wird, was eine ganze Kaskade von Ereignissen anstößt, scheint Welt-Kritikerin Johanna Holtkemper so drastisch, dass sie lieber erst gar nicht wissen möchte, was davon auf wahren Begebenheiten beruht. Aus unterschiedlichen Perspektiven schildert ihr Melchor nämlich eine mexikanische Realität aus Machismo, Gewalt und schwarzer Magie: Wenn sie dann noch von den brutalen Schicksalen verschiedener Figuren, von Orgien, Drogen, Erniedrigungen und Abtreibungen liest, hat ihr die mexikanische Autorin endgültig alle Hoffnung auf Liebe ausgetrieben. FR-Kritikerin Judith von Sternburg ergänzt den Reigen des Grauens noch um folternde Polizisten und Gewalt gegen Frauen, hebt aber auch die Klasse des Textes hervor: Filmische Dramaturgie, lebhafte Figuren und die offene Form des Textes machen  das Buch für sie zum Meisterwerk. In der SZ hätte sich Ralph Hammerthaler zwar ein bisschen Wärme von Melchor gewünscht, der "vulgären, funkelnden" Sprache dieses "hochliterarischen" Textes kann aber auch er sich nicht entziehen: eine der wichtigsten literarischen Stimmen Lateinamerikas, meint er. Ein Roman, der lange nachhallt, findet auch Christoph Ohrem im WDR 5.

Pedro Badran
Der Mann mit der magischen Kamera
Ein karibischer Roman
Edition 8. 224 Seiten. 22,20 Seiten

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Und noch ein Roman entführt uns in diesem Monat nach Lateinamerika, genau genommen in ein heruntergekommenes kolumbianisches Hotel, in dem sich eine Gruppe Hippies, Hobos und Gescheiterte verkrochen hat, um bei Sex, Drugs und Rock'n'Roll auf einen legendären Fotografen zu warten. In diesem Roman  - für FAZ-Kritiker Hans Christoph Buch  eine postmoderne, lateinamerikanische Version von Becketts "Warten auf Godot"  - geht es also ruhiger zu als bei Melchor. Der Stimmenwirrwarr der Figuren ist nicht eben leicht auseinanderzuhalten, warnt er, aber nachdem er sich einmal eingefunden hat, kann er sich dem Bann des von "Sindbads Abenteuern bis zu Gert Loschütz' 'Dunkler Gesellschaft' durch die Literaturhistorie geisternden" Romans nicht entziehen kann. Und im NDR staunt Tobias Wenzel vor allem, wie lebendig Badran uns den Ort seiner Jugend, das karibische Cartagena, vor Augen führt.

Colson Whitehead
Die Nickel Boys
Roman
Carl Hanser Verlag. 224 Seiten. 23 Euro

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Auch Colson Whiteheads neuer Roman "Die Nickel Boys" verlangt uns einiges ab: Wenn der amerikanische Pulitzer-Preisträger von einer Besserungsanstalt im Florida der sechziger Jahre erzählt, in der vor allem schwarze Jungen vor dem Hintergrund der diskriminierenden Rassengesetze einem sadistischen System von Misshandlung und Missbrauch durch überwiegend weiße Peiniger ausgeliefert sind, packt die KritikerInnen das kalte Grauen. Weder dass der Fall um jene Folteranstalt in Florida, deren ganzes Ausmaß erst 2014 ans Licht kam, als man dort geheime Gräber entdeckte, auf wahren Begebenheiten beruht, noch die Tatsache, dass Whitehead immer dann ausblendet, wenn es blutig wird, machen die Lektüre leichter, warnt in der Welt Wieland Freund vor: Man ahnt ja, welche Gewalt er dem Leser damit vorenthält, und der Kampf der Protagonisten um ihre Würde ist nicht weniger qualvoll und herzerweichend, findet Freund. In der FAZ staunt Sandra Kegel, wie analytisch und nah an den drastischen Fakten entlang Whitehead das Zusammenwirken von Scham, Ohnmacht und Macht untersucht. Dabei erzählt er so bildhaft und rhythmisch, dass sich der Dlf-Kultur-Kritiker Carsten Hueck am Ende doch ganz gern in diesem expressiven Blues wiegt.

Leila Slimani
All das zu verlieren
Roman
Luchterhand Literaturverlag. 224 Seiten. 22 Euro

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Mit ihrem Roman "Dann schlaf auch du" über eine mordende Nanny im Pariser Bobo-Milieu, überall gelobt als scharfes Sittenbild der französischen Gesellschaft, gelang der französisch-marokkanischen Schriftstellerin Leila Slimani hierzulande der Durchbruch. Natürlich ist nun in Folge auch ihr fünf Jahre alter Debütroman auf Deutsch erschienen, der den KritikerInnen zwar etwa schwächer als der Nachfolger erscheint, aber dennoch genügend Brisanz, Drama und noch mehr Sex verspricht: Erzählt wird die Geschichte der französischen Journalistin Adele, die ihrem Kleinfamilien-Idyll entflieht, indem sie sich auf die Suche nach immer brutalerem Sex mit verschiedensten Männern begibt, um ihre Sexsucht und Einsamkeit zu stillen. Dass Slimani all das nüchtern und ganz ohne Psychologisierungen schildert, findet Zeit-Kritikerin Judith Heitkamp faszinierend: Adele ist nicht romantisch wie Bovary; was sie tut, ist nicht Ausdruck von Freiheit wie bei Millet, meint sie. In der Welt ruft Mara Delius mit Slimani gleich eine neue "weibliche Sex-und-Gewalt-Ästhetik in der Literatur" aus: Daneben wirken sogar Houellebecq, Littell und Co. angestrengt, findet sie. Spon-Kritikerin Julia Friese winkt dagegen ab: Ehebruch mag in der islamischen Welt für Schnappordnung sorgen, sie hingegen lässt das kalt.

Jachym Topol
Ein empfindsamer Mensch
Roman
Suhrkamp. 494 Seiten. 25 Euro

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Viel ist vom Leipziger Buchmessen-Gastland Tschechien nicht hängen geblieben - und auch Jachym Topols neuer Roman "Ein empfindsamer Mensch" ist von den KritikerInnen erst nach und nach entdeckt worden. Dabei ist das Buch, in dem der Autor eine tschechische Schauspielerfamilie quer durch Osteuropa schickt, diese auf Flüchtlingsströme treffen lässt und durchs russisch-ukrainische Kriegsgebiet schickt, äußerst aktuell, wie etwa FAZ-Kritiker Tilman Spreckelsen bereits im März festhielt: Er attestiert Topol ein waches Gespür für den neuen Nationalismus in den mitteleuropäischen Ländern. Dabei kommt das Lachen keineswegs zu kurz, ergänzt Jörg Plath in der NZZ, der staunt wie Topol "Ritterroman und Kasperletheater" in seiner Roadnovel miteinander verknüpft, um historische Traumata zu verhandeln. Und in der SZ ist Birthe Mühlhoff ist ganz betört, wenn sie liest, wie Topol in charmanter, leichter, von Eva Profousova gekonnt ins Deutsche übertragener Sprache seine saufenden, schlagenden, leidenden Glücksritter in einem BMW, den sie zuvor Gerard Depardieu geklaut haben, durch Europa schickt. Dlf-Kritikerin Katharina Teutsch gehört sowieso spätestens seit Topols 1994 erschienenem Wenderoman "Die Schwester" zu dessen Bewunderern und weiß deshalb, dass sich hinter all dem Mummenschanz literarische und intellektuelle Empfindsamkeit verbirgt. Für die Zeit hat sich Thomas E. Schmidt mit dem Autor getroffen.


Sachbuch

Rachel Carson
Der stumme Frühling
C.H. Beck. 443 Seiten. 16,95 Euro

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Im Grunde ist es erschreckend, dass Rachel Carsons Ökobibel "Der stumme Frühling", 1963 erstmals erschienen, noch heute nicht viel an Aktualität eingebüßt hat: Schon vor knapp sechzig Jahren wies die amerikanische Umweltschützerin und Wissenschaftsautorin nahezu im Alleingang nach, dass Pestizide krebserregend und für das Artensterben verantwortlich seien, wie etwa Meehan Crist in der London Review of Books bewundernd, aber auch erschüttert feststellt: Denn Carson schuf mit ihrem Buch, von dem Umwelthistoriker Joachim Radkau als "Ouvertüre der amerikanischen Umweltbewegung und ökologischen Revolution weltweit" gewürdigt, genug öffentliches Bewusstsein, um einen rigorosen Politikwandel herbeizuführen - was man sich in der heutigen Politik trotz Greta kaum vorstellen kann. Auch wenn Carsons Einsatz gegen das Insektizid Dichlordiphenyltrichlorethan Erfolg hatte, ist der prophezeite "stumme Frühling" heute eingetreten: "Seit einigen Jahren schon weisen Wissenschaftler auf der ganzen Welt darauf hin, dass die Zahl der Insekten rapide zurückgegangen ist, allein in Deutschland soll sie laut einer Studie in den vergangenen 30 Jahren um zwei Drittel geschrumpft sein", verkündet etwa Nicolas Freund in der SZ. Zahlen zum Vogelsterben liefert indes Jan Henne im Geo Magazin. Interessant ist zu lesen, wie das Buch früher aufgenommen wurde:  2012, 50 Jahre nach dem ersten Erscheinen, nahm sich in der SZ Katrin Blawat das Buch nochmal vor, dem sie brillante Recherche und "drastische und fundierte Schilderungen" attestierte. "50 Jahre nach der Veröffentlichung von Der stumme Frühling stellt sich im Angesicht der Erderwärmung, des steigenden Meeresspiegels und zerfallender Korallenriffe aber die Frage, ob sich die Umwelt nicht in größerer Gefahr denn je befindet", warnte Robin McKie im Observer/Freitag. Ebenfalls empfohlen wird Carsons neu aufgelegter, 1965 entstandener Essay "Magie des Staunens" (Bestellen).

Cornelia Koppetsch
Die Gesellschaft des Zorns
Rechtspopulismus im globalen Zeitalter
Transcript Verlag. 288 Seiten. 19,99 Euro

Das "wohl anregendste" Buch" über die Ursachen des aufblühenden Rechtspopulismus, meint Zeit-Kritiker Adam Soboczynski über dieses Buch der Soziologin Cornelia Koppetsch. Ihm gefällt vor allem, dass Koppetsch nicht einfach Fremdenfeindlichkeit oder Armut für den neuen Rechtsruck verantwortlich macht, sondern eine seit 1989 immer stärker werdende Globalisierung. Die wird begrüßt von einer akademisch gebildeten Mittelschicht, die sich kosmopolitisch fühlt, wenn sie ihre Kinder auf Schulen schickt, die von ebenso kosmopolitisch Gesinnten aus dem selben gesellschaftlichen Milieu besucht werden. Andere dagegen sehen einfach nur ihre Arbeitsplätze verschwinden und ihre Traditionen belächelt. Viele wenden sich dann wütend nach rechts. Einleuchtend, findet Soboczynski diese Erklärung. Im Interview mit Spon warnt Koppetsch nachdrücklich davor, das Gespräch mit AfD-Wählern einfach zu verweigern. Gerade die Kosmopoliten könnten sich, was den Vorwurf der Intoleranz angeht, gern auch mal an die eigene Nase fassen. Und im Interview mit der NZZ präzisiert sie: "Der Sozialstaat war bis anhin immer an den Nationalstaat gekoppelt ... Die Spaltung verläuft zwischen denen, die mobil sind oder sich transnational orientieren, und denen, die zum Erhalt ihres Wohlfahrtsniveaus nach wie vor auf einen starken Staat angewiesen sind. Der Patriotismus der neuen Rechtsparteien hat somit auch eine existenzielle Grundlage."

Peter Braun
Ilse Schneider-Lengyel
Fotografin, Ethnologin, Dichterin. Ein Porträt
Wallstein. 284 Seiten. 24,90 Euro

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Die Fotografin, Kunsthistorikerin, Ethnologin, surrealistische Lyrikerin, Essayistin und Literaturkritikerin Ilse Schneider-Lengyel ist heute weitgehend vergessen - dabei war sie möglicherweise interessanter als alles, was die Gruppe 47 hervorgebracht hat, und zwar nicht nur, weil sie die Gastgeberin für deren erstes Treffen war. Lengyel studierte in München, Paris und Berlin, bewegte sich vor dem Krieg in den Kreisen des Bauhauses ebenso selbstverständlich wie sie sich nach dem Krieg in der Gruppe 47 engagierte und starb dennoch komplett verarmt, vergessen und lädiert 1972 in einer psychiatrischen Anstalt in Konstanz. All das und noch viel mehr lässt sich nachlesen in der Biografie des Literaturwissenschaftlers Peter Braun, die uns Helmut Böttiger im Dlf-Kultur wärmstens ans Herz legt:  Braun hat dieses Leben, das in Armut und Wahnsinn endete, "atmosphärisch dicht und sehr instruktiv" beschrieben, lobt Böttiger, der hier ein "geheimes Zentrum" deutscher Kultur wittert, das noch kaum erforscht sei.

Anne Applebaum
Roter Hunger
Stalins Krieg gegen die Ukraine
Siedler Verlag. 544 Seiten. 36 Euro

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In einem Gespräch mit dem Schweizer Radio erklärt Anne Applebaum kurz und bündig, warum es sich bei dem Hungermord an vier Millionen Bauern in der Ukraine 1932-33 um ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt: "Zunächst muss man verstehen, was der 'Holodomor' war.  Er war nicht eine zufällige Folge der Kollektivierung, der Zwangsenteignung der Bauern. Er wurde vielmehr vorsätzlich herbeigeführt. Gruppen von Parteiaktivisten gingen von Haus zu Haus und beschlagnahmten Nahrungsmittel. Und es ist wichtig zu wissen, dass das Geschehen danach vertuscht wurde. Der sowjetische Staat sorgte dafür, dass man nicht öffentlich über die Hungersnot sprach und dass auch keine ausländischen Journalisten darüber schrieben." Ihr Buch resümiert den heutigen Stand des Wissens über den "Holodomor" und wurde von der Kritik fast einhellig begeistert aufgenommen - gerade auch, weil Applebaum vorsichtig mit den Fakten umgeht und etwa nicht auf dem Wort "Genozid" besteht, wie Richard Herzinger in der Welt anmerkt. Der Osteuropa-Historiker Stefan Plaggenborg begrüßt in seiner FAZ-Rezension, dass es Applebaum nicht bei der Schilderung des Verbrechens belässt, sondern in ihrem Buch auch die ukrainische Nationwerdung um 1917 beleuchtet.

Lewis Darnell
Ursprünge
Wie die Welt uns erschaffen hat
Hanser Berlin. 384 Seiten. 25 Euro

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Nur dem Dlf-Kultur-Kritiker Volkart Wildermuth ist dieses Buch des britischen Astrobiologen Lewis Dartnell bisher aufgefallen, dabei verhandelt es nichts geringeres als die "Ursprünge" unserer Weltgeschichte: Die Erde selbst bestimmt mit ihren Stimmungsschwankungen nämlich den Verlauf der Geschichte erheblich mit, lautet Dartnells These. Könige, Kaiser und Diktatoren mögen kommen und gehen, die Erde bleibt und ihre Struktur, ihr geologischer Untergrund bestimmt unser Leben viel stärker als wir ahnen. Und mehr noch entnimmt der angeregte Rezensent dem Buch: Demokratie? Ist das Ergebnis der Küstenlinie Griechenlands. Kapitalismus? Wurde in Holland entwickelt als Antwort auf die Gefahren des Meeres. Das Wahlverhalten von Briten und Amerikanern? Ist von Meeresarmen geprägt. Wildermuth staunt, hat manchmal Mühe, dem sprunghaften Autor zu folgen, wird aber durch kluge, überraschende Einsichten und eine "bildreiche" Sprache bestens entschädigt.