Bücherbrief

Melancholie und Freiheitsrausch

09.05.2021. Judith Hermann folgt den verschlungenen Pfaden einer einstigen Zauberassistentin in die ostfriesische Einsamkeit, Howard Jacobson blickt mit galligem Witz auf einen Zirkus voller "Glamour-GreisInnen", Mary Gaitskill justiert die MeToo-Debatte mit Schwung, Wut und Sensibilität neu und Anton de Kom erzählt von den grausamen Zuständen in der ehemaligen niederländischen Kolonie Suriname. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Mai.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Kolumne "Wo wir nicht sind", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Judith Hermann
Daheim
Roman
S. Fischer Verlag. 192 Seiten. 21 Euro

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Was wurde Judith Hermann nach ihrem Bestseller "Sommerhaus, später" von den LiteraturkritikerInnen für ihre Folgeromane gescholten! Mit der gleichen Inbrunst jubeln sie nun über ihr neues Buch. "Was für ein schöner, in sich verschlungener Roman", applaudiert etwa taz-Kritiker Carsten Otte, der Hermann hier ganz auf der Höhe ihrer Kunst sieht: Der Ton der "Dauermelancholie" ist einem gesunden Maß und einem Mix verschiedener Sounds gewichen, die einzelnen Handlungsstränge sind gekonnt gesponnen und die reduzierten Metaphern können ihre volle Wirkung entfalten, lobt er. Erzählt wird die Geschichte einer jungen Frau, die ihre Karriere als Zauberassistentin schon vor Jahrzehnten an den Nagel gehängt hat, nun nach dem Auszug der Tochter ihren Mann zurücklässt, um in der ostfriesischen Provinz Einsamkeit und sich selbst zu finden und dabei auf viele skurrile Figuren trifft. "Betörend" nennt Maike Albath im Dlf-Kultur den Roman, dem sie nicht nur eine "hypnotische Wirkung" attestiert, sondern der sie auch in ein Gefühl von "Melancholie und Freiheitsrausch" versetzt. Nicht zuletzt dank Hermanns Sprache glaubt NZZ-Kritiker Roman Bucheli nach der Lektüre weiter an die Kraft der Literatur. Einen so leichten wie großen Metaroman liest Adam Soboczynski in der Zeit, während Marie Schmidt in der SZ und Judith von Sternburg in der FR vor allem an den gesellschaftspolitischen und ökologischen Fragen um Massentierhaltung und Klimawandel interessiert. In der FAZ fühlt sich Tilman Spreckelsen zumindest gut unterhalten.

Gabriela Adamesteanu
Das Provisorium der Liebe
Roman
Aufbau Verlag. 480 Seiten. 26 Euro

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Als "schöne" Liebesgeschichte und als genaues "Soziopsychogramm" des rumänischen Sozialismus und des Totalitarismus unter Ceausescu empfiehlt uns Norbert Mappes-Niediek in der FR den neuen Roman der rumänischen Schriftstellerin Gabriela Adamesteanu. Eine gewisse Kenntnis rumänischer Verhältnisse braucht man vielleicht schon, räumt der Kritiker ein. Vor allem aber bewundert er, wie die Autorin die im Bukarest der siebziger Jahre spielende Geschichte um Letitia und Solin, die beide in einem Kulturinstitut arbeiten und durch ihre heimliche Affäre den familiären und politischen Einschränkungen zu entfliehen versuchen, mit viel Zeithistorie anreichert, ohne die intime Liebesgeschichte damit zu belasten. Auch den Dlf-Kritiker Tobias Lehmkuhl überzeugt der Roman sinnlich, lebendig und psychologisch auf ganzer Linie, zudem hebt er die "vorbildliche" Übersetzung durch Eva Ruth Wemme hervor.

Mary Gaitskill
Das ist Lust
Blumenbar Verlag. 128 Seiten. 18 Euro

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Nach den zahlreichen amerikanischen, französischen und auch deutschen MeToo-Fällen scheint der Ausgangspunkt von Mary Gaitskills Erzählung fast vertraut: Der gefeierte Lektor Quinn fällt, als ihm Mitarbeiterinnen sexuelle Belästigung vorwerfen. Aber die amerikanische Autorin konzentriert sich nicht auf die Eindeutigkeit patriarchaler Machtverhältnisse, versichert uns Marlen Hobrack in der Zeit: Stattdessen baue sie die Beziehung zwischen Quinn und seiner einstigen Kollegin Margot wie ein Ping-Pong-Spiel auf, um ein "sadomasochistisches Machtspiel" zu entwerfen. Wie Gaitskill die Ambivalenz der Beziehung gestaltet, in dem sie der sadistischen Lust des Mannes schließlich die zerstörerische Lust der Frau gegenüberstellt, findet Hobrack so faszinierend wie schillernd. SZ-Kritikerin Nora Noll erkennt hier einmal mehr die Zeitdiagnostikerin Gaitskill, die sexuelle Machtdynamiken analysiert, dabei immer noch genug Deutungsspielraum lässt und nicht zuletzt postfeministische Haltungsweisen aufs Korn nimmt. Hymnisch bespricht auch Sarah Hall im Guardian den Roman, in dem die Autorin ihrer Meinung nach die MeToo-Bewegung mit Schwung, Wut und Sensibilität um einen intelligenten und nuancierten Bericht bereichert - und neu justiert. 

Alexandre Hmine
Milchstraße
Roman
Rotpunktverlag. 256 Seiten. 24 Euro

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Gern machen wir immer wieder auf Bücher aufmerksam, welche die großen Zeitungen übersehen. Bisher hat nur Roman Bucheli in der NZZ diesen Debütroman von Alexandre Hmine empfohlen, dabei greift der Schweizer Autor einen interessanten Aspekt der Identitätsdebatten heraus. Erzählt wird die Geschichte eines Tessiner Jungen mit marokkanischen Wurzeln, der bei einer katholischen, Dialekt sprechenden Witwe aufgewachsen ist und weder Arabisch kann noch besonders viel über den muslimischen Glauben weiß. Erst in seiner Studienzeit und durch die Begegnung mit der leiblichen Mutter wird er quasi zum Marokkaner "gemacht". Wenn Hmine feinfühlig und mit bewundernswerter Schonungslosigkeit schildert, wie sich der Junge hartnäckig gegen Zuschreibungen wehrt und über das Schreiben zur eigenen Identität findet, spürt Bucheli, dass der Autor hier auch seine eigene Lebensgeschichte verarbeitet.

Howard Jacobson
Rendezvous und andere Alterserscheinungen
Roman
Klett-Cotta-Verlag. 400 Seiten. 24 Euro

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Nach diesem Roman sind die KritikerInnen wieder mit Howard Jacobson versöhnt. In der FAZ erkennt Lerke von Saalfeld sofort die Mischung aus "galligem" britischen Witz und "funkelndem" jüdischen Humor wieder, die sie in Jacobsons Trump-Satire "Pussy" so schmerzlich vermisst hat. Wenn der britische Schriftsteller hier von zwei über neunzig Jahre alten Londonern, der biestigen Beryl und dem zarten Shimi erzählt, zu denen sich im Laufe des Buches eine ganze Schar weiterer kurioser "Glamour-GreisInnen" gesellt, die sich strenge Regeln fürs Älterwerden auferlegen, amüsiert sich Saalfeld prächtig: Ein farbenfroher "Zirkus" voller Witz, Satire und ohne Altersmüdigkeit, befindet sie. In der FR hebt Sylvia Staude vor allem hervor, dass Jacobson seine Figuren bei aller Skurrilität ernst nimmt und immer wieder auch die Bitterkeit des Älterwerdens durchblitzen lässt. Allein über die siebte Regel der Alten: "Vergesslichkeit hin oder her: Wiederholungen werden nicht toleriert" - muss sie laut lachen. Dieses "Alterswerk" breitet neben "feiner Ironie" auch die "Fülle von Jacobsons Formulierungskunst und -list" aus, schließt sie. Und für den Guardian-Kritiker Alex Clark zeichnet sich der Roman durch die so bittere wie witzige Beobachtung des Schreckens und der Demütigung aus, die Verlieben im Alter bedeuten kann.



Sachbuch



Bill Francois
Die Eloquenz der Sardine
Unglaubliche Geschichten aus der Welt der Meere und Flüsse
C.H. Beck Verlag. 234 Seiten. 22 Euro

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Was kann es in diesen Zeiten besseres geben als einfach abzutauchen? Am besten mit dem französischen Meeresbiologen Bill Francois, der von den Düften, Klängen und Farben unter Wasser offenbar so faszinierend erzählt, dass die KritikerInnen das Gefühl haben, selbst dabei zu sein. Denn Francois vermittelt nicht nur eine Menge Fakten, etwa über die Gesänge der Wale, die Kindheit von Fischen oder das "verlorene Wissen indigener Völker", er ist auch Schriftsteller, der vor allem für seine Kurzgeschichten bekannt ist, wie Steffen Herrmann in der FR schreibt. Geradezu beseelt ist der Kritiker neben der Sprache auch von der Tatsache, dass Francois sich nicht dem Bedauern über Meerverschmutzung und Klimawandel hingibt, obwohl so vieles zu bedauern wäre, sondern eine "leise Hoffnung" vermittelt, dass aus dem Wissen "Respekt" vor dem Meer und seinen Lebewesen entstehen könnte. Im Dlf Kultur staunt Günther Wessel vor allem, wie der Autor in einer Mischung aus Ernst und Unterhaltung die Naturgeschichte der Meeresbewohner mit der Kulturgeschichte des Menschen verknüpft.

Felix Holtermann
Geniale Betrüger
Wie Wirecard Politik und Finanzsystem bloßstellt
Westend Verlag. 272 Seiten. 22 Euro

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Der Fall Wirecard gilt als der größte Finanzskandal der deutschen Nachkriegszeit, bei dem Milliarden Euro verschwanden. Inzwischen gibt es bereits eine Verfilmung und diverse Bücher. Wir picken vor allem die Recherchen des Handelsblatt-Journalisten Felix Holtermann heraus, die die KritikerInnen einstimmig empfehlen. Der FAZ-Kritiker Tillmann Neuscheler erfährt in dem seiner Meinung nach faktensatten, gut strukturierten und geschriebenen Buch dank Holtermanns Blick auf Politik, Wirtschaftsprüfer, Lobbyisten und Finanzaufsichten nicht nur, wie der Skandal möglich wurde. Er liest das Buch auch als veritablen Wirtschaftskrimi. Einige Details wird man vermutlich schon kennen, räumt Katja Scherer im Dlf ein, gebannt liest sie das Buch dennoch, schon wegen Holtermanns Expertise, seiner langen Beschäftigung mit dem Unternehmen Wirecard und seiner mit persönlichen Anekdoten angereicherten Details über die betrügerischen Geschäfte. Im Dlf Kultur verdankt Ursula Weidenfeld dem Journalisten auch einen genauen Blick in ein System, das ihr verrät, dass "Wirecard" kein Einzelfall war. Weidenfeld empfiehlt außerdem Jörn Leograndes "Bad Company" (Bestellen): Wenn sie liest, was der einstige Wirecard-Marketingchef hier über den Skandal aufschreibt, läuft es ihr eiskalt den Rücken herunter.  


Peter Longerich
Antisemitimus: Eine deutsche Geschichte
Von der Aufklärung bis heute
Siedler Verlag. 640 Seiten. 34 Euro

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Über Antisemitismus wird seit einiger Zeit wieder scharf gestritten. Die Mbembe-Debatte brachte die Frage, ob Israel mit einem Apartheidsstaat verglichen werden könne und ob der Holocaust nur Ausdruck einer Tendenz sei, die eigentlich mit dem Kolonialismus begonnen habe. Vor diesem Hintergrund veröffentlichten einige der wichtigsten Kulturfunktionäre in Deutschland ein Manifest, in dem sie im Namen der Meinungsfreiheit darauf bestehen, Israelboykotteure einladen zu dürfen. Auch eine neue Antisemitismusdefinition, die "Jerusalem Declaration", wurde von dieser Schule lanciert, gegen die sich Peter Longerich in einem Spiegel-Interview freundlich, aber dezidiert ausgesprochen hat. In seinem neuen Buch  erzählt der Historiker die Geschichte des Antisemitismus als "eine deutsche Geschichte". Als nüchterne und darum um so deprimierendere Chronik liest Otto Langes das Buch im Deutschlandfunk: Der Antisemitismus habe als Sündenbockfigur für eine Konstruktion deutschen Identität gedient. Dass selbst Fichte, Herder und Schleiermacher jüdischen Menschen die Bürgerrechte vorenthalten wollten, notiert Dirk Schümer in der Welt als besonders bedrückend.

Anton de Kom
Wir Sklaven von Suriname
Transit Buchverlag. 220 Seiten. 22 Euro

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Als der als Enkel von Sklaven in Suriname geborene und aufgrund seiner politischen Aktivitäten gegen die kolonialistischen Zustände nach Holland verbannte Autor Anton de Kom dieses Buch im Jahr 1934 erstmals in Amsterdam veröffentlichte, wurde es zunächst zensiert, schließlich verboten. Nun liegt es erstmals unzensiert auf Deutsch vor, und im Dlf Kultur empfiehlt Carsten Hueck die Leküre nachdrücklich. Er liest hier von der grausamen Versklavung und Ausbeutung der Menschen durch die Holländer seit 1674, die dort unter unmenschlichen Bedingungen Tabak, Baumwolle und Zucker, Kautschuk und Bauxit ernten ließen. Außerdem erzählt der Autor davon, wie mit Hilfe von Sklaven geplündert wurde, die Eingeborenen vertrieben und teilweise durch "importierte" Sklaven aus Indonesien und Afrika ersetzt wurden. Aber de Kom, der in einem deutschen Konzentrationslager starb, nachdem er sich dem holländischen Widerstand gegen die Nazis angeschlossen hatte, klagt keineswegs nur an, sondern gibt den Versklavten auch eine Stimme und ihre Würde zurück, so der Kritiker, der das Buch nicht nur als Mischung aus politischem Kommentar, Essay, Geschichtsschreibung und Autobiografie, sondern auch als Dokument der Neuen Sachlichkeit liest. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf Götz Alys neues Buch "Das Prachtboot" (Bestellen), das wir bereits vorgeblättert haben, und in dem der Historiker Aly erzählt, wie eines der Glanzstücke des kommenden Humboldt-Forums, das große Südseeboot von der Insel Luf, durch Gewalt in den Besitz der Berliner Museen kam.

Audrey Lorde
Sister Outsider
Essays
Carl Hanser Verlag. 256 Seiten. 20 Euro

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Noch ein Buch zum Thema Identitätsdebatten? Ja - und zwar Audre Lordes nun auf Deutsch erschienene, im Original vor knapp vierzig Jahren veröffentlichte Essays, die uns die KritikerInnen unbedingt ans Herz legen. Denn zum einen weiß Lorde, schwarze, lesbische, feministische Sozialistin, die als Tochter karibischer Einwanderer in den USA aufwuchs, genau, wovon sie spricht, wenn sie mit entwaffnender Offenheit von ihrer Selbstdefinition als schwarzer Frau, von Rassismus, Homophobie und Diskriminierung schreibt, meint Anna Auguscik im Dlf. Zudem schrieb sie das Buch Jahrzehnte vor der aktuellen Debatte, ergänzt die Kritikerin, die den mit Charme und Kenntnis intersektionaler Debatten verfassten Band wärmstens als Wegweiser durch das "Dickicht der Identitätsdebatten" empfiehlt. Äußerst aktuell erscheinen die Essays auch Marlen Hobrack in der Zeit: Als eine der ersten habe Lorde weiße Feministinnen angegriffen und ihnen vorgeworfen, sich insgeheim mit ihren weißen Unterdrückern zu solidarisieren. Aber auch den schwarzen Männern erspare sie die Kritik nicht, deren Gewalt gegen Frauen sie auf eigene Demütigungserfahrungen zurückführe, so Hobrack. Im NDR empfiehlt Marie Schoeß das Buch. Mehr Bücher zur Identitätsdebatte finden Sie in unserer Eichendorff21-Liste zum Thema.