Bücherbrief

Unverjährbares Erzählen

09.01.2018. Aharon Appelfelds hinterlässt einen letzten Roman über eine Kindheit in der Bukowina, Maggie Nelson erzählt offenherzig vom Zusammenleben in der queeren Kleinfamilie, Angel Santiesteban führt uns schmerzhaft deutlich in kubanische Gefängnisse, David Miller liefert eine politische Philosophie der Einwanderung. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Januar.
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Weitere Anregungen finden Sie der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Aharon Appelfeld
Meine Eltern
Roman
Rowohlt Verlag, 272 Seiten, 22,95 EUR

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Wie ein letztes Vermächtnis erscheint dieser Roman des vor wenigen Tagen verstorbenen israelischen Schriftstellers Aharon Appelfeld, der von Kindertagen in der Bukowina im Jahre 1938 erzählt. In der SZ zeigt sich Thorsten Schmitz tief beeindruckt von der "luziden Klarheit" und "berührenden Liebe", mit der Appelfeld sich an jene letzte Sommerfrische erinnert, die er gemeinsam mit seinen Eltern in Rumänien verbringt, zwischen kindlicher Unbeschwertheit und leisen Vorahnungen, die durch die ersten Pogrome bestätigt werden. Und dem "Zauber" von Appelfelds schlichter und zugleich andeutungsreicher Sprache kann sich Schmitz ohnehin nicht entziehen. In der FR bewundert Jürgen Verdofsky das "unverjährbare" Erzählen des Autors, der ihn das Zittern der Stimmen am Ufer der Pruth geradezu spüren lässt. Und im Deutschlandfunkkultur würdigt Marko Martin den Roman als "Meisterwerk, das die Grenzen zur Erinnerungsliteratur überschreitet" und in dem Appelfeld einmal mehr die Balance zwischen "psychologischer Feinzeichnung und einem poetischen Realismus voller Widerhaken" glückt. Ein "Roman gegen das Vergessen", meint er.

Maggie Nelson
Die Argonauten
Hanser Berlin, 192 Seiten, 20 EUR

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In ihrer essayistischen Autobiografie erzählt die amerikanische Schriftstellerin Maggie Nelson von ihrer Kleinfamilie, bestehend aus ihrem per In-Vitro-Fertilisation gezeugten Sohn Iggy, ihrem Lebensgefährten, dem Performancekünstler Harry, der in einem weiblichen Körper geboren wurde und sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterzog und der ein Kind aus einer früheren Beziehung mitbringt. Für Zeit-Kritikerin Marie Schmidt ist Nelsons Essay schon jetzt ein "Klassiker der queeren Literatur": In dem zwischen Liebesbrief, theoretischer Abhandlung, Familiengeschichte und Selbstanalyse mäandernden Text spiele die Autorin nicht nur mit Genre-, sondern auch mit Geschlechtergrenzen und verknüpfe geschickt lyrische, anekdotische und kulturkritische Betrachtungen. Auch FAZ-Kritikerin Hannah Engelmeier staunt, wie Nelson Analverkehr und Wittgenstein kurzschließt und trotz gelegentlicher Manierismen gekonnt intellektuelle Theorie, persönliche Emanzipationsgeschichte und Argonautensage verbindet. Im Spiegel bewundert Hannah Pilarczik nicht nur, wie Nelson Worte in Bewegung hält, starre Kategorien und Geschlechterbilder hinterfragt, sondern sie liest einen geradezu "ekstatischen" Text über die Liebe. Und im Tagesspiegel hat Gregor Dotzauer eine ebenso warmherzige wie "scharfsinnige Expedition ins Dickicht der Gender-Theorien" gelesen, die auch moralische Probleme anspricht.

Irene Diwiak
Liebwies
Roman
Deuticke Verlag, 336 Seiten, 22,00 EUR

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Ein wunderbares, ein bitterböses Debüt ist Irene Diwiak mit ihrem Roman "Liebwies" gelungen, sind sich die Kritiker einig. Die junge österreichische Autorin erzählt uns die Geschichte von Gisela Liebwies, die im Jahre 1924 trotz fehlender Begabung von einem Musiklehrer zum Star in einer Oper aufgebaut wird, die wiederum nicht vom genannten Komponisten, sondern von dessen Frau komponiert wurde. Für FAZ-Kritikerin Andrea Diener besticht der Roman durch die Lust am Erfinden von Lebensläufen. Und auch an den karikaturesken Überzeichnungen der Figuren und dem Erfindungsreichtum der Autorin hat Diener jede Menge Freude. Auch im NDR bewundert Andrea Gerk die liebenswerte Boshaftigkeit", mit der Diwiak ihr "facettenreiches Spiegelkabinett aus Geltungssucht, Eitelkeit und falscher Gier" entwirft. Und auf Falter.at hat Sebastian Fasthuber ein wunderbares Sittenbild über die Ungleichheit der Geschlechter gelesen. Im Deutschlandfunkkultur spricht die Autorin über ihren Roman.

Angel Santiesteban
Wölfe in der Nacht
16 Geschichten aus Kuba
S. Fischer Verlag, 272 Seiten, 22 EUR

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Seit zehn Jahren darf Angel Santiesteban in seiner Heimat Kuba nichts veröffentlichen, denn er schreibt über den Krieg in Angola und über das Elend der heimischen Gefängnisse, setzt sich gegen die Vereinnahmung durch den kubanischen Staat zur Wehr setzt und wurde dafür mit Repressionen und Gefängnis bestraft, informiert uns SZ-Kritiker Ralph Hammerthaler. Deshalb werden die hier versammelten sechzehn Erzählungen in Thomas Brovots gelungener Übersetzung auch zum ersten Mal veröffentlicht, noch vor dem spanischen Original, fährt der Kritiker fort, der die Geschichten so hart wie literarisch wertvoll findet. Der Autor erfindet das Genre quasi neu, schwärmt FAZ-Kritiker Paul Ingendaay: Poetisch und mit Bildern, die schmerzen, rhythmisch und zärtlich. Kein einziger schwacher Text in diesem Band, staunt er. Und in der taz liest Eva-Christina Meier nicht nur eine drastische Schilderung der Repression, Gewalt und Prostitution im kubanischen Strafvollzug, sondern auch ein "schmerzhaft deutlich" gefasstes Porträt einer Gesellschaft.


Sachbuch

David Miller
Fremde in unserer Mitte
Politische Philosophie der Einwanderung
Suhrkamp, 330 Seiten, 32 EUR

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Der Brexit war ja politisch keineswegs eine so eindeutige Angelegenheit, wie es hier scheint. Auch die britische Linke ist über die Frage zerstritten, Labourführer Jeremy Corbyn ist in seinem Herzen keineswegs ein Freund der Europäischen Union, die er als eine Agentur des Neoliberalismus ansieht. In diesem Kontext, aber auch vor dem Hintergrund hiesiger Debatten ist das Buch des Oxforder Sozialphilosophen Miller sicher interessant: Im taz-Interview erläuterte er seine sozialdemokratische Mittelposition zwischen seiner Meinung nach notwendiger Abschottung eines Landes, weil die Arbeiterklasse all zu viele Fremde auch kulturell nicht verkraften könne, und einer Entwicklungspolitik, die die Fremden draußen halten hilft. Die Nation erscheint dem "liberalen Nationalisten" als der geegnete Rahmen, um  solch eine Position zu realisieren. Die Rezensenten wirken etwas ratlos. Dem NZZ-Rezensenten Wolfgang Taus ging nicht ganz auf, wie genau das Gleichgewicht zwischen kulturellem Pluralismus und gemeinsamen Überzeugungen hergestellt werden soll. Ähnlich zwiespältig die Rezension Friedemann Biebers in der FAZ: Immerhin fühlt er sich aber über alle Fragen, die sich in diesem Kontext stellen, bestens informiert.

Karin Wieland
Die Geschichte der Seele
Hugo von Hofmannsthal, Bert Brecht und die Erscheinung der modernen Frau
Carl Hanser Verlag, 304 Seiten, 25 EUR

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Die Germanistin Karin Wieland will in diesem Buch zeigen, wie Hofmannsthal und Brecht moderne Frauenfiguren in Szene setzten. Die Reaktionen sind erstaunlich divergierend: In der FAZ-Rezension der Kulturhistorikerin Hannelore Schlaffer klingt es so, als bleibe das Buch beim Anekdotischen stehen. Jens Bisky ist in der SZ hingegen entzückt, wie Wieland Biografisches mit Zeitgeschichtlichem und Kulturhistorischem verflicht: Das Buch gehört für ihn zu den seltenen Fällen eines brillant gelungenen "erzählenden Sachbuchs". Allerdings muss Bisky auch die Erkenntnis mitnehmen, dass es "die" moderne Frau nicht gibt. Bisky und René Aguigah haben in Dlf Kultur auch ein ausführliches Gespräch mit der Autorin geführt, das man hier nachhören kann.

Andreas Bernard
Komplizen des Erkennungsdienstes
Das Selbst in der digitalen Kultur
S. Fischer Verlag, 240 Seiten, 24 EUR

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Noch ein Experte für die vielfach schon kulturpessimistisch beklagten Auswirkungen des Internets auf die Bürger. Die These Bernards scheint zu sein, dass Nutzer im Netz "Profile" anlegen und damit freiwillig preisgeben, was einst per kriminalistischer Technologie zusammengeschürft wurde. Und teils, so scheint es, beruhen die Technologien des Selbst-Profiling auf Technologien der Kriminologie - das gilt etwa für die Registrierung von Körperwerten wie sie die "Quantified yourself"-Bewegung nutzt und die für Lügendetektoren entwickelt worden war. Die Rezensenten sind begeistert: Wurde vor dreißig Jahren noch gegen Volkszählungen protestiert, werde die "Verdatung" des Menschen heute gemeinhin akzeptiert, registriert Marie Schmidt in der Zeit. Jens-Christian Rabe hebt in der SZ hervor, dass Dresen am Ende beim Kulturpessimismus über das Netz nicht mitmache und einen dritten Weg zwischen progressivem und depressivem Umgang mit der technologischen Entwicklung und der Frage, was es heute heißt, ein Individuum zu sein, suche. Sehr positiv auch die Besprechung bei Dlf Kultur.

Thomas Hettche
Unsere leeren Herzen
Über Literatur
Kiepenheuer und Witsch Verlag, 208 Seiten, 20,00 EUR

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Nicht nur Thomas Hettches Romane, auch seine Essays versetzen die Kritiker wie gewohnt in Begeisterung. In "Unsere leeren Herzen" erzählt Hettche in längeren und kürzeren Texten mal desillusioniert, mal hoffungsvoll von den Überbleibseln der humanistischen Kultur im digitalen Zeitalter und klopft die Literatur auf Sinn und Zukunft ab. In der NZZ folgt Nico Bleutge dem Autor nicht nur bei dessen Lektüreerlebnissen mit Wilhelm Raabe, Ernst Jünger oder David Foster Wallace, anhand derer er seine Idee einer realistischen Literatur entwerfe, die gleichsam die "Welten der Imagination" in sich aufnehme, sondern er lernt die Literatur auch als letzten "Raum der Stille" in einer Zeit der Überwachungsskandale, Werbemanipulation und des Terrorismus kennen. SZ-Kritikerin Karin Janker lässt sich von den ebenso "poetischen" wie instruktiven Texten, etwa über David Bowies Begegnung mit dem Maler Balthus oder Versprechungen in Romanen von Michel Houellebecq oder Karl Ove Knausgard gern zum Nachdenken über Literatur anregen. Ein wenig nostalgisch, aber nie kulturpessimistisch und vor allem sinnlich schafft Hettche mit seinen Essays einmal mehr selbst Literatur, lobt sie. Im Deutschlandfunkkultur spricht der Autor über den Wert von Literatur.