Bücherbrief

Wimmelbild der Extravaganzen

07.02.2021. Viktor Martinowitsch schleudert uns durch das postsowjetische Moskau, Julian Barnes entdeckt im Paris der Belle Époque an der Seite des umtriebigen Gynäkologen Samuel Pozzi das "Sinnbild Europas", Bernadine Evaristo begibt sich mit zwölf unangepassten Frauen zwischen 19 und 93 auf eine witzig-rasante Suche nach einem "lebbaren Feminismus", und wenn Tove Ditlevsen in "feinsinnigen und brutalen" Bildern auf eine Kindheit im Kopenhagener Arbeitermilieu zurückblickt, hätten Knausgard, Eribon und Co. noch was lernen können. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Februar.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Viktor Martinowitsch
Revolution
Roman
Voland und Quist Verlag
. 400 Seiten. 24 Euro

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Die belarusische Literaturszene ist unter Lukaschenko derzeit immer mehr Repressalien ausgesetzt, berichtete Francesca Polina kürzlich in der SZ. Verlage bekommen regelmäßig Besuch von der Polizei, auch Viktor Martinowitschs neuer Roman wurde beschlagnahmt, sein Verleger verhaftet. (Unsere Resümees). Martinowitschs "Revolution" bezieht sich allerdings gar nicht direkt auf die aktuellen Proteste gegen Lukaschenko, sondern erzählt die Geschichte von Michail German, der, "verdorben" durch die postsowjetischen Verhältnisse im Moskau der Gegenwart, zunächst als Dozent für Architektursemiotik tätig ist, Karriere macht und sich einer streng kontrollierten postsowjetischen Untergrundorganisation mit Geheimdienst-Methoden anschließt, resümiert FR-Kritikerin Cornelia Geißler, die nach dieser anspielungssatten "Schleuderkammer" mit Polit- und Thrillerelementen dennoch die Verhältnisse in Belarus besser versteht. In der taz erläutert Norma Schneider: Auch wenn dieser pointierte und atmosphärisch dichte Roman in Moskau spielt, erfahren wir viel über Macht und Korruption in postsowjetischen Gesellschaften. Dass Martinowitsch davon mit Situationskomik zu erzählen weiß, ringt ihr große Anerkennung ab.

Helon Habila
Reisen
Roman
Verlag Das Wunderhorn. 320 Seiten. 25 Euro

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Acht Jahre liegt der letzte, von der Kritik hoch gelobte Roman des nigerianischen Autors Helon Habila zurück - und NZZ-Kritiker Uwe Stolzmann konnte es kaum noch abwarten, bis ein neues Werk dieses wie er findet phänomenalen Autors vorliegt. Mit der Geschichte um einen nigerianischen Stipendiaten, der auf seinen Reisen durch Europa auf die teils brutalen Schicksale von Flüchtlingen stößt, wird Stolzmann allerdings reich entlohnt. Denn die Wartezeit ist auch bedingt durch die intensive Recherche, die Habila für den Roman betrieben hat: Zur Vorbereitung hat er etwa mit Überlebenden eines Bootsunglückes vor Lampedusa gesprochen. Die Eindringlichkeit, mit der Habila die "Unsichtbaren sichtbar" macht, hat den Kritiker nachhaltig beeindruckt. Für Dlf-Kultur-Kritikerin Insa Wilke ist das Buch auch eine Art "Berlin-Roman", denn Habila verbrachte einige Monate in der Stadt, um die Transitgeschichten von Menschen zu sammeln: Darunter eine Transperson aus Malawi, ein libyscher Arzt, der in Berlin als Türsteher arbeitet, oder verschiedene Figuren aus der Kunst- und Aktivistenszene. Klug, ergreifend, schillernd - sehr Berlin eben, meint Wilke. Empathie, genaue und differenzierte Beobachtungen, der Verzicht auf Melodramatik und Moral lassen Marie-Sophie Adeoso in der taz eine klare Leseempfehlung aussprechen.

Julia Phillips
Das Verschwinden der Erde
Roman
dtv. 376 Seiten. 22 Euro

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Wann führt uns Literatur schon mal nach Kamtschatka? Julia Phillips ist zwar keine Russin, sondern eine junge Debütantin aus New York, aber während der zehnjährigen Entstehungszeit ihres Textes hat sie intensiv recherchiert. Unter anderem verbrachte Phillips 2011 selbst einige Zeit auf der russischen Halbinsel. So besticht die episodisch erzählte Geschichte um die russischen Schwestern Sofija und Aljona, die plötzlich auf Kamtschatka verschwinden, durch Dichte und Intensität, wie Klaus Brinkbäumer in der Zeit versichert. Im Dlf Kultur staunt Christoph Schröder, wie die Autorin ausgehend von der Entführung ein spannendes Bild der Gesellschaft vor Ort zeichnet: Sowohl die Benachteiligung Indigener wie auch die der Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft und das ambivalente Verhältnis zur gefallenen Sowjetunion werden entfaltet, alles vor der malerischen Kulisse der einzigartigen Landschaft der Halbinsel und ganz ohne Voyeurismus, lobt er. In diesem Roman lernt man die Region und ihre Schwachstellen kennen, meint auch FAZ-Kritikerin Katrin Doerksen: Von "Generationenkonflikten, Korruption, gegenseitigem Misstrauen und Rassismus" erzähle die Autorin in "klarer", fließender Sprache, die ab und an durch ungewöhnliche, brutale Bilder gebrochen werde. Gelungene Figuren und Situationsschilderungen hebt Nicolas Freund in der SZ hervor, nur den feministischen roten Faden in den 13 Geschichten findet er weniger überzeugend.

Bernadine Evaristo
Mädchen, Frau etc.
Roman
Tropen Verlag. 512 Seiten. 25 Euro

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Zugegeben, die Story - 12 diskriminierte, unangepasste Frauen zwischen 19 und 93, in allen Hautfarben, zudem lesbisch, trans, queer oder hetero und auf  der Suche nach Identität, klingt schon ziemlich "woke" und damit sehr nach Zeitgeist-Literatur. Aber die "identitätspolitische Familienaufstellung", die uns die Britin Bernardine Evaristo hier präsentiert und für die sie als erste schwarze Schriftstellerin mit dem Booker-Preis ausgezeichnet wurde, ist intelligent, kritisch, mit Tempo und Witz geschrieben, versichert in der Zeit Ijoma Mangold, der hier statt Ideologie vergnügliche Persiflage entdeckt. "So viel Frauenwelt in einem Buch!", jubelt im Dlf Kultur auch Gabriele von Arnim, die sich gern mit den Protagonist*innen auf die Suche nach einem "lebbaren Feminismus" begibt. Evaristos Sprache - rasant, fließend, aber doch mit genügend Atempausen und der humorvolle Blick auf Festlegungen jeglicher Art machen für sie den besonderen Reiz des Buches aus. Dass die Autorin komplett auf Interpunktion verzichtet und somit wunderbar offen bleibt, gefällt dem taz-Rezensenten Dirk Knipphals besonders gut. Als "breites Kaleidoskop der britischen Gesellschaft" würdigt Anna Vollmer in der FAZ den Roman, der ihr auch das ganze Spektrum aktueller identitätspolitischer Debatten vor Augen führt. Komplexe Figuren und die "einzigartige Schönheit" der Romanwelt lobt Micha Frazer Carroll im Guardian, während sich Dwight Garner in der New York Times etwas mehr Handlung gewünscht hätte.

Tove Ditlevsen
Kindheit
Roman. Teil 1 der Kopenhagen-Trilogie
Aufbau
 Verlag. 118 Seiten. 18 Euro

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Hymnische Besprechungen erhielt dieser wiederentdeckte Text der 1917 geborenen dänischen Schriftstellerin Tove Ditlevsen, der erste Teil ihrer nun in Ursel Allensteins von der Kritik gelobten Übersetzung vorliegenden Kopenhagen-Trilogie. Knausgard, Eribon und Co. hätten bei Ditlevsen in die Lehre gehen können, schreibt eine hingerissene Meike Fessmann im Dlf Kultur, die vor allem die Dichte der autofiktionalen Erzählung über eine Kindheit im Kopenhagener Arbeitermilieu und die Chancenlosigkeit einer Frühbegabten bewundert. In berückenden, "feinsinnigen und brutalen" Bildern schaut sie direkt ins Innere der Protagonistin. Flott und schnörkellos nennt taz-Kritikerin Sophie Wennerscheid den Text, während Jens Uthoff in der Welt gefällt, dass Zeitgeschichtliches hier eher als Hintergrundrauschen vorkommt. In einer schönen Kritik im Dlf verrät Jan Drees auch einiges über das Leben der Autorin, die in Dänemark vor allem als Lyrikerin bekannt: Wir erfahren etwa, dass sie viermal verheiratet war, Drogen- und Psychiatrieerfahrung hatte, einige Suizidversuche unternahm und ihr ganzes Leben im Schreiben verarbeitete.


Sachbuch

Julian Barnes
Der Mann im roten Rock
Kiepenheuer und Witsch Verlag. 304 Seiten. 24 Euro

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Es scheint nicht ganz einfach zu sein, das neuen Buch von Julian Barnes einzuordnen: Auf der aktuellen SWR-Bestenliste steht es ebenso wie auf der Sachbuchliste der Zeit und auch die KritikerInnen jubeln: Viel mehr als ein Sachbuch! Wenn Barnes uns hier ins Paris der Belle Époque mitnimmt, an der Seite des Gynäkologen und Lebemannes Samuel Pozzi, begegnet SZ-Kritikerin Cathrin Kahlweit nicht nur einem neugierigen, unersättlichen kosmopolitischen Europäer, dessen Affären, Eigenarten und Intrigen Barnes leuchtend ausmalt. Sie erkennt in Pozzi zudem ein "Sinnbild Europas" und liest bei Barnes eine kunstvolle Liebeserklärung an den Kontinent, in dem sich der Autor allerdings auch über Großbritannien und den Brexit auslässt. Gründliche Recherche und kluge Beobachtungen, verpackt in "elegantem Plauderton", hebt Sigrid Löffler im Dlf Kultur hervor: Begeistert verliert sie sich in diesem Wimmelbild von Extravaganzen und Exzessen dekadenter Aristokraten, Dandys und Snobs. In der FR vergisst auch Sylvia Staude während der elegant ironischen und mit allerlei zeitgenössischem Gossip geschilderten Begegnungen mit Sarah Bernhardt, Marcel Proust und anderen, dass es sich nicht um Fiktion handelt. Im Tagesspiegel fühlt sich Gerrit Bartels an Florian Illies Bücher über 1913 erinnert - allerdings glücklicherweise ohne dessen "fiktive Einfühlungen". Und im WDR empfiehlt Ulrich Rüdenauer einen "hochliterarischen und erkenntnisreichen Essay", in dem man "lustvoll blätternd" zeitgenössische Porträts aus der Schokoladenpackung, Gemälde von John Singer Sargent und Fotografien betrachten kann.

Karim El-Gawhary
Repression und Rebellion
Arabische Revolution - was nun?
Kremayr und Scheriau
. 224 Seiten. 24 Euro

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Vor zehn Jahren verbrannte sich der tunesische Markthändler Mohammed Bouazizi und löste mit seiner Tat den "arabischen Frühling" aus. Als gelungenes Überblickswerk empfiehlt uns Dlf-Kritiker Jan Kuhlmann dieses Buch des Nahostkorrespondenten der taz, Karim El-Gawhary. In kenntnisreichen und überzeugenden Analysen ist hier laut Kuhlmann unter anderem nachzulesen, weshalb die arabischen Aufstände in Tunesien erfolgreich waren, während in Ägypten die alte Ordnung vor allem dank Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate an der Macht blieb: Die Kronprinzen Muhammad bin Salman und Muhammad bin Zayed verhinderten eine Demokratie in der Region, um ihre Macht nicht zu gefährden, liest er. Auch El-Gawharys Einschätzung, dass es nicht nur der Islam, sondern insbesondere die Armut und Ungleichheit in der Bevölkerung sind, die für die "Verwerfungen" in der Region verantwortlich sind, stimmt der Kritiker zu. El-Gawhary setzt seine Hoffnung auf die junge Bevölkerung in der Region, wie er kürzlich in der taz schrieb: "Die Autokraten befinden sich langfristig in der Defensive. Je stärker sie die repressiven Schrauben anziehen, desto mehr Menschen entfremden sich von dem System und suchen nach einem Raum, ihren Ärger loszuwerden." Im Zenith-Magazin lobt Annika Scharnagl das Buch zudem für die Mischung aus Berichten der Menschen vor Ort, vielen tiefgehenden Hintergrundinformationen zu den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen und Mutmaßungen über einen Nahen Osten nach der Corona-Pandemie. Ein paar Reporter-"Phrasen" verzeiht sie da gern.

Annet Mooij
Das Jahrhundert der Gisele
Mythos und Wirklichkeit einer Künstlerin

Wallstein
 Verlag. 470 Seiten. 34 Euro

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Die Zeit ist überreif für diese Biografie der österreichisch-niederländischen Malerin Gisèle d'Ailly van Waterschoot van der Gracht, meint Wolfgang Matz in der FAZ und empfiehlt das Buch der niederländischen Autorin Annet Mooij als wichtige Ergänzung von Ulrich Raulffs Buch über den George-Kreis. Matz preist das Buch nicht nur als gelungene Biografie, die ihm die im Alter von 101 Jahren verstorbene Malerin als schillernde, mutige Gestalt vorstellt, sondern auch als Ideologie- und Sektengeschichte und als veritablen Krimi: Mooij untersuche nämlich auch die Verstrickung Giseles in den Männerbund Castrum Peregrini und überführe ihren Schützling Wolfgang Frommel als Betrüger, der seine Schüler auch sexuell unterwarf. Für Welt-Kritikerin Swantje Karich ist das Werk denn auch mehr "Enthüllungsbuch" als Künstlerinnenbiografie, das vor allem dadurch überzeugt, dass Mooij nie anklagt, sondern den Lesern Raum zur eigenen Imagination gibt. Zudem mache sie das Leben einer Frau inmitten eines "Männersystems" sichtbar. Im Dlf Kultur hebt Paul Stoop nicht zuletzt die zahlreichen Abbildungen im Band hervor, die ihm zeigen, wie talentiert die Künstlerin war. Zudem lässt ihn Giseles Geschichte auch das Amsterdam unter deutscher Besatzung als kulturelle Insel betrachten.

Mark Honigsbaum
Das Jahrhundert der Pandemien
Eine Geschichte der Ansteckung von der Spanischen Gripppe bis Covid 19
Piper Verlag. 480 Seiten. 24 Euro

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Es war natürlich zu erwarten, dass dies die Saison der Seuchenbücher würde. Wir picken Mark Honigsbaums "Jahrhundert der Pandemien" heraus, das von Michael Lange im Dlf Kultur empfohlen wurde. Der britische Medizinhistoriker und Journalist recherchierte über zehn Jahre, tauchte tief ein in die Archive und Zeitzeugenberichte von der Spanischen Grippe über Pestausbrüche in den USA bis zur AIDS-Pandemie und bietet "fundierte, anschaulich" präsentierte Informationen und Einzelschicksale, versichert Lange. Parallelen und Unterschiede sind hier erkennbar, dankbar nimmt der Kritiker zudem zur Kenntnis, dass Honigsbaum sich mit Corona nur kurz befasst. Dass Afrika, Asien und auch Europa allerdings nur am Rande behandelt werden, findet Lange bedauerlich. Und natürlich soll Volker Reinhardts "Die Macht der Seuche" (bestellen) nicht unerwähnt bleiben: Wenn der Renaissance-Historiker hier die Pest von 1348 aus neuen Augen betrachtet, lernt Dlf-Kritiker Holger Heimann viel Interessantes in diesem, wie er findet "klugen und instruktiven" Buch, das ihm unter anderem vom Wunder von Mailand, von Sittenverfall und den Progromen gegen Juden erzählt. SZ-Kritiker Gustav Seibt erhält hier allerdings nicht allzu viele neue Erkenntnisse.

Jochen Hörisch
Hände
Eine Kulturgeschichte
Carl Hanser Verlag. 304 Seiten. 28 Euro

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Bisher hat nur Volker Mühleis im Dlf dieses Buch besprochen, aber er empfiehlt diese "Kulturgeschichte der Hände" des Literaturwissenschaftlers Jochen Hörisch wärmstens. Zwar weist der Kritiker daraufhin, dass es sich im eigentlichen Sinne nicht um eine Kultur- sondern eher um eine Literatur- und Sprachgeschichte handelt. Macht aber nichts, denn die Reise, auf die uns Hörisch mitnimmt ist "wild" und kenntnisreich, versichert er: Von historischen und etymologischen Herleitungen ist hier ebenso zu lesen wie von der Verbindung zwischen Sprache und Körperlichkeit, vor allem mit Blick auf das Werk Goethes. Darüber hinaus erhält Mühleis hier ein "mentalitätsgeschichtliches Panorama", reich gefüllt mit Verweisen und Zitaten aus der Literatur. Dass Hörisch nicht-westliche Kulturen nicht mit in den Blick nimmt, findet der Kritiker zwar bedauerlich, die anthropologischen Überlegungen im Buch entlohnen ihn aber reichlich. Im SWR2 spricht Max Bauer mit Jochen Hörisch über die Thesen des Buches.