Bücherbrief

In Magengrube, Hirn und Herz

13.07.2020. Juri Andruchowytsch stellt in seinem großen galizischen Epos 400 Jahre ukrainische Geschichte auf den Kopf, Qiu Miajin steckt ein Krokodil ins Menschenkostüm und erzählt von Homosexualität in Taiwan, Belinda Cannone lauscht den zarten Tönen eines Grenouille des Hörens und Omri Boehm träumt von einer "Republik Haifa". Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Juli.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Susanne Kerckhoff
Berliner Briefe
Ein Briefroman
Verlag Das kulturelle Gedächtnis. 128 Seiten. 20 Euro

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Als "eine der wichtigsten Auseinandersetzungen mit deutscher Schuld" lobte Thea Dorn im Literarischen Quartett die "Berliner Briefe" der Autorin und einstigen Feuilletonchefin der Berliner Zeitung, Susanne Kerckhoff. 1948 erschien die fiktive Korrespondenz zwischen einer jungen Berlinerin und ihrem jüdischen Jugendfreund aus Paris erstmals und wurde nun vom Verlag "Das kulturelle Gedächtnis" neu editiert. Im Dlf-Kultur ist Carsten Hueck überwältigt von dem moralischen Rigorismus dieser schonungslosen Selbstbefragung einer Deutschen nach Ende des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus: Klarsichtig prangert sie Mitläufertum und Scheinheiligkeit an, Verdrängung und Schuldabwehr. Bestechend wird für den Rezensenten diese Bestandsaufnahme durch das Bekenntnis der eigenen Zerrissenheit. Das am Ende der "überspannten Empörung" der Verstand gefeiert wird, erfüllt indes taz-Kritiker Hugo Velarde mit Trost. Dass die Neuauflage des Buches weder Leben und Werk der Autorin noch die Zeitumstände erläutert, kann Jens Bisky in der SZ allerdings nicht verstehen. Und im Dlf-Kultur-Gespräch mit Alexander Moritz ärgert sich Ines Geipel über die jüngste Rezeption: "Die Schriftstellerin Susanne Kerckhoff aus Berlin wird gut gegendert, - weibliches Schreiben, Gefühle, ich weiß nicht was -, und völlig entpolitisiert." Für die Berliner Zeitung bespricht Cornelia Geißler den Roman.

Qui Miaojin
Aufzeichnungen eines Krokodils
Roman
Ulrike Helmer Verlag. 320 Seiten. 20 Euro

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Qui Mioajins Roman ist im taiwanesischen Original bereits 1994 erschienenen und avancierte dort zum Kultbuch. Dem FAZ-Kritiker Christian Metz eröffnet der Text aber auch heute noch Denk- und Gefühlsräume. Die lesbische Autorin, die im Alter von 26 Jahren Selbstmord beging, veröffentlichte ihren Text zu einer Zeit, als homosexuelle Beziehungen in Taiwan noch strafbar waren. Erzählt wird von der jungen Lazi, die an einer Elite-Universität in Taipeh studiert, sich gegen die herrschende Homophobie auflehnt, obsessiv einer Mitstudentin verfällt und über ihr Innenleben in Tagebucheinträgen und Gesprächsprotokollen Auskunft gibt. Metz verfällt nicht nur der quecksilbrigen Heldin, sondern lobt auch Miaojins empathische Schilderung von Intimität, die Anleihen aus dem französischen Film und aus der Liebestheorie verarbeitet. Im Sissymag gefällt Axel Schock nicht nur die kühle Prosa der Autorin, sondern auch den zweiten Erzählstrang, in dem Miaojin von einem Krokodil erzählt, das im Menschenkostüm seine Andersartigkeit zu verbergen versucht.

Juri Andruchowytsch
Die Lieblinge der Justiz
Parahistorischer Roman
Suhrkamp Verlag. 299 Seiten. 23 Euro

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Hymnisch und hochtönend preisen die KritikerInnen diesen Roman des ukrainischen Schriftstellers Juri Andruchowytsch: Als "grandioses" galizisches Epos würdigt Jörg Plath in der NZZ den "parahistorischen Roman", der ihm in losen Episoden von Verbrechern und Verrätern, von KGB-Agenten, Killern, Nationalisten und Spionen aus 400 Jahren ukrainischer Geschichte erzählt: Zunächst in gewohnt überdrehten "Turboschwurbeleien" und akribisch festgehaltenen Gewaltexzessen, nach den ersten Geschichten jedoch zunehmend ernster, demontiert der Autor den ukrainischen Heldenmythos, lobt Plath: Ein Buch, das Komik und Tragik, Historie und Mythologie aufs Geschickteste miteinander vereint, meint er. Auch SZ-Kritiker Jörg Magenau bewundert, wie tollkühn der Autor in seinem "Karneval der Gewalt" "Schauermärchen" aus Hängen und Würgen, Vergewaltigen, Verbrennen und Ermorden mit YouTube-Videos, Zirkus und Magie mixt. Und in der FR bleibt Norbert Mappes-Niediek nicht selten das Lachen im Halse stecken bei der Lektüre der halb historisch belegten, halb fiktionalen, stets sarkastischen Geschichten über ukranische Antihelden: Die "freakigen" Ideen des Autors werden abgelöst durch dokumentierte Wehrmachtsmassaker und Folterszenen. Im SWR bespricht Michael von Au den Roman.

Belinda Cannone
Vom Rauschen und Rumoren der Welt
Roman
Edition Converso. 256 Seiten. 22 Euro

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Nur eine Besprechung hat dieser im französischen Original bereits 2009 erschienene Roman erst erhalten, aber es lohnt sich bestimmt, darauf hinzuweisen. Denn in Zeiten der immer lauter und hysterischer geführten Debatten erzählt die französische Schriftstellerin und Essayistin Belinda Cannone eine ganz leise, zarte Geschichte - und mehr noch: Für den SZ-Kritiker Alex Rühle ist Cannones an Hyperakusis leidender Held Jodel geradezu ein Grenouille des Hörens. Aber anders als Patrick Süskinds Held in "Das Parfum" ist Jodel ein "Melancholiker", der sich der Welt gern entzieht, fährt der Kritiker fort, der allein staunt, weil Cannone Geräusche so exzellent zu beschreiben vermag (Sex, geschildert von einem Hyperakustiker!). Dass die Figuren gelegentlich etwas "orchideenhaft-sonderlingös" wirken, verzeiht er angesichts dieses "originellen" und großartig übersetzten Plädoyers für das Öffnen der Ohren gern.

Nana Kwame Adjei-Brenyah
Friday Black
Storys
Penguin Verlag. 240 Seiten. 20 Euro

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Ist das noch Fiktion oder schon Realität fragen sich die KritikerInnen nach der Lektüre von Nana Kwame Adjei-Brenyahs Kurzgeschichten-Debüt "Friday Black". Dlf-Rezensent Ingo Eisenbeiß erkennt sofort die aktuellen USA, wenn der aus Ghana stammende und in New York lehrende Autor hier das Land in einem kapitalistischen Blutrausch versinken lässt, wenn ein kaufwütiger Mob am Black Friday die Malls stürmt und Konsum-Zombies über Leichen gehen und es sich auf ihnen gemütlich machen. Manches mag überdreht sein, stark und verstörend ist das Debüt in jedem Fall, meint er. Auch Welt-Kritiker Richard Kämmerlings macht die experimentelle Mischung aus "realistischer Beschreibung sozialer und rassistischer Diskriminierung mit Horror- und Splatterzutaten" die gegenwärtige Wut vieler amerikanischer Bürger nachvollziehbar. Dieses Buch trifft in Magengrube, Hirn und Herz, meint er. Atemberaubend trostlos nennt Johannes Kaiser im Dlf-Kultur die Short Stories, etwa wenn ihm der Autor in zupackender, nichts beschönigender Sprache erzählt, wie ein weißer Vater fünf schwarzen Kindern die Köpfe abschneidet. Nur in der SZ gerät Hanna Engelmeier die Mischung aus Dystopie und konsumkritischer Groteske ein wenig zu plakativ.


Sachbuch

Kate Kirkpatrick
Simone de Beauvoir
Ein modernes Leben
Piper Verlag. 528 Seiten. 25 Euro

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Man möchte es kaum glauben: Aber Kate Kirkpatricks Biografie von Simone de Beauvoir ist tatsächlich erst die zweite, die seit dem Tod der französischen Philosophin erschienen ist, und die erste, die auch die posthum veröffentlichen Tagebücher Beauvoirs miteinbezieht. Für Alice Schwarzer reicht das in der Zeit schon zur Lektüreempfehlung, NZZ-Kritikerin Claudia Mäder wird konkreter: Kirkpatrick schaffe das Fundament für eine Neubewertung der französischen Ikone, lobt sie. Dass Beauvoir sehr wohl eine eigenständige Denkerin war, die sich nicht im Feminismus erschöpfte und sich auch in Widerspruch zu Jean-Paul Sartres Philosophie setzte, kann ihr die britische Philosophin auf Grundlage bisher nicht ausgewerteter Schriften nachweisen. Eine kritischere Auseinandersetzung mit Beauvoirs Mao-Verehrung hätte dieser Biografie allerdings gut getan, ergänzt sie. In der taz lernt Marlen Hobrack bei Kirkpatrick, dass Beauvoirs Beziehung zu Sartre ihren feministischen Ansprüchen nicht entgegenstand, sondern dass scheinbare Widersprüche zwischen ihrem Lebensstil und ihren Thesen sich daraus ergeben, dass die Autorin sich sowohl als Frau als auch als Subjekt alle Freiheiten zugestand. Ein mutiges, "kluges und unaufgeregtes" Buch, dass "die Person Beauvoir in ihrer ganzen - zeittypischen, sozialen, geschlechtlichen - Widersprüchlichkeit mit deren philosophischen und literarischen Interessen" verbindet, meint Catherine Newmark im Dlf-Kultur.

Michael Frey
Vor Achtundsechzig
Der Kalte Krieg und die Neue Linke in der Bundesrepublik und den USA
Wallstein Verlag. 471 Seiten. 42 Euro

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Die 68er haben eine Vorgeschichte: die 58er. Teilweise waren das sogar ein und dieselben. Denn die 68erin Ulrike Meinhof war eher eine 58erin, geprägt vom Entstehen der "Neuen Linken" in der frühen Nachkriegszeit, die der Autor ins Zentrum seines Buches stellt. Keine Eruption kommt ohne Vorgeschichte, mag man einwenden, aber der Zeithistoriker Alexander Gallus bekennt in der FAZ, eine Menge aus Freys Buch (für das der Historiker übrigens mit dem Willy-Brandt-Sachbuchpreis ausgezeichnet wurde) gelernt zu haben: Die "Neue Linke" hatte sich erstmal aus der Konfrontation des Kalten Krieges lösen müssen, in der etwa in den Fünfzigern auch die Zeitschrift konkret steckte, das damalige das Zentralorgan der neuen Avantgarde, in dem auch besagte Meinhof schrieb, nur leider stasi-finanziert. Aber es ist Gallus wichtig, mit Frey zu konstatieren, dass sich die Neue Linke nicht auf den Einfluss der Stasi reduzieren lässt - viel zu eigenständig war sie, und vor allem international viel zu vernetzt. Die Öffnung, die in der westlichen Demokratie möglich war, ermöglichte ihr, neue Themen zu entwickeln, etwa den Antikolonialismus. Ob die Neue Linke aber auch von der gesellschaftlichen Öffnung der sechziger Jahre profitierte, sich gewissermaßen in ihrer Rigidität und gescheitelten Strenge der damaligen Zeit lockern ließ, scheint Frey nicht zu interessieren: Er stelle den Beitrag der "Neuen Linken" vor allem politikgeschichtlich dar, so Gallus.

Omri Boehm
Israel
Eine Utopie
Propyläen Verlag. 256 Seiten. 20 Euro

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Sie ist schon sympathisch, diese Utopie, die sich der israelische Philosoph Omri Boehm als Lösung für den Nahost-Konflikt ausmalt: Boehm stellt sich eine "Republik Haifa" vor, also ein föderales, binationales Israel. Realistischer als die alte Zweistaatenlösung sei die Idee allemal, meint Alexandra Föderl-Schmidt in der SZ - und auch nicht neu: Boehms Vorschlag bezieht sich seiner philosophisch-politischen Logik von Kant ausgehend auf ein bereits 1977 durch Menachem Begin durchgesetztes Gesetz zur Autonomie palästinensischer Bürger, dessen Ursprung auf Theodor Herzl zurückgeht. Und warum Haifa? Weil dort ein gemeinsames Leben von Juden und Palästinensern schon lange praktiziert werde, liest Micha Brumlik in der taz, der Boehms "hoffnungsvoller Vision" die Erkenntnis verdankt, dass man nur außerhalb symbolischer Orte wie etwa Jerusalem zu einer lebbaren Lösung kommen kann. Das "wohl bedeutendste Buch" zum Konflikt seit langem, meint er. "Klug", mutig und voller "erhellender und schonungsloser" Einblicke meint auch Dlf-Kritiker Matthias Bertsch, der Boehms Kritik an Siedlungspolitik und Annexionsplänen der israelischen Regierung nachvollzieht und sich auch dessen Überlegung anschließt, ein Recht auf Souveränität, das Minderheiten und andere Völker unterdrücke, stehe Israel genauso wenig zu wie allen anderen Staaten. Sehr viel kritischer äußert sich in der Welt Alan Posener, der in einem Leitartikel zur aktuellen Debatte nebenbei bemerkt, dass Boehms Buch weder auf hebräisch, noch auf arabisch erschienen ist und in der dortigen Debatte überhaupt keine Rolle spielt: An seiner Utopie wärmen sich offenbar nur hiesige Freunde Israels. Im Standard gibt es ein Interview mit Boehm zur israelischen Politik.

Kassia St. Clair
Die Welt der Stoffe
Hoffmann und Campe Verlag. 416 Seiten. 26 Euro

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Vor einigen Jahren hat Kassia St. Clair ein tolles Buch über die "Welt der Farben" vorgelegt, nun entführt sie uns in die "Welt der Stoffe" und FAZ-Kritikerin Gudrun Braunsberger folgt ihr gern auf die Reise in die Jahrtausende alte Tradition der Stoffherstellung. Von Pelz über Damast bis Gore-Tex lernt die Kritikerin von der britischen Journalistin alles, was es über Stoffe zu wissen gilt - und mehr: "Leerstellen" zur weiblichen Rolle in der Geschichte der Stoffproduktion könne die Autorin schließen, versichert die Rezensentin, die hier etwa lernt, dass die Herstellung von Spitze durch Frauen in einigen Regionen Frankreichs und Flanderns zu Dienstboten-Mangel führte. Natürlich reist die Kritikerin mit der Autorin auch die Seidenstraße entlang, erfährt aber auch, wie mit der Baumwollproduktion die Profitgier einsetzte, die bis zur heutigen Fast Fashion führte. Wie St. Clair Fäden zwischen den einzelnen Epochen und Regionen spinnt, findet die Braunsperger beeindruckend.

Masha Gessen
Autokratie überwinden
Aufbau Verlag. 299 Seiten. 20 Euro

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Eines der vielen Bücher, das von den KritikerInnen als "Buch der Stunde" empfohlen wird. Aber im Jahr der amerikanischen Wahlen ist es bestimmt interessant, Gessens Analyse der politischen Situation in den USA zu lesen. Dicht und stichhaltig nennt Sabine Adler im Dlf-Kultur das Buch, in dem die russisch-amerikanische Journalistin Autokratien im Allgemeinen und das System Trump im Besonderen schildert, dessen Sexismus und Rassismus ebenso durchleuchtet wie die Hintermänner und anders als die Vielzahl von Trump-Büchern auch Ansätze zur Überwindung von Autokratie liefert. Dass die Erosion von Demokratie und Anstand lange vor Trump in Amerika stattgefunden hat, erfährt SZ-Kritiker Matthias Kolb nicht zuletzt, wenn Gessen das System des "postkommunistischen Mafiastaats", wie es der ungarische Soziologe Bálint Magyar für sein Land beschrieben hat, als Blaupause heranzieht. Allein den Stilwechsel zwischen Analytikerin und Aktivistin nimmt er der Autorin übel. Klare Struktur und Fußnotenreichtum hebt Marko Martin in der Welt hervor, auch den Vergleich der Systeme Trump und Putin findet er instruktiv.