Bücherbrief

Dieses Denken ist schön

04.06.2022. Yade Yasemin Önder erzählt verblüffend lustig, rotzig und ein bisschen morbide von Gewalt, Selbstoptimierung und dem Aufeinandertreffen der Kulturen, Juhani Karila lässt riesenhafte Rabbatze in der finnischen Pampa ihr Unwesen treiben, Wole Soyinka wütet beißend, scharfsinnig und ungebändigt gegen die mächtigen Dynastien in Nigeria und die Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina reisen zu osteuropäischen Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Juni.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Yade Yasemin Önder
Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 256 Seiten. 20 Euro

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Soll nochmal einer sagen, die deutsche Nachwuchsliteratur sei "müde und erschöpft", staunt Miryam Schellbach in der SZ nach der Lektüre von Yade Yasemin Önders Debütroman. Wir folgen einer jungen Ich-Erzählerin, sie ist Bulimikerin, ihre deutsche Mutter ist übergriffig, ihr kurdischer Vater fettsüchtig, er sägt sich versehentlich zu Tode. So ganz klar ist das alles aber nicht, denn Önder zündet so manches "Leuchtfeuer im Konjunktiv", klärt uns Schellbach auf. Der Text scheint ihr verblüffend lustig, rhythmisch, immer auch ein bisschen "morbide" - und am Puls der Zeit: Önder betrachte die zwiespältige Aneignung des weiblichen Körpers, erzähle von Gewalt, MeToo, aber auch Selbstoptimierung und Zweifeln, lesen wir. Nicht zuletzt schafft Önder, auch tätig als Drehbuchautorin, derart verdichtete Szenen, dass die Kritikerin an Raymond Queneau denken muss. Auch taz-Kritiker Carsten Otte ist schlicht umgehauen, wenn die Autorin in einem temporeichen, geradezu "surreal" sarkastischen Mix aus Familiendrama und Coming-of-Age-Story vom Aufeinandertreffen der Kulturen und dem Aufwachsen mit Migrationshintergrund in der alten Bundesrepublik erzählt. Vor allem aber ist es Önders Sprache - tastend, oft "rotzig", witzig und laut, gelegentlich still -, die bei dem Rezensenten lange nachhallt: Sätze wie "expressionistische Gedichtzeilen" liest er hier. Rhythmus und Poesie attestiert FR-Kritikerin Cornelia Geißler diesem "Sprachabenteur".

Bettina Wilpert
Herumtreiberinnen
Roman
Verbrecher Verlag. 272 Seiten. 25 Euro

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Als "Herumtreiberinnen" wurden in der DDR Frauen bezeichnet, die nicht dem sozialistischen Ideal entsprachen, die also nicht mit Anfang zwanzig Kinder bekamen und arbeiteten, sondern reisten und ihre Sexualität auslebten, klärt Bettina Wilpert im br-Gespräch mit Friedrich Müller auf. Diese Frauen wurden oft auf Stationen für Geschlechtskranke zwangseingewiesen, meist waren die Frauen gar nicht krank. Im Volksmund wurden diese geschlossenen Abteilungen auch "Tripperburgen" genannt. In ihrem zweiten Roman erzählt die in Leipzig lebende Autorin Bettina Wilpert von der siebzehnjährigen Manja, die in eine solche Zwangsanstalt gesteckt wird, weil sie sich mit einem mosambikanischen Arbeiter einließ. Dem taz-Kritiker Thomas Hummitzsch tut die Lektüre mitunter "weh": Aufgewühlt liest er von der Unterdrückung und den körperlichen Zumutungen, die Manja und andere Frauen in der Anstalt erfahren - die Ärztin, die Zwangsbehandlungen durchführt, wird beispielsweise die "Kurbeldoris" genannt. Auch von der "reaktionären Sexualmoral", von Misogynie und strukturellem Rassismus in der DDR erfährt er hier. Nur auf die beiden Nebenstränge, die von zwei ganz anderen Figuren zu zwei anderen Zeiten erzählen, 1945 und 2015, hätte er verzichten können. MDR-Kultur-Kritikerin Frauke Siebels bewundert hingegen, wie hautnahe Wilpert ihre Leser an den Schicksalen der drei Figuren teilnehmen lässt. Im FAZ-Podcast sprechen Andrea Diener und Fridtjof Küchemann über das Buch. Hingewiesen sei außerdem auf "Der Schlaf in den Uhren" (Bestellen), den neuen Roman von Uwe Tellkamp erwähnen, eine Fortsetzung seines Erfolgsroman "Der Turm", den die Kritik allerdings überwiegend verrissen hat. Für den FAZ-Kritiker Andreas Platthaus ist der Roman immerhin eine Abwechslung vom "Einheitsbrei" deutscher Gegenwartsliteratur.

Juhani Karila
Der Fluch des Hechts
Roman
Homunculus Verlag. 304 Seiten. 22 Euro

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Die Finnen wollen in die Nato - und wir bereiten uns schon mal ein wenig vor mit finnischer Lektüre. Abgesehen von Sofi Oksanen und Katja Kettu sind hierzulande nicht viele finnische Autoren bekannt - für Juhani Karila könnte sich das aber ändern, wenn wir dem FAZ-Kritiker Matthias Hannenmann glauben. Denn der lacht sich scheckig über Karilas Geschichte von Elina, die in die nordfinnische Pampa zurückkehrt, um dort wie jedes Jahr einen Hecht zu fangen. Schnell gerät sie allerdings unter Mordverdacht: Wenn Wassermänner über Fische wachen, riesenhafte Rabbatze ihr Unwesen treiben und eine urbane Mordermittlerin über Provinzgepflogenheiten stolpert wie einst Agent Cooper, gibt es für Hannemann nicht nur viel zu lachen. Er lernt hier auch einiges über Flora und Fauna, wortkarge, merkwürdige Leute und darüber, inwieweit das Fantastische Teil des Faktischen sein kann. Die Balance zwischen Krimi, Fantasy und Lovestory gelingt dem Autor überzeugend, findet Hannemann, auch wenn Karila "nach hinten raus" ein bisschen zu sehr drauflosfabuliere.

Imre Kertesz
Heimweh nach dem Tod
Arbeitstagebuch zur Entstehung des "Romans eines Schicksallosen"
Rowohlt Verlag. 144 Seiten. 24 Euro

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Imre Kertesz' nun unter dem Titel "Heimweh nach dem Tod" herausgegebenes Arbeitstagebuch aus den Jahren 1958 bis 1962 gehört mit zu den am meisten und besten besprochenen Büchern der vergangenen Wochen. Für einen Schatz und einen bedeutenden Schlüssel zum Verständnis des literarischen Kosmos des Autors hält etwa Dlf-Kritiker Christoph Schröder das Buch, in dem der ungarische Autor von der schwierigen Entstehung des "Roman eines Schicksallosen", von seinem Ringen mit Stil, Sprache, Perspektive und Intention, aber auch von Selbstzweifeln erzählt. Aber das Tagebuch dient nicht nur zum erweiterten Verständnis des berühmten Romans, versichert in der FR Jürgen Verdofsky: Er erfährt etwa, wie sich Kertesz an seine Vorbilder Dostojewski, Camus oder Thomas Mann herantastet oder wie unerbittlich er sich der Erinnerung an den Lageralltag stellt, etwa wenn er von "Muselmännern" erzählt: So wurden jene Häftlinge im Lager bezeichnet, die sich seelisch und körperlich aufgaben  - und von den Mithäftlingen gemieden wurden, weil sie die Zuversicht schwächten, lernt der Rezensent. Bewegt liest er, wie Kertesz, der sich selbst als "Muselmann" verstand, hier erstmals versucht, jenen ihre Menschlichkeit zurückzugeben. Erschütternd findet Zeit-Kritikerin Iris Radisch auch das Manifest über den "funktionalen Menschen" am Ende des Bands, in dem sie eine "noch unbekannte Zuspitzung" von Kertész' Lesart des modernen Menschen als reines Funktions- und Fiktionsprodukt findet. Von der Bitterkeit, die sich in seinen späten Tagebüchern finden, ist hier nichts zu spüren, erkennt die bewundernde Rezensentin, nur "illusionslose Klarheit". In der SZ hebt Renatus Deckert vor allem Lothar Müllers "fundiertes" Nachwort hervor. Weitere Besprechungen in FAZ und Welt.

Wole Soyinka
Die glücklichsten Menschen der Welt
Roman
Karl Blessing Verlag. 656 Seiten. 24 Euro

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Nach dreißig Jahren legt Wole Soyinka, nigerianischer Literatur-Nobelpreisträger, einen neuen Roman vor, seinen dritten überhaupt. Und Soyinka, der "Titan der afrikanischen Literatur",  begehrt noch einmal richtig auf gegen die mächtigen und reichen Dynastien in Nigeria, die sich das Land zur Beute machen und die Kinder ihrer Revolution verschlingen, schreibt Perlentaucherin Thekla Dannenberg in ihrer Kolumne "Wo wir nicht sind". Über das Überbordende des Romans schaut sie angesichts des Scharfsinns und Furors dieser "beißenden, unbändige Satire", aber auch dank Passagen von "stilistischer Brillanz" gern hinweg. Auch SZ-Kritikerin Marie Schmidt ist hingerissen von der Mischung aus an Beckett geschultem Humor, hagelnden Pointen und politischer Ernsthaftigkeit, mit der Soyinka von Megachurches, der Selbstfindung Nigerias, korrupten Politikern oder Organhandel erzählt. Sie rät den Roman gleich zweimal zu lesen, um all die Anspielungen und Wendungen im Text halbwegs mitzubekommen. Für die Zeit hat sich Volker Weidermann mit Soyinka getroffen: Dessen revolutionäre Energie präge auch den neuen Roman, meint er - findet allerdings die Unentschiedenheit des Textes zwischen Satire und Gegenwartsbeschreibung ein wenig schwierig.


Sachbuch

Franziska Davies und Katja Makhotina
Offene Wunden Osteuropas
Reisen zu Erinnerungsorten des Zweiten Weltkriegs
WBG Theiss. 288 Seiten. 28 Euro

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Als Timothy Snyders Studie "Bloodlands" (Bestellen) über die Massenmorde des NS- und Sowjetregimes in Polen, den Baltischen Ländern, der Ukraine, Weißrussland und Russland in den dreißiger und vierziger Jahren vor mehr als zehn Jahren auf Deutsch erschien, galt dies als Paradigmenwechsel. Und noch immer herrscht in der deutschen Erinnerungskultur eine Schieflage, stellt etwa SZ-Kritiker Robert Probst nach der Lektüre dieses Buches der beiden Osteuropa-Historikerinnen Franziska Davies und Katja Makhotina fest: Er lernt hier beispielsweise das ostukrainische Dorf Korjukiwka kennen, in dem ein SS-Sonderkommando als Vergeltungsaktion 6.700 Menschen ermordete, oder die Mordstätte Blagowschtschina bei Minsk, wo 150.000 Juden und Belarussen ermordet wurden. Dass Davies und Makhotina diese Orte in unser Gedächtnis zurückholen und zudem erklären, wie sie aus der Erinnerung verschwinden konnten, weiß Probst sehr zu schätzen. Er möchte das "kluge" Buch am liebsten zur Pflichtlektüre machen. Aktueller als heute, da Babyn Jar von russischen Raketen getroffen wird, kann ein Buch kaum sein, findet Peter Carstens im Dlf. Bei YouTube ist ein Gespräch der beiden Autorinnen im NS-Dokumentationszentrum München zu finden. Die jüngere Geschichte der Ukraine beleuchtet indes der Historiker Serhii Plokhy in seinem Buch "Die Frontlinie" (Bestellen): Ein Must-Read, auch zu den Ursachen des russischen Angriffskriegs, meint Renate Nimtz-Köster in der SZ.

Astrid M. Eckert
Zonenrandgebiet
Westdeutschland und der Eiserne Vorhang
Ch. Links Verlag. 560 Seiten. 30 Euro

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Auch hierzulande gibt es Gebiete, die noch wenig erforscht sind. Das "Zonenrandgebiet" etwa, jener vierzig Kilometer lange Gebietsstreifen, der sich entlang der innerdeutschen Grenze von der Lübecker Bucht bis nach Bayern erstreckte. Die in Atlanta lehrende Historikerin Astrid M. Eckert widmet sich dem Gebiet in ihrer Studie - und zwar aus  westlicher wie aus östlicher Sicht, zudem in politischer, ideologischer, ökologischer und kultureller Hinsicht. Für den Dlf-Kritiker Martin Hubert leistet die Autorin mit diesem Buch "lebendige" Vergangenheitsaufarbeitung. Eckerts Grundthese, so Hubert: Die Grenze zur DDR wurde bereits verankert, bevor der Osten sie befestigte, da die Gebiete im Grenzraum zur Ostzone und späteren DDR nach 1945 von alten Verkehrs- und Wirtschaftsbeziehungen abgeschnitten wurden. SZ-Kritiker Ralf Husemann lernt hier, dass die Zonenrandförderung erst 1994 eingestellt wurde. Was die Autorin aus verschiedenen Archiven zum Thema zusammenträgt und wie sie es aufbereitet, spannend und unterhaltsam, versetzt den Rezensenten in Staunen. So schüttelt Husemann angesichts der im Band auch erörterten ökologischen Sünden der DDR den Kopf oder schaut verblüfft auf das "Hauen und Stechen" zwischen Ruhrpott und den großzügig geförderten Zonenrandgebieten.

Shulamit Volkov
Deutschland aus jüdischer Sicht
Eine andere Geschichte
C.H. Beck Verlag. 336 Seiten. 28 Euro

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Als "wertvollen Beitrag" zur deutschen Geschichte preist nicht nur Dlf-Kritikerin Victoria Eglau diesen Band von Shulamit Volkov. Die israelische Historikerin untersucht hier erstmals deutsche Geschichte aus jüdischer Perspektive, erzählt von den so oft gescheiterten Bemühungen um Demokratie und Emanzipation in Deutschland, unter denen die jüdische Bevölkerung besonders zu leiden hatte. Beginnend bei der Aufklärung im 18. Jahrhundert, deren Toleranzversprechen nie ganz eingelöst wurde, blicke sie in tiefschürfenden Analysen auf die Deutsche Revolution von 1848, die ebenso scheiterte, laut Eglau aber auch eine antijüdische Schlagseite hatte, und beurteilt schließlich ebenso ambivalent das Kaiserreich. "Bestens lesbar" und "ungemein informativ" nennt auch taz-Kritiker Micha Brumlik die Studie, in der es kaum um die NS-Zeit, dafür umso mehr um die Gründe des Antisemitismus, aber auch jüdische Beiträge zur modernen deutschen Kultur gehe. Anspruchsvoll und dennoch nüchtern, faktenreich und zugleich knapp gelinge es Volkov den Leser von der Aufklärung über das Kaiserreich bis ins wiedervereinigte Deutschland zu führen und den Holocaust und die Gedenkkultur "zu bilanzieren", versichert in der SZ auch Gustav Seibt. In der FAZ liest Christoph Schulte nicht nur die Lebensläufe von Max Liebermann bis Käte Frankenthal mit Gewinn, sondern erfährt hier zudem von der "Vernachlässigung" deutsch-jüdischer Geschichte in großhistorischen Darstellungen. Welt-Kritiker Hannes Stein und Dlf-Kultur-Kritiker Marko Martin vermissen indes Beschreibungen des Alltags nicht-berühmter Jüdinnen und tiefere Analysen. Stein empfiehlt das Buch aber schon deshalb, weil es bekannte Persönlichkeiten wie Rahel Varnhagen oder Heinrich Heine im Kontext der Geschichte des deutschen Antisemitismus platziert und ihren Umgang damit schildert.

Dipesh Chakrabarty
Das Klima der Geschichte im planetarischen Zeitalter
Suhrkamp Verlag. 443 Seiten. 32 Euro

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Angesichts der Klimakrise plädiert der indische Philosoph Dipesh Chakrabarty dafür, den Menschen aus einer globalen und planetarischen Perspektive zu betrachten: Der Mensch soll sich als Träger einer geologischen Macht verstehen, er sei unmittelbar mit dem Planeten, den er aktiv verändert, verwoben und müsse sich dieser biosphärischen Verschränkung unbedingt bewusst werden, resümiert in der SZ Bernhard Malkmus Chakrabartys Grundgedanken. Versiert fühle der postkoloniale Theoretiker dabei der westeuropäischen Denktraditionen auf den Zahn und nehme auch vom Utilitarismus und Humanismus Abstand, fährt Malkmus fort und verdankt dieser selten "feinsinnigen" Reflexion über die Folgen des "fossilen Wahns" tiefe Einblicke. "Dieses Denken ist schön", jubelt Elisabeth von Thadden in der Zeit und begrüßt, dass Chakrabarty den Klimawandel endlich auch in den Geistes- und Sozialwissenschaften verankert. Wie Chakrabarty dabei intellektuell Kontinente zusammenführt und Berge versetzt, kann die Rezensentin nur bewundern. Auch wenn sie manchmal darüber stolpert, wie umstandslos Chakrabarty Hegel und Bruno Latour, Carl Schmitt und Hannah Arendt zusammenbringt, erscheint ihr der Mensch vor dem planetaren Horizont hier nicht nur in seiner Kläglichkeit. In der taz empfiehlt Claus Leggewie das Buch, räumt aber ein, dass nicht alle Ausführungen für den Laien verständlich sein dürften. NZZ-Kritiker Stefan Mair steigt allerdings aus, wenn der Autor fordert, die "humanistische Verblendung" zu überwinden und auch andere Arten in unsere Vorstellungen von Gerechtigkeit miteinzubeziehen. Er fürchtet, dass aus einem solchen Posthumanismus möglicherweise politische Entscheidungen erwachsen, die völlig unmenschlich sein können: Harte Emissions-, Geburten- und Mobilitätskontrollen.

Robert Pfaller
Zwei Enthüllungen über die Scham
S. Fischer Verlag. 208 Seiten. 22 Euro

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Die Kritiker sprechen offenbar lieber mit Robert Pfaller als dessen neues Buch zu rezensieren. Der österreichische Philosoph ist natürlich auch immer für eine Pointe gut. "Die Cancel-Culture ist ein Sabotageakt an jeglicher emanzipatorischen Politik", sagt er im Standard-Gespräch mit Stephan Hilpold und fragt weiter: "Dürfen Angehörige einer bestimmten minoritären Gruppe ein exklusives Recht zu sprechen beanspruchen, und dürfen sie es anderen absprechen?" Vor diesem Hintergrund ist auch Pfallers Essay zu lesen, eine Abrechnung mit der Cancel Culture, in dem er, wie er im Standard-Gespräch erklärt, darlegt, dass die Scham zu einem "Distinktionsgut" geworden sei: Man fühle sich heute stolz, Scham für den anderen empfinden zu können, deklariere sich zu etwas Besserem und versuche den anderen mundtot zu machen. Auch Zeit-Kritiker Ijoma Mangold hat den Autor, den er als fröhlichen Anarchisten beschreibt, der die Klischees der Wokeness schon attackierte, als diese noch längst keinen Namen hatte, in Wien zum Heurigen getroffen: Politischer Kitsch sei die heute überall anzutreffende und über sich selbst gerührte Suche nach Identität, ärgert sich Pfaller im Gespräch. Mangold empfiehlt das, wie er versichert, elegant geschriebene Buch jedenfalls: Die "Pseudoscham einer Schuldkultur" müssten wir ablegen lernen, stattdessen sollten wir Scham positiv als einen Weg zur Rückeroberung von Ehre und Stolz begreifen, erfährt er. Für die Welt hat sich Marie-Luise Goldmann mit dem Autor unterhalten.