Bücherbrief

Ein unheimliches Biest

10.10.2023. Uwe Timm häutet mehr als ein Eichhörnchen im Nachkriegsdeutschland, Terezia Mora führt uns in eine gewalttätige Abhängigkeitsbeziehung, Anne Serre lässt drei Gouvernanten tanzen und Janka Oertel lehrt uns, wie wir mit Chinas Machtanspruch umgehen müssen. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Oktober.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Uwe Timm
Alle meine Geister
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 288 Seiten. 25 Euro

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Die Feuilletons begeistern sich plötzlich für das Handwerk des Kürschners. Und das liegt nur am neuen Buch von Uwe Timm, der durch seinen Vater in den Fünfzigern selbst die Kürschnerei erlernte. Timm blickt zurück auf die ersten drei Jahrzehnte seines Lebens, im Zentrum aber steht die Tätigkeit des Pelzbearbeiters, die uns der Autor detailliert und wunderbar kenntnisreich beschreibt, wie SZ-Kritiker Holger Gertz versichert, der hier von den Eigenarten des Feh (Eichhörnchens Winterfell) oder Pumpfs (dem Fell direkt vor dem Schweif) liest. Timm lässt in seinen Erinnerungen auch das Nachkriegsdeutschland lebendig werden, und er gewährt Einblicke in seine frühsten Lektüren: Brehms Tierleben, Humboldt, Salinger oder Camus, immer ermuntert von seinem Berufsschullehrer. Vom Anekdotenreichtum und den ausführlichen Porträts, die der Autor Weggefährten widmet, zeigt sich Dlf-Kritiker Jan Drees begeistert: Er empfiehlt das Buch als "'Summa' des Timm'schen Werkes". Nicht zuletzt erkennt er hier Timms Poetik, die ihm vom Kürschnerhandwerk geprägt scheint. In der FAZ präzisiert ein hingerissener Tilman Spreckelsen: Timms Erinnerungen erscheinen ihm wie verbunden durch "auftrennbare Nähte" - die immer wieder neu vernäht werden können. Für den FR-Rezensenten Markus Schwering ist das Buch ein Muss in diesem Bücherherbst.

Anne Serre
Die Gouvernanten
Roman
Berenberg Verlag. 104 Seiten. 22 Euro

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Dieser sommerlich-sinnliche Roman eignet sich bestimmt perfekt, um den ersten Herbsttagen zu trotzen. Das jedenfalls legen die Kritiken nahe: SZ-Kritikerin Meike Feßmann ist hin und weg von der Leichtigkeit, dem Schwung, und der ausgelassenen Freude an der Erotik, die Anne Serres drei junge "Gouvernanten" versprühen: Wenn die drei Frauen melancholisch durch den Tag treiben, ein Fest vorbereiten oder jagen, erliegt Feßmann schnell der "Sprachlust" und literarischen Fantasie des schmalen Romans. Die Atmosphäre erinnert sie an Beckett, die Landschaft an eine Zeichnung von Sempé. Auch Dlf-Kritikerin Sigrid Brinkmann erfreut sich an den drei Damen, die ganz in ihrem Dasein als "glänzendes Vlies, auf dem blassgelbe Schmetterlinge landen" aufgehen. Und doch schafft es die französische Autorin in ihrem von Patricia Klobusiczky bravourös übersetzten Roman, die darunter schwelende "ichlose Grundbefindlichkeit" in reine Poesie zu verpacken und eben nicht dem voyeuristischen Blick anheimzufallen, staunt die Rezensentin.

Rachel Yoder
Nightbitch
Roman
Klett-Cotta Verlag. 304 Seiten. 24 Euro

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Eine Menge Bücher über Mutterschaft gibt es ohnehin, aber inzwischen sind auch eine Reihe an Büchern erschienen, in denen Frauen zum Tier werden beziehungsweise ein sehr intimes Verhältnis zum Nicht-Menschlichen pflegen, erinnert uns Marie-Luise Goldmann in der Welt. Zu nennen wären beispielsweise Marian Engels "Bär" oder auch Han Kangs "Die Vegetarierin". Und doch sticht Rachel Yoders Buch hervor, versichert die Kritikerin: Ihr besonderer Witz, ihre Fähigkeit Spannung aufzubauen, der authentische Gebrauch von Umgangssprache und ihre Gabe, Konflikte darzustellen - "blutig und offen", machen das Buch für Goldmann zum Ereignis. Sie verdankt der Geschichte über eine Mutter, aufgerieben zwischen dem Streben nach Selbstverwirklichung und dem Bedürfnis nach Nähe zum eigenen Kind, eine so "kluge wie schockierende" Perspektive auf Mutterschaft. Im Guardian hebt auch AK Blakemore Frische und Originalität dieses Debüts hervor: Überschwängliche, samtige Prosa und zugleich ein anmutiger, kühler und prägnanter Kommentar zu den verschiedenen Neurosen der modernen Weiblichkeit, lobt sie.

Dana Vowinckel
Gewässer im Ziplock
Roman
Suhrkamp Verlag. 362 Seiten. 23 Euro

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Vor den großen amerikanischen Familienepen muss sich dieser Roman der deutschen Autorin Dana Vowinckel nicht verstecken, versichert uns SZ-Kritikerin Marie Schmidt. Aus den Perspektiven von Vater Avi und seiner fünfzehn Jahre alten Tochter Margarita folgen wir einen Sommer lang dem Schicksal einer vom Zerfall bedrohten deutsch-jüdischen Familie von Berlin über Chicago bis nach Jerusalem und zurück. Den besonderen Reiz erkennt Schmidt in der Differenz zwischen beiden Hauptfiguren: Der Vater ist von seiner Religion geprägt, die Tochter von ihrer Pubertät. Nicht zuletzt erkennt sie im Roman auch eine Reflexion über schwierige Verhältnis zur deutschen Mehrheitsgesellschaft und deren Erinnerungskultur. Das Buch kommt aber glücklicherweise ohne politische Thesen aus, entwarnt im Dlf Beate Tröger, die vielmehr eine geschickt konstruierte Geschichte über Identität und Fremdheit gelesen hat. Im Tagesspiegel bewundert Gunda Bartels, wie Vowinckel die unterschiedlichen Sichtweisen von Vater und Tochter und der (jüdischen) Milieus einfängt.

Terezia Mora
Muna oder Die Hälfte des Lebens
Roman
Luchterhand Literaturverlag. 448 Seiten. 25 Euro

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Dass Terezia Moras neuer Roman auf der Shortlist für den Buchpreis der Frankfurter Buchmesse steht, ist nach den Kritiken keine Überraschung: Laut Ijoma Mangold kann Moras "lässiger" Meisterschaft sprachlich derzeit ohnehin niemand in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur das Wasser reichen. Aber gerade in ihrem neuen Roman, der von Muna erzählt, die immer tiefer in eine letztlich gewalttätige Abhängigkeitsbeziehung gerät, lässt Mora ihre Leser mit ihren "atmenden Sätzen" solange im Zwielicht, bis sie schließlich an Munas Stelle aufwachen und schreien möchten, erklärt Mangold. Ganz ohne Didaktik, ganz ohne Botschaft wirkt dieser Roman auf den Rezensenten wie ein "unheimliches Biest", für das es keinen Namen gibt. Mora schenkt ihren Lesern nichts, bestätigt im Dlf Kultur auch Rainer Moritz, der Muna zunehmend beklommen über zwanzig Jahre quer durch Europa folgt und sie so schnell nicht wird vergessen können. Einen Roman, der nie plakativ von toxischer Männlichkeit und Machtgefälle erzählt und in seiner Vielschichtigkeit umso mehr Identifikationspotenzial bietet, liest SZ-Kritikerin Marie Schmidt. Und in der FAZ bewundert Tilman Spreckelsen, wie Mora das Geschehen in eine Reflexion über literarische Konstruktion überführt.

Sachbuch

Janka Oertel
Ende der China-Illusion
Wie wir mit Pekings Machtanspruch umgehen müssen
Piper Verlag. 304 Seiten. 24 Euro

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"Das Problem, das mit China auf uns zurollt, ist in seiner Dimension und Dringlichkeit vergleichbar mit der Klimakrise", warnte kürzlich im Tagesspiegel-Gespräch die Sinologin Janka Oertel. Ein Buch gerade noch zur rechten Zeit ist Oertels Abhandlung über die Politik Chinas denn auch für den SZ-Kritiker Kai Strittmatter, den vor allem die Dringlichkeit beeindruckt, die er zwischen den Zeilen vernimmt. Es hat sich zwar herumgesprochen, so Strittmatter, dass China sich zu einer der größten Gefahren für ein demokratisches Europa entwickeln könnte, allein passiert ist noch viel zu wenig. Oertel nun räumt mit einem falschen, beschönigenden Chinabild auf, erklärt der Rezensent. "Win-Win Kooperationen" sind mit der andere in Abhängigkeit pressenden chinesischen Wirtschaftspolitik nicht zu haben, zeigt Oertel laut Strittmatter, die Kommunistische Partei wiederum garantiere eben gerade keine Stabilität, sondern agiere zunehmend paranoid, russlandtreu und in der Außenpolitik militaristisch. Hauptadressat dieses äußerst wichtigen Buchs ist für den Rezensenten das Kanzleramt.

Manfred Sapper (Hg.), Volker Weichsel (Hg.)
Osteuropa 73
Russlands verlorene Kriege. Historische Niederlagen eines Imperiums
Berliner Wissenschaftsverlag. 281 Seiten. 24 Euro

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Es kommt nicht häufig vor, dass wir im Bücherbrief die Ausgabe einer Zeitschrift empfehlen. Aber für die 73. Ausgabe der Osteuropa machen wir gern eine Ausnahme. Im SZ-Gespräch vor einigen Wochen hatte Mitherausgeber Volker Weichsel daran erinnert, dass Osteuropa bereits im Juli 2021 die Rede Wladimir Putins 'Über die historische Einheit der Russen und der Ukrainer' gedruckt hatte: "Ein Schlüsseltext Putin'schen imperialen Denkens, die geistige Mobilmachung auf dem Weg zur Invasion des Nachbarlandes". Das aktuelle Heft nun widmet sich Russlands 150 verlorenen Kriegen, einem Kapitel also, mit dem sich Putins verzerrte Geschichtsschreibung nicht auseinandersetzt. Entsprechend ist die Ausgabe auch für den FR-Kritiker Christian Thomas ein "immenser Wissens- und Gedächtnisspeicher": In den Essays gehen die AutorInnen nicht nur den oftmals verdrängten, verheimlichten Kriegen nach, die Russland verloren hat, vom Krimkrieg 1853 bis zum zweiten Tschetschenienkrieg. Es geht in den Beiträgen auch um Musik in Putins Dienst, darum, Verstöße gegen das Völkerrecht, die Konstanz haben, ebenso wie um die sakral-religiöse Vereinnahmung des Krieges und die völlige Enthemmung von Kriegsstategien, wie sie etwa der Psychoanalytiker Jurko Prochasko in seinem Aufsatz beschreibt, resümiert Thomas, der das Heft auch als Mahnung für die Zukunft empfiehlt.

Karl Schlögel
American Matrix
Besichtigung einer Epoche
Carl Hanser Verlag. 832 Seiten. 45 Euro

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In "American Matrix" wendet sich der Osteuropa-Historiker Karl Schlögel Amerika zu, aber ganz verlassen kann er sein Spezialgebiet nicht, wie er auch im SZ-Gespräch mit Moritz Baumstieger erklärte. Er zeichnet Parallelen zwischen der USA und der Sowjetunion nach. Beide Staaten verstanden sich als "Pionierstaaten, in denen die Zukunft geschrieben wird. Nicht das alte Europa mit seinen Klassen- und Ständegesellschaften, seinen Nationalismen war der Orientierungspunkt, sondern die Schaffung einer neuen Welt". Bisher hat erst Wolf Lepenies das Buch für die Welt besprochen. Mitgetragen wie von einer sanft rumpelnden Eisenbahn durch die Prärie lässt er das Werk Revue passieren. Lepenies stellt Schlögel als einen Historiker des Raums vor: Die Geschichte Amerikas schildere er als eine der Raumbewältigung. Besonderes Augenmerk scheint Schlögel, der nun mal vor allem ein Russland-Historiker ist, auf die Konkurrenz zwischen der Sowjetunion und Amerika zu legen. Stets hat sich die Sowjetunion, was ihre Zukunftsvisionen anging, an Amerika gemessen, nicht an Europa. Und in vielen Etappen der industriellen Modernisierung beider Länder erkennt Schlögel eine "unangestrengt-natürliche Übereinstimmung", so der Rezensent. Von Schlögel lernt er auch, dass Protagonisten der amerikanischen Moderne wie Frank Lloyd Wright in der Kritik am "Manhattanism" und "Skyscraperism" Amerikas mit stalinistischen Kritikern übereinstimmten. Und dass die Modernisierung der Sowjetunion sich auch amerikanischer Hilfe verdankte, etwa den Autowerken, die Henry Ford baute. Erhellende Lektüre für den Kritiker.

Walter Isaacson
Elon Musk
Die Biografie
C. Bertelsmann. 832 Seiten. 38 Euro

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Mehr als 800 Seiten über Elon Musk lesen, den Mann, der uns Twitter genommen hat? Unbedingt, meint etwa Jürgen Kaube in der FAZ. Schon weil Walter Isaacson, der Star unter den amerikanischen Biografen das Buch geschrieben hat! Und es ist entsprechend viel los in dieser Biografie, versichert uns Kaube: Andauernd wird etwas investiert oder jemand entlassen in diesem von Firma zu Firma, von Erfindung zu Erfindung, von PayPal zu Tesla zu Twitter eilenden Leben. Musks Persönlichkeit zeichnet Isaacson als empathielos und sprunghaft, die Jugend war geprägt von einem autoritären, gewalttätigen Vater, erfahren wir. Musk bekommt von Isaacson durchaus Raum, sich selbst darzustellen, findet Kaube, doch der Autor beschönige auch nichts. Wer auf Kapitalismus als Abenteuererzählung steht, kommt auf seine Kosten, versichert der Kritiker. Mit Unbehagen und auch Faszination liest NZZ-Rezensent Thomas Zaugg das Buch, das ihm auch von der ambivalenten Rezeption dieses "Genies des Hochrisikos" erzählt: Von der Verstrickung in den russischen Angriffskrieg bis zu der Art und Weise, wie Musk Familie und Mitarbeiter behandelt. Ihn freut dabei, dass Isaacson sich nicht hinreißen lässt, wild auf Musk einzuschlagen, wie es viele Medien sonst tun würden. Allerdings beunruhigt ihn, wie sehr der Autor bereit ist, den "Dämon-Modus" seines Protagonisten zu entschuldigen und wie wenig kritisch die ungeheure ökonomische Macht gesehen wird, die Musk umgibt. Weitere Besprechungen in der New York Times und im Guardian.

Alexander Pechmann
Die Bibliothek der verlorenen Bücher
Schöffling und Co. Verlag 2023, 208 Seiten, 24 Euro

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Michael Opitz (dlf kultur) hat dieses Buch über vergessene, verlorene oder auch einfach nur imaginierte Bücher sehr gern gelesen. Eingeführt wird er in Pechmanns Bibliothek durch einen "Unter-Unter Bibliothekar", der irgendwann abtaucht (hat sich wahrscheinlich irgendwo festgelesen, vermutet der Kritiker). Opitz wird aber auch alleine fündig: In diesem Saal entdeckt er vernichtete Bücher, in jenem solche, über deren Existenz es nur Gerüchte gibt. Opfer von Zufällen, Unfällen, Wut oder kaltem Kalkül sind Autoren wie Thomas Mann, Kafka, Hemingway, Kraus, Polak oder Melville, der seine verschmähten Manuskripte an einen Kistenhersteller zum Auskleiden verkauft hat. Ein ungewöhnlicher und unterhaltsamer Band, lobt Opitz und verschwindet im nächsten Saal.
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