Bücherbrief

Erzählung unserer Gegenwart

12.12.2021. Abdulrarak Gurnah erzählt illusionslos, aber in einem "schwärmerischen Sinne poetisch" die Kolonialgeschichte Ostafrikas, Stephan Thome gibt einen subtilen "Crashkurs" zur Geschichte Taiwans, Rachel Cusk führt durch ein "Purgatorium" menschlicher Beziehungen und Bill Hansson entführt in die faszinierende Parallelwelt der Gerüche. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats Dezember.
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Weitere Anregungen finden Sie in in der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in den Kolumnen "Wo wir nicht sind" und "Vorworte", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.

Literatur

Abdulrazak Gurnah
Das verlorene Paradies
Roman
Penguin Verlag. 336 Seiten. 25 Euro

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Große Ratlosigkeit herrschte nach der Bekanntgabe des diesjährigen Literaturnobelpreisträgers: Nur wenige kannten den 1948 in Sansibar geborenen, seit 1968 in Großbritannien lebenden Schriftsteller Abdulrazak Gurnah. Immerhin: Die Literaturkritiker standen zu ihrer Unwissenheit, in der Welt schrieb Richard Kämmerlings aber entgeistert: "Dass ein solcher Schriftsteller im Land der einstigen Kolonialherren praktisch unbekannt ist, wirft ein weiteres grelles Schlaglicht auf die skandalös verspätete Auseinandersetzung mit der imperial-kolonialen Vergangenheit Deutschlands." (Unsere Resümees). In unserem Buchladen Eichendorff21 gehörten die verfügbaren englischen Ausgaben schnell zu den meist verkauften Büchern - und nun, pünktlich vor Weihnachten, hat der Penguin-Verlag auch Gurnahs Roman "Das verlorene Paradies" von 1994 in der Übersetzung von Inge Leipold neu aufgelegt. Zum Kennenlernen von Gurnahs Werk eignet sich der Band hervorragend, meint etwa Sigrid Löffler im Dlf Kultur: Erzählt wird, wie meist in Gurnahs Romanen, die Kolonialgeschichte Ostafrikas aus der Perspektive der Einheimischen. In diesem Fall ist es der zwölfjährige Yusuf, von seinen Eltern als Sklave verkauft, der während einer großen Handelsfahrt in der Karawane seines Herrn das lebhafte "Biotop" unterschiedlichster Kulturen, Begegnungen mit deutschen Militärs sowie mit den strengen Moralgesetzen des Islam schildert, resümiert Löffler. Die kunstvolle Verknüpfung von Elementen aus dem Koran, der Bibel, dem Werk Shakespeares, "Tausendundeine Nacht" und Klassikern der westlichen Moderne findet sie brillant. In der SZ staunt Felix Stephan, wie illusionslos Gurnah hier auch vom präkolonialen Sansibar erzählt, in der FR lobt Sylvia Staude den scharfen Blick des Autors.

Rachel Cusk
Der andere Ort
Roman
Suhrkamp Verlag. 205 Seiten. 23 Euro

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Rachel Cusk hat ihre Fans und ihre Gegner. Aber vielleicht versöhnt sie ja der neue Roman? Denn hier setzt Cusk nicht die "Nabelschau" ihrer zuletzt erschienenen autofiktionalen Werke fort, freut sich Daniela Strigl in der Zeit. Nein, sie hat endlich wieder einen "richtigen" Roman geschrieben, ergänzt Wolfgang Schneider in der FAZ. Für ihn ist das Buch schlicht ein "Meisterwerk": Wenn Cusk schildert, wie ein bekannter Künstler namens L. aufgrund der während einer Pandemie eingebrochenen Marktpreise bei einer gewissen M. unterkommt, eine junge Geliebte mitbringt und jene M. bis an die Grenze des Ertragbaren demütigt, erkennt Schneider in Cusk einmal mehr die "subtile" Meisterin in der Darstellung des "Peinigend-Peinlichen im sozialen Miteinander". Die Geschichte spielt an auf die Memoiren von Mabel Dodge Luhan, die vom misslungenen Besuch D.H. Lawrence' berichtete, verrät uns Daniela Strigl in der Zeit, die den Roman nicht zuletzt auch als amüsante Variante der Wahlverwandtschaften liest. Ein "Purgatorium", in dem Cusk psychologisch reinen Tisch macht, nennt Dlf-Kultur-Kritikerin Verena Auffermann den Roman, den sie auch als "raffinierten" Künstlerroman und "erbarmungsloses" Porträt des Älterwerdens liest. Während sich Dlf-Kritikerin Maike Albath dank des bissigen Humors der Autorin "beschwingt" durch den Roman tragen lässt, zieht Christoph Bartmann in der SZ doch die Kühle und Klarheit der Outline-Trilogie vor.

Wassili Grossman
Stalingrad
Roman
Claasen Verlag. 1280 Seiten. 35 Euro

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Als Wassili Grossmans monumentaler Roman "Stalingrad" im Jahr 2019 in englischer Übersetzung von Robert Chandler erschien, war der Jubel in den englischsprachigen Medien groß: "Ein meisterhaftes Requiem für die Sowjetbürger, die in der Schlacht mit Hitler-Deutschland gefallen sind", ein "Werk von lyrischer Kunst und wilder Kraft", schrieb etwa Lukas Harding im Guardian, die Anklänge an Tolstoi deutlich erkennend. Nun liegt der Roman erstmals auf Deutsch vor und in der FAZ erkennt Paul Ingendaay, was "Zensur, Verbot und Textverstümmelung" aus dem 1952 veröffentlichten Roman machten: Im Stalinismus musste Grossman zahlreiche Änderungen vornehmen. Gemeinsam mit dem zuvor erschienenen Roman "Leben und Schicksal" (bestellen) ist das Epos für Ingendaay eine "Analyse der Totalitarismen" und eine "Hommage an die Toten". Wie der Autor durch alle Gesellschaftsschichten zeigt, was Totalitarismus und Krieg anrichten, in bestem literarischen Realismus, mit einer weit gespannten Handlung voll unterschiedlichster Schicksale findet der Kritiker virtuos. Besonders gekonnt scheint ihm Grossmans teilnehmende Figurenzeichnung in wenigen Strichen. Dass der Autor sich bisweilen zu einer Feier des einfachen sowjetischen Menschen im Kampf gegen Hitler versteigt, ist für den Rezensenten der einzige Wermutstropfen. In der Wiener Kleinen Zeitung hebt Bernd Melichar neben dem instruktiven Vorwort des Historikers Jochen Hellbeck vor allem die Kunst Robert Chandlers hervor, der das Werk restaurierte wie ein "beschädigtes Gemälde".

Bryan Washington
Dinge, an die wir nicht glauben
Roman
Kein und Aber Verlag. 384 Seiten. 24 Euro

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Zum Ende des Jahres wollen wir mit diesem Buch des jungen Amerikaners Bryan Washington noch auf ein besonderes Debüt hinweisen. Er erzählt uns vom Liebesverhältnis zwischen einem Afroamerikaner und einem in Houston aufgewachsenen japanstämmigen Mann, die abwechselnd von ihren Familien, von ihrer Kindheit, von Erfahrungen mit Rassismus und Homophobie und von Zuständen der Angst und Einsamkeit berichten. Für FAZ-Kritikerin Verena Lueken ist das Buch der Beweis, dass der Familienroman längst nicht tot ist. Der Mix aus "lässigem Plauderton" und genauer Beobachtungsgabe gefällt ihr besonders. Dies ist genau der Roman, den "unsere aufgeregte Zeit" gerade braucht, jubelt Sylvia Staude in der FR. Denn Washington mache weder großes Aufheben um die Sexualität der Figuren, noch um Themen wie Homophobie, Rassismus, HIV und Armut, ergänzt sie und versichert: Beiläufig bedeutet hier nicht oberflächlich, sondern einfach undramatisch, realistisch. Im Spiegel porträtiert Enrico Ippolito den jungen Autor, der bereits auf der Leseliste von Barack Obama stand und dessen Debüt bald verfilmt werden soll.

Stephan Thome
Pflaumenregen
Roman
Suhrkamp Verlag. 526 Seiten. 25 Euro

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Stefan Thome ist nicht nur ein ausgezeichneter Schriftsteller, sondern auch Sinologe, der seit zwölf Jahren in Taiwan lebt. Nun hat er einen Roman über die Geschichte des Landes geschrieben und in der FAZ will Andreas Platthaus erfahren haben, dass fremdsprachige Lizenznehmer den Roman aus Sorge vor dem Vorwurf kultureller Aneignung nicht übersetzen wollen. Platthaus kann darüber nur den Kopf schütteln: Denn wie Thome die Geschichte Taiwans von den Vierzigern bis ins Jahr 2016 schildert, aus der Perspektive Umekos, die Japonisierung, Sinisierung, Massenimmigration der Chinesen nach der Niederlage der Republik China und chinesische Provokationen bis in die Gegenwart erlebt, findet er einfach großartig. Und wie der Autor die Geschichte, aber auch die Mythen des Landes mit dem Schicksal und den verschiedenen Ansichten von Umekos Familie verknüpft, "subtil" und kenntnisreich, kann Platthaus nur bewundern. Begeistert zeigt sich auch SZ-Kritikerin Insa Wilke, die dem Roman nicht nur einen "kulturellen, politischen, emotionalen", aber nie didaktischen "Crashkurs in ostasiatischen Beziehungen" verdankt. Als "Historiengemälde, das hierzulande kaum vertraute Fakten vermittelt" und "exemplarischen Zeitroman" empfiehlt Martin Oehlen den Roman in der FR. Im Dlf-Kultur-Interview spricht Thome über Taiwan.  

Paul McCartney
Lyrics
1956 bis heute
C.H. Beck Verlag. 912 Seiten. 78 Euro

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Von der Kritik gefeiert wird derzeit nicht nur "Get Back", Peter Jacksons auf Disney+ gezeigte, achtstündige Doku über die Beatles am Vorabend ihrer Auflösung. (Unsere Resümees) Einige Begeisterung löst auch dieses massive, zweibändige Coffeetablebook aus, in dem Paul McCartney gemeinsam mit dem Dichter und Pulitzer-Preisträger Paul Muldoon seine Lebensgeschichte anhand von 154 Beatles-Songs erzählt. Aber nicht nur! NZZ-Kritikerin Viola Schlenz lernt mit dieser "Schatztruhe" vor allem viel über die Entstehung der Songs, erfährt, dass McCartney einen Song von den Beach Boys klaute oder auf seinen U-Bahnfahrten in New York und London dem Voyeurismus frönte, SZ-Kritiker Joachim Hentschel stürzt sich neben Muldoons feinfühligen Essays vor allem auf die "prächtigen" Bilder und anekdotenhaften, wenn auch wenig brisanten Erzählungen. Die ein oder andere Banalität kann er da verzeihen. Verzaubert von der Unmittelbarkeit dieses überwältigend unterhaltsamen Bandes ist Christian Metz im Dlf, und in der FAZ schaut Jörg Thomann angesichts des Erkenntnisgewinns sogar über Spitzen gegen John Lennon hinweg.


Sachbuch

Bill Hansson
Die Nase vorn
Eine Reise in die Welt des Geruchssinns
S. Fischer Verlag. 400 Seiten 24 Euro

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Eine Reise in die Welt des Geruchssinns! Das ist doch mal ein Thema, das jeden interessieren dürfte. Verfasst hat sie der schwedische Neuroethnologe und Direktor des Max-Planck-Instituts für chemische Ökologie Bill Hansson. Aber das Buch ist keineswegs so theoretisch, wie es Hanssons Berufsbezeichnung vermuten lässt, versichert Michael Lange in Dlf Kultur. Kaum Fachterminologie, sondern beste Lesbarkeit und viel Erkenntnisgewinn attestiert er dem Buch, das ihn in eine faszinierende Parallelwelt entführt. Wie Anglerfische sich in der Dunkelheit des Meeres anhand von Gerüchen orientieren, weshalb unsere ungewaschenen Vorfahren ganz anders rochen, wie menschliche Sexualhormone erforscht werden oder wie Geruchstechnologie unseren Alltag beeinflusst, erfährt man zum Beispiel. Hansson blickt auch auf die Veränderungen auf unserem Planeten, die den Geruchssinn von Mensch und Tier durcheinanderbringen: Gase und Stickoxide, synthetische Duftstoffe in Neuwagen und im Ketchup stören die Orientierung von Meeressäugern und Vögeln, lernt Lange. In der FAZ empfiehlt auch Nicola von Lutterotti das Buch, das ihr anschaulich die Bedeutung unseres Geruchssinns erläutert.

Stephan Lamby
Entscheidungstage
Hinter den Kulissen des Machtwechsels
C.H. Beck Verlag. 382 Seiten 22 Euro

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Brandaktuell und fast schon wieder ein wenig historisch ist dieses Buch, das bisher erst SZ-Kritiker Nils Minkmar besprochen hat: Die politischen Dokumentarfilme von Stephan Lamby schätzt er ohnehin, auch über den jüngsten Wahlkampf hat der Journalist einen Film gedreht, aber der Stoff reichte noch für ein Buch, weiß der Kritiker, der das Werk in den höchsten Tönen lobt: Lambys aus den Filmen bekannte wohltuende Distanz, die Raum für eigene Überlegungen lässt, und den angenehmen Verzicht auf zu viel Theorie erkennt Minkmar auch hier. So liest er nicht nur interessiert nach, welche Fehler Armin Laschet während seiner Kanzlerschaftskandidatur machte, wie tief die Risse der CDU reichen oder wie unglücklich Robert Habeck die Plagiatsaffäre um Anna-Lena Baerbock kommentierte, er blickt auch nochmal zurück auf die Bedeutung Angela Merkels für die Union. Kommentare, etwa von Igor Levit zur Stimmung während der Pandemie, oder Interviews mit Corona-Leugnern runden den aktuellen Band ab, lobt der Rezensent. Eine große "Erzählung unserer Gegenwart", ein "Hauptstadt-Roman" gar, schließt er. Der Freitag hat ein Dossier mit Lambys Doku und Lesungen aus dem Buch zusammengestellt.

Golineh Atai
Iran - Die Freiheit ist weiblich
Rowohlt Berlin Verlag. 320 Seiten. 22 Euro

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Golineh Atai verließ den Iran mit ihren Eltern im Alter von fünf Jahren, die Machtergreifung des Ayatollah Khomeini hat sie also kaum miterlebt, dennoch beschäftigt sie der Iran schon ein Leben lang. Nun hat die langjährige Nahost- und Russland-Korrespondentin der ARD ein Buch über die Frauen im Iran geschrieben, das uns Michael Meyer im Dlf unbedingt ans Herz legt. Das Buch, für den Kritiker gleichermaßen "Geschichtsstunde, soziologische Untersuchung und Porträt mutiger Frauen", wirft nicht nur einen Blick auf die längst verpuffte "Grüne Revolution", auf Strafen für Abtreibungen und Empfängnisverhütung und auf andere Repressionen, sondern folgt den Schicksalen von neun oppositionellen Frauen, die demonstrierten oder öffentlich Kritik am Regime übten. Erschüttert liest Meyer in den "eindringlichen" und unmittelbaren Porträts von Folter und Tod, Unterdrückung und Willkür, aber auch vom ungebrochenen Mut der Frauen. Im br-Interview mit Barbara Knopf spricht die Autorin über den Kampf der Frauen im Iran.


Christiana Figueres, Thomas Rivett Carnac
Die Zukunft in unserer Hand
Wie wir die Klimakrise überleben
C.H. Beck Verlag. 216 Seiten. 22 Euro

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Ein optimistischer Blick auf die Klimakrise? Scheint möglich, wenn wir diesem Buch der der beiden Klimaexperten Christiana Figueres und Tom Rivett-Carnac vertrauen. Beide Autoren wirkten am Beschluss des Pariser Weltklimagipfels 2015 mit. Natürlich malen Figueres und Rivett-Carnac zunächst eine Welt der Hitzewellen, Überschwemmungen, Hungerkatastrophen und Zwangsmigration aus, zeigen dann aber auch Möglichkeiten auf, dies zu verhindern, freut sich Johannes Kaiser im Dlf-Kultur: Anpacken, zusammenarbeiten und auf "Renaturierung und Regeneration" setzen, schlagen ihm die Autoren vor und liefern in einem 10-Punkte-Plan Praxistipps für den Alltag mit. So hat Kaiser auch nichts gegen die "emotionale Zuspitzung" im Buch einzuwenden. In der FAZ schaut Christian Schwägerl über den gelegentlichen Ratgeberton hinweg, denn wichtiger scheint ihm, dass die Autoren eindeutige Antworten parat haben: Jeder einzelne ist gefragt beim Kampf gegen den Klimawandel - und zu spät ist es auch noch nicht, lernt er. Darüber hinaus gewähren sie dem Rezensenten Einblicke in das komplizierte Prozedere von Klima-Verhandlungen.