Bücherbrief

Guter, purer Stoff

10.09.2018. Maria Cecilia Barbetta erzählt schillernd und opulent vom Vorabend der argentinischen Militärdiktatur, Inger-Maria Mahlke zoomt ein Jahrhundert auf den Kanaren mikroskopisch heran, Masande Ntshanga schreibt cool, elegant und mit einer Prise Nietzsche über das Kapstadt der nuller Jahre und Slavko Goldstein erzählt vom Wüten der Ustascha in Kroatien. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats September.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Maria Cecilia Barbetta
Nachtleuchten
Roman
S. Fischer Verlag. 528 Seiten. 24 Euro



Die argentinische, in Berlin lebende Autorin Maria Cecilia Barbetta, die vor zehn Jahren mit ihrem Debüt "Änderungsschneiderei Los Milagros" bekannt wurde, erzählt uns in ihrem neuen Roman von Buenos Aires am Vorabend der Militärdiktatur. Die Kritiken fallen überwiegend positiv aus: "Weltliteratur", ruft Volker Breidecker in der SZ über den Roman, der ihn auf labyrinthischen Pfaden quer durch eine Autowerkstatt, einen Friseursalon und ein Mädcheninternat führt, dabei ein "gleichermaßen teleskopisches wie mikroskopisches" Panorama von Buenos Aires entfaltet und mit viel Humor und Sprachwitz, aber auch dem nötigen Ernst von den Sorgen der "kleinen Leute" erzählt. Großartig, wie Barbetta in einem "hinreißenden Drauflos" von Fantasterien und Spielereien argentinische Geschichte der Siebziger schildert, ohne mit Geschichtsstunde zu nerven, meint auch FR-Kritikerin Judith von Sternburg. "Opulenz", Sinnlichkeit, "schillernde" Figuren und einen an Gabriel Garcia Marquez erinnernden magischen Realismus attestiert MDR-Kulturkritiker Tino Dallmann dem Roman. Nur in der Welt wendet Richard Kämmerlings ein: Dieses flirrende, stimmenreiche "elektrische Bonbon" erstickt ein wenig unter dem farbenprächtigen Bombast und den zahlreichen literarischen Verweisen. Im Dlf-Kultur-Interview spricht Barbetta über ihren Roman.

Verena Roßbacher
Ich war Diener im Hause Hobbs
Roman
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 384 Seiten. 22 Euro.



Nicht viele, dafür aber nur hymnische Besprechungen hat Verena Roßbachers dritter Roman erhalten. Wie ein opulent ausgestattetes "Glasperlenspiel" erscheint Zeit-Kritiker Hubert Winkels der Roman, der von einem Schweizer Gymnasiasten erzählt, der in Holland eine Butler-Ausbildung beginnt und bald bei der neureichen Schweizer Familie Hobbs als Diener arbeitet. So funkelnd die Oberfläche, so finster sind die freigelegten Abgründe, meint Winkels: Ein spannendes Spiel über Betrug und Täuschung, das  "ein bisschen Kirmes, ein bisschen Grausamkeit, ein bisschen Weisheit" verspricht. Als "guten, puren Stoff" würdigt auch FAZ-Kritikerin Katharina Teutsch das Buch, das sie allerdings beim besten Willen keinem Genre zuordnen kann. Egal, denn wie die am Leipziger Literaturinstitut ausgebildete Roßbacher mit Stilen und Handlungssträngen jongliert, dabei von Kunstfälscherskandalen, Culture Clash und Bruderkrieg erzählt und geschmeidig  zwischen Kunstbetriebssatire, Coming-of-age-Roman und Whodunit switcht, verschlägt ihr schier den Atem. Und wenn Roßbacher die "neofeudalen Sprachgesten des Züricher Geldadels" mit der Abgeklärtheit der großen Ironiker verbindet, ist das Leseglück der Rezensentin vollkommen.

Inger-Maria Mahlke
Archipel
Roman
Rowohlt Verlag. 432 Seiten. 20 Euro.



Die Juristin und Autorin Inger-Maria Mahlke wuchs selbst auf Teneriffa auf, ist also die beste Begleitung für eine Jahrhundertreise durch die Kanaren, versichert FAZ-Kritikerin Sandra Kegel. Begeistert lässt sie sich auf die achronologisch und multiperspektivisch erzählte Geschichte verschiedener Familien ein, die zwischen 1919 und 2015 aus unterschiedlichen Beweggründen auf Teneriffa gelandet sind, springt von der Gegenwart zum Spanischen Bürgerkrieg zu den Kolonialkriegen und zurück, liest von allerlei Tragödien und staunt, wie Mahlke das große Ganze erst nach und nach zusammensetzt und doch stets im Blick behält. taz-Kritikerin Eva Behrendt lobt neben liebevollen Detailaufnahmen vor allem, wie die Autorin den Kontrast zwischen großbürgerlich-kolonialem Leben und den kleinen Leuten entfaltet, die auch im Jahr 2015 oftmals noch immer ein leibeigenenähnliches Dasein fristen. In der NZZ hebt Rainer Moritz vor allem Mahlkes "spartanische" Sprache hervor. Im Tagesspiegel formuliert Carsten Otte einige Einwände, lobt den Roman aber insgesamt als anspruchsvollen "Angriff auf historistische Wohlfühlprosa". Im SWR sprechen Carsten Otte und Ursula März über das Buch.
 
Michael Kleeberg
Der Idiot des 21. Jahrhunderts
Ein Divan
Galiani Verlag Berlin. 464 Seiten. 24 Euro.



Nicht weniger als einen Divan des 21. Jahrhunderts legt Michael Kleeberg mit seinem neuen Buch vor und die Kritiken fallen zwiegespalten aus: FAZ-Kritiker Oliver Jungen scheut den Vergleich mit Goethe und Thomas Mann nicht, wenn Kleeberg in diesem vielstimmigen, zwischen Deutschland, dem Iran und dem Libanon pendelnden "Wunderbuch" von drei Paaren erzählt und dabei Mythisches, Gegenwart und Reflexion gekonnt mischt. Erhard Schütz staunt im Tagesspiegel, wie Kleeberg die wechselseitige Durchdringung von Orient und Okzident beschreibt: "Eines Ostens, der westlich geprägt wurde, kolonisatorisch gewaltsam, aber auch kulturell ersehnt, der wiederum einen Westen inspiriert oder ängstigt, der selbst vom Osten geprägt wurde." Brillante essayistische Denkanstöße verdankt Spon-Kritiker Björn Hayer diesem "opus magnum", das er nicht zuletzt als "Anleitung für eine humane Gesellschaft" liest. Aber nicht alle Kritiker sind so positiv: In der SZ liest Meike Fessmann trotz der verschiedenen Stile und Tonlagen am Ende einen etwas biederen Generationenroman über Exil und Heimat. Etwas überambitioniert finden den Roman Tilman Krause in der Welt und Paul Jandl in der NZZ, der außerdem mit Kleebergs "Zuckerguss-Orient" nicht viel anfangen kann. Im Dlf-Kultur-Interview spricht der Autor über das Buch.
 
Masande Ntshanga
positiv
Roman
Verlag Das Wunderhorn. 200 Seiten. 24,80 Euro.



Dieser Roman fällt den Leser an wie ein "Raubtier", jubelt NZZ-Kritikerin Irene Binal nach der Lektüre des Debüts von Masande Ntshanga, der uns ins Kapstadt des Jahres 2003 entführt, wo der junge HIV-positive Lindanathi, der sich die Schuld am Tod seines Bruder gibt, mit seinen Freunden Klebstoff schnüffelt, Drogen vertickt, auf Künstlerpartys herumhängt und so die Tage tot schlägt. Coolness und Eleganz attestiert Binal dem Roman, in dem sie viel über das junge Südafrika lernt, wo die Jugend nicht mehr an fehlenden Chancen, sondern vor allem an sich selbst scheitert. Großartig auch, wie "dicht" und vielschichtig Ntshanga Tradition und Moderne verknüpft, findet sie. Auch in der SZ zeigt sich Jonathan Fischer angetan von diesem Mix aus Nietzsche und Folklore, dem lakonischen Sound und dem Witz, mit dem der Autor jenen  Existentialismus schildert, den man sonst von "frustrierten Mittelschichtsjugendlichen" aus  Berlin oder London kennt. Noch ein Tipp: Sehr gut besprochen wurde auch "Bleib bei mir" der Debütroman der nigerianischen Schriftstellerin Ayobami Adabayo, die anhand der Geschichte eines Paares von einengenden sexistische Rollenvorstellungen im Nigeria der achtziger Jahre erzählt.  
 
Sachbuch

Gilles Reckinger
Bittere Orangen
Ein neues Gesicht der Sklaverei in Europa
Peter Hammer Verlag. 232 Seiten. 24 Euro



Der Luxemburger Ethnologe Gilles Reckinger greift ein wichtiges, viel zu wenig beachtetes Thema auf in diesem Buch, für das er zwischen 2012 und 2017 immer wieder gemeinsam mit der Anthropologin Diana Reiners und der Fotografin Carole Reckinger ins kalabrische Rosarno reiste, um auf das Schicksal tausender afrikanischer Migranten aufmerksam zu machen, die zu Hungerlöhnen auf Orangenplantagen arbeiten. FR-Kritikerin Marie Sophie Adeoso wird von Scham gepackt, wenn sie in Reckingers anschaulichem Bericht liest, wie schwer es ihm oft fiel, auf "Augenhöhe" mit den Befragten zu sprechen, die sich aus Hoffnung auf eine bessere Zukunft in eine "quasi-koloniale Unterwürfigkeitshaltung" begeben. Fassungslos erfährt sie in diesem an Fotografien und Hintergrundinformationen reichen Band, unter welchen Bedingungen Menschen mitten in Europa ohne Visum und Geld in der Illegalität zu überleben versuchen. Auch Falter-Kritikerin Gerlinde Pölser liest erschüttert, wie das Zusammenspiel aus Preisdruck der Handelsketten, mächtigen Zwischenhändlern und der Mafia, außerdem die Migrations- bzw. Flüchtlingspolitik dazu führen, dass afrikanische Migranten in derart unwürdigen Verhältnissen leben müssen. Im Dlf-Interview spricht der Autor über Wirtschaft, Migration und Populismus.

Slavko Goldstein
1941 - Das Jahr, das nicht vergeht
Die Saat des Hasses auf dem Balkan
S. Fischer Verlag. 608 Seiten. 30 Euro



Die Deutschen sind nicht so stolz auf ihre Vergangenheit, umso mehr auf ihre Vergangenheitsbewältigung. Aber man muss nur in ein Nachbarland wie Polen oder - in diesem Fall - Kroatien schauen, um mit der Nase auf die eigene bodenlose Ignoranz gestoßen zu werden. Wer könnte hier schon die gröbsten Fakten über das deutsche Wüten im Balkan und das Wüten der Kollaborateure wie der kroatischen Ustascha nenne. Wer wüsste zu sagen, wieviele Serben umgebracht wurden - 600.000 und jeweils etwa 30.000 Juden und Roma und Sinti -, wer hat hier je vom Massaker von Bleuburg gehört, wo Tito Zigtausende Kroaten, Wehrmachtssoldaten und Kollaboratuere ermorden ließ? NZZ-Kritiker Andreas Breitenstein und der ehemalige SZ-Korrespondent Michael Frank sprechen in höchsten Tönen von diesem Buch, denn Goldstein liefert nicht trockene Geschichte, sondern einen persönlichen und dennoch intensiv um Objektivität bemühten Bericht mit allen Fakten und Details, und seiner eigenen Geschichte als verfolgter Jude. Mit Goldstein fängt die Vergangenheitsbewältigung in Kroatien sozusagen erst an, sagt seine Übersetzerin Marica Bodrozic in einem sehr instruktiven vierstündigen Gespräch mit WDR 3.

Ahmad Mansour
Klartext zur Integration
Gegen falsche Toleranz und Panikmache
S. Fischer Verlag. 304 Seiten. 20 Euro



Das beste Gegenmittel gegen Thilo Sarrazins Apokalyptik (sein Buch "Feindliche Übernahme" steht natürlich schon wieder auf Platz 1 der Bestsellerliste) ist nicht der hohle Ton, der sich entsteht, wenn sich linke Moralisten auf die Brust schlagen, sondern das Buch eines erfahrenen Praktikers wie Ahmad Mansour, der "Klartext zur Integration" spricht, für Regina Mönch in der FAZ eine wohltuende Rückbesinnung auf die Realität. Als Psychologe arbeitet er mit Kindern aus Migrantenhaushalten, er wisse auch, wie oberflächlich eine scheinbar gelungene Integration häufig sei. Besonders beeindruckt ist Mönch von seiner Schilderung der teilweise recht gewalttätigen patriarchalen Struktur in vielen Migrantenfamilien, die manche Jugendliche in Kriminalität oder Extremismus trieben. Mönch ist sich zwar nicht mit allen Forderungen Mansours einig - nur weist sein Buch, anders als das Sarrazins, eine Perspektive auf, in der Integration denkbar wird. Und ein drittes Buch erregt zur Zeit Aufsehen: Max Czolleks wütender Essay "Desintegriert euch" Czollek macht zwar einige wichtige Punkte in seiner Kritik der deutschen Vergangenheitsbewältigung, so die Rezensenten, nur besteht der Verdacht, dass das "Desintegriert euch" selbst eine Beschönigung enthält, da "Desintegrierte" - siehe muslimischen Antisemitismus - durchaus Ideen haben können, die einen solchen Zustand für die restlichen Desintegrierten nicht so wünschenswert erscheinen lassen.

Florian Rainer, Jutta Sommerbauer
Grauzone
Eine Reise zwischen den Fronten im Donbass
Bahoe Books. 224 Seiten. 24 Euro



Als "graue Zone" bezeichnen die Anrainer die 450 Kilometer lange Frontlinie, die die Konfliktparteien im Donbass trennt. Zehntausend Menschen sind bisher in diesem Konflikt ums Leben gekommen, seit Russland die Gebiete von Donezk und Luhansk aus der Ukraine herausgeschlagen hat. Für ihr Buchprojekt sind die österreichische Reporterin Jutta Sommerbauer und der Fotograf Florian Rainer in die Ostukraine gereist, haben Menschen getroffen, deren Familien und Freundschaften durch die Konfliktlinie getrennt wurden und berichten aus dem Alltag der Zivilbevölkerung. Surreale Szenen und der Galgenhumor der Bewohner machen diesen Band bei aller Tristesse und Ausweglosigkeit auch zu einem Fest des Lebens, meint taz-Kritiker Daniel Schulz. Fotos und Text werden hier so geschickt kombiniert, dass man als Leser das Gefühl hat, selbst durch das "harsche, weitläufige" Gebiet zu reisen, findet Anna Goldenberg im Falter. Einen"scharfen Blick und viel Sinn fürs Konkrete" attestiert Gerald Schubert den Autoren im Standard
 
David Christian
Big History
Die Geschichte der Welt - vom Urknall bis zur Zukunft der Menschheit
Carl Hanser Verlag. 384 Seiten. 25 Euro



Der amerikanisch-australische Historiker und Naturwissenschaftler David Christian ist Begründer der Big History. Wer also könnte besser von 13,8 Milliarden Jahren Geschichte auf nur 400 Seiten erzählen als Christian, der hier das bisherige Resümee seines Faches vorlegt, staunt SZ-Kritiker Gustav Seibt und lässt sich fasziniert ein auf diese Zeitreise vom "Urknall bis zum Anthropozän", vorbei an ersten Zellverbänden, Dinosauriern und Hominiden. Wissenswertes aus Biologie, Sternen-, Erd- und Klimakunde erfährt er hier und bewundert nicht zuletzt Christians "metaphorische", an "klassische Weltentstehungspoesie" angelehnte Sprache. Hymnisch fällt auch Arno Widmanns FR-Kritik aus: Er erklärt den Historiker nach der Lektüre dieses Prachtbands zum Propheten einer neuen Lehre, die Universum, Evolution und Kultur zusammendenkt. Sternenstaub und Märchenglanz aufwirbelnd öffnet ihm der Autor in acht universalgeschichtlichen Kapiteln die Augen für die Schönheit des Universums, vermittelt ihm ein Gefühl für die immense Beschleunigung und Einsicht in die Triebkräfte des Universums: Expansion und Erkaltung. Ähnlich groß angelegt scheint der bisher erst von FAZ-Kritiker empfohlene Versuch des Philosophen Daniel C. Dennett zu sein, der uns in seinem Buch "Von den Bakterien zu Bach - und zurück" von der Evolution des Geistes erzählt.