Bücherbrief

Ein menschliches Tier zu sein

08.03.2012. Peter Nádas schreibt Geschichte in die Körper. Stewart O'Nan lässt uns mit Emily allein. Michael Ondaatje fährt noch einmal von Ceylon nach England. Der Arzt Siddharta Mukherjee erzählt die Biografie des Krebses. Und Jörg Baberowski untersucht Stalins Herrschaft der Gewalt. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats März.
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Weitere Anregungen finden Sie in den älteren Bücherbriefen, den Leseproben in Vorgeblättert, der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", den Büchern der Saison vom Herbst 2011, unseren Notizen zu den Literaturbeilagen vom Herbst 2011.


Literatur

Peter Nadas
Parallelgeschichten
Roman
Rowohlt Verlag, 2012, 1728 Seiten, 39,95 Euro



18 Jahre hat Peter Nádas an diesem Roman gearbeitet. Am Ende sind - auf Deutsch - 1728 Seiten entstanden, vor denen die Rezensenten auf die Knie fielen. Nádas erzählt parallele Geschichten aus der Zeit des Mauerfalls 1989, der ungarischen Revolution 1956, der nachrevolutionären Zeit, des ungarischen Nationalfeiertags 1961 und über die Deportation der ungarischen Juden 1944/45 bis - rückblickend - zur Vorkriegszeit der dreißiger Jahre in Berlin. Ein "gigantisches" Werk, wie taz-Rezensent Jörg Magenau ganz richtig bemerkte. Das Besondere daran, von den Rezensenten fast mit einer gewissen Fassungslosigkeit aufgenommen, ist Nádas' Versuch, Gesellschaft und Geschichte "systematisch zu individualisieren" und den Körpern seiner Figuren einzuschreiben, so Wilhelm Droste in der NZZ. Oder wie Joachim Sartorius im Freitag schreibt: "Wie Nádas die Rolle der körperlichen Existenz in der Literatur ausdehnt - des Körpers mit allen seinen wilden und stummen Bedürfnissen, seinen Gerüchen und Ausscheidungen, seiner Anmut und seiner Hinfälligkeit - das ist das Zentrale, das Revolutionärste an diesem Roman. Ich kenne kein anderes Buch, das die Erforschung dessen, was es heißt, ein menschliches Tier zu sein, so weit vorangetrieben hat." Christina Viragh erhielt in jeder Rezension ein eigenes Ständchen für ihre, so SZ-Rezensent Lothar Müller, "makellose" Übersetzung.

Felicitas Hoppe
Hoppe
Roman
S. Fischer Verlag 2012, 336 Seiten, 19,99 Euro



"Hoppe" ist keine Autobiografie, sondern eine Biografie über Felicitas Hoppe, wie die Autorin im Interview mit sich selbst festhält. Im Deutschlandradio erklärte sie: "In dem Versuch, über mich selber zu sprechen, bin ich darauf gekommen, dass mich das, was ich in meinem 'Leben-Leben' nicht geworden bin mehr beschäftigt als das, was ich geworden bin. Dann habe ich mich entschieden, mein Leben so zu erzählen wie ich es gerne gehabt hätte und nicht wie es ist." Im Buch ist Hoppe jetzt Eishockeyspielerin, Musikerin und Erfinderin, wie ein ganz und gar verzauberter Heinrich Detering in der FAZ erzählt. Er hat sich mit Vergnügen - und am Ende "glücklicher und klüger" - in eine "zauberische Parallelwelt" entführen lassen, in der er Bekannte wie Glenn Gould oder Cervantes traf, um wieder herauszutreten. Maike Albath feiert in Cicero den Roman als "atemberaubende Sprachpartitur".

Michael Ondaatje
Katzentisch
Roman
Carl Hanser Verlag 2012, 300 Seiten, 19,90 Euro



Michael Ondaatje erzählt in "Katzentisch" eine Geschichte aus seiner Kindheit in den fünfziger Jahren: die Seereise von Ceylon nach England zu seiner Mutter. Im Roman sind es drei Kinder, die fasziniert ihre Mitreisenden beobachten und sich vorgenommen haben, jeden Tag ein Verbot zu übertreten. Dem hingerissenen FAZ-Rezensenten Markus Gasser begegnen zahlreiche, mit viel Witz und Menschenliebe gezeichnete Figuren wie der melancholische Pianist Max Mazappa, dessen Begleitung Perinetta langweilige Bücher einfach über Bord wirft, oder der sprachbegabte Sperlingsvogel Mynah. In der SZ rühmt Jörg Magenau die bildliche Sprache Ondaatjes. Und im Deutschlandradio versichert Sigrid Löffler, dass wir es hier nicht mit einer bloßen Abenteuergeschichte über drei Jungs zu tun haben. Ondaatje blicke vielmehr zurück auf eine Zeit, in der das Kind, das er war, "so subtil wie dramatisch verwandelt wurde".

Jennifer Egan
Der größere Teil der Welt
Roman
Schöffling und Co. Verlag 2012, 389 Seiten, 22,95 Euro



Ein Roman wie ein Konzeptalbum: 13 Kapitel, von denen jedes als Kurzgeschichte für sich stehen kann, deren Personal aber miteinander verwoben ist, und eine Zeitspanne, die sich vom San Franciscos Ende der Siebziger bis zum New York der Neunziger zieht. Jennifer Egan hat dafür 2011 den Pulitzerpreis gewonnen. Zu Recht, meinen auch die deutschen Rezensenten. Die Zeit "oder genauer: das Vergehen von Zeit" ist das große Thema dieses Romans. Egan versteht ihren Roman als Antwort auf Proust, erklärt Tobias Schwartz, der die Autorin für die Welt in New York getroffen hat. Thema ist aber auch "die Aushöhlung der Musikindustrie durch die digitale Revolution", wie NZZ-Korrespondentin Andrea Köhler von der Autorin erfährt. Die Kritiker hat die Komplexität des Romans nicht abgeschreckt. Unangestrengt, wunderbar emotional und frei von jedem Anachronismus, fand taz-Rezensent Dirk Knipphals den Roman. Felicitas von Lovenberg (FAZ), Marius Nobach (SZ) und Susanne Mayer in der Zeit sahen das ebenso.

Stewart O'Nan
Emily, allein
Roman
Rowohlt Verlag 2012, 384 Seiten, 19,95 Euro



Stewart O'Nans Emily ist eine achtzigjährige Witwe, die mit ihrem Hund zusammen ein gänzlich unspektakuläres Leben führt, gelegentlich aufgepeppt von einem Seniorenbrunch oder einem Treffen mit ihrer Schwägerin Arlene. Es passiert eigentlich nichts, O'Nan erzählt einfach vom Leben einer alten Frau, deren Radius immer enger wird, die den eigenen Tod mit jedem Todesfall im Bekanntenkreis näher rücken fühlt, die sich Sorgen um ihren Hund macht und sich noch einmal ein Auto kauft. Doch diese Ereignislosigkeit, da sind die Rezensenten sich einig, ist ganz und gar hinreißend erzählt. Wenn man sich darauf einlässt, "hat das etwas merkwürdig Kontemplatives", versichert Ulrich Rüdenauer im Tagesspiegel. Profan, aber ergreifend fand Daniela Strigl in der FAZ die kleinen Abenteuer Emilys. Hier wird ein friedliches Leben abseits großer Wellen anrührend literarisch nobilitiert, freut sich Sabine Vogel in der FR. Hier gibt es keine Sentimentalitäten, versichert Jürgen Brocan in der NZZ, "Emily" zeichne sich vielmehr durch die Subtilität der Charakterzeichnung O'Nans aus.

Zeruya Shalev
Für den Rest des Lebens
Roman
Berlin Verlag 2012, 500 Seiten, 22,90 Euro



Eine alte Frau, die im Sterben liegt, und ihre zwei erwachsenen Kinder, die ebenfalls schon Eltern sind - das sind die Hauptpersonen in diesem Roman von Zeruya Shalev. Alle Konflikte kreisen um Liebe: Chemda, die Großmutter, erinnert sich an ihre Eltern, Kibbuzgründer, denen sie nie genügt hat. Sohn Avner sucht die Liebe in einer mysteriösen Frau, und Tochter Dina möchte gegen den Willen ihres Mannes ein Kind adoptieren, nachdem ihre Tochter das Haus verlassen hat. Die FAZ-Rezensentin Ingeborg Harms hat hier nicht nur viel über Projektionen, seelischen Masochismus und emotionale Dramen gelesen, sondern auch einiges über die Geschichte Israels erfahren. In der SZ reagierte Meike Fessmann mit gemischten Gefühlen: Shalevs Sprache und ihre Fähigkeit, familiäre Konflikte darzustellen, sind wie immer beeindruckend, aber die Fülle der Konflikte ist ihr ein bisschen zu viel. Ähnlich sieht das auch Ulrike Baureithel im Tagesspiegel, für die sich bei der Lektüre erst allmählich ein Familiendrama herausschält, "das das jüdische Trauma wiederholt und die Erlösungshoffnung zum Ausgangspunkt hat". (Hier eine

Martin Amis
Die schwangere Witwe
Roman
Carl Hanser Verlag 2012, 414 Seiten, 24,90 Euro



Martin Amis' Roman über einen 22-Jährigen, der im Sommer der Liebe 1970 alle Vorzüge der sexuellen Revolution genießt, hat die Rezensenten amüsiert, aber auch etwas melancholisch gestimmt: Immer Italien, Sonne, Sex, haben die in den Siebzigern nie gearbeitet? Ganz so heiter, wie man erst meint, ist der Roman allerdings nicht, meint ein beeindruckter Jörg Magenau in der SZ: Amis geht es um den Moment, als Sex sich vom Gefühl trennte. Lena Bopp feierte die "Schwangere Witwe" in der FAZ als einen sprachgewaltigen, herausragend konstruierten und mitreißenden Roman. Sebastian Hammelehle rühmt in Spiegel online Amis' "freischwingenden Sprachsound". Und im Tagesspiegel versichert Christoph Schröder: humoristischer und böser als Eugenides. (Hier eine


Sachbuch

Siddharta Mukherjee
Der König aller Krankheiten
Krebs - eine Biografie
DuMont Verlag 2012, 760 Seiten, 26 Euro



Siddharta Mukherjee arbeitet als Onkologe am Columbia University Medical Center in New York. Dass er sich auf dem Gebiet der Krebsforschung auskennt, ist selbstverständlich, aber dass er über die Geschichte dieser Krankheit und ihrer Behandlung so anschaulich und spannend schreiben kann, hat die Rezensenten umgehauen. Angefangen bei Atossa, der Frau des Perserkönigs Dareios, und dem ihr zugeschriebenen Brustkrebs, erzählt Mukherjee von den verschiedenen Behandlungsmethoden, medizinischen Entdeckungen, Fundraising-Kampagnen und einzelnen Fallgeschichten. Absolut vorbildlich findet Martina Lenzen-Schulte in der FAZ eine solche Medizingeschichte. In der Welt lobte Peter Praschl das Pulitzer-preisgekrönte Buch. In einem Interview mit der FR sprach Mukherjee über seine aufwändige Recherche, über die Geschichte der Forschung und die Kälte des Fortschritts: "Im Grunde wechselte man lange Zeit von einer Grausamkeit zur anderen."

Jörg Baberowski
Verbrannte Erde
Stalins Herrschaft der Gewalt
C. H. Beck Verlag 2012, 606 Seiten, 29,95 Euro



Nach diesem Buch von Jörg Baberowski dürfte kaum noch jemand auf die Idee kommen wollen, einen Sinn hinter dem Großen Terror, den Hungersnöten und Gewaltverbrechen, die Stalin über die Sowjetunion brachte, zu suchen. Denn, da sind sich die Rezensenten einig, Baberowski macht klar, dass Stalins Herrschaft nicht der forcierten Modernisierung diente oder dem Neuen Menschen, sondern einzig und allein den Machtgelüsten eines psychopathischen Gewaltmenschen. Elektrisiert und aufgewühlt ist Tagesspiegel-Rezensent Bernhard Schulz von diesem Buch. In der FR lobt Dirk Pilz Kenntnisreichtum und erzählerische Kraft der Studie, mit der Baberowskis zum Teil auch eigene Thesen widerlege. Peter Merseburger hat, wie er in der Welt schreibt, das Buch mit angehaltenem Atem gelesen: Die Analyse des von Stalin gepflegten proletarischen Männlichkeitskult des Tötens erinnerte ihn an Klaus Theweleits "Männerfantasien".

Masha Gessen
Der Mann ohne Gesicht
Wladimir Putin. Eine Enthüllung
Piper Verlag 2012, 368 Seiten, 22,99 Euro



Als einen Politthriller, den sie nicht mehr aus der Hand legen konnten, preisen die Zeitungen dieses Buch über Wladimir Putin, der sich gerade wieder zu Russlands Präsidenten hat wählen lassen (in Tschetschenien mitt 99,7 Prozent!). Die russisch-amerikanische Journalistin Masha Gessen zeichnet das Porträt eines Mannes, der seinen Aufstieg Skrupellosigkeit, Habgier und Täuschung verdankt. Klug und spannend findet SZ-Rezensent Jörg Mettke das Buch, Georg Diez bewundert auf Spiegel Online Gessens packenden Stil: "Sie schreibt Geschichte, als sei es Literatur." In der Frankfurter Rundschau schaudert Arno Widmann vor dem Bild, das Gessen ihm von Putin und Russland darbietet: Ihn beschleicht bei der Lektüre das Gefühl, dass das Land nicht nur von einem kleinkarierten, nachtragenden Machtmenschen beherrscht wird, sondern von einem Verbrecher.

Günther Anders
Die Kirschenschlacht
Dialoge mit Hannah Arendt und ein akademisches Nachwort
C. H. Beck Verlag 2012, 140 Seiten, 16 Euro



Acht Jahre Lang waren Hannah Arendt und Günther Anders verheiratet, von 1929 bis 1937, in der "Krischenschlacht" erinnert sich Anders an diese nicht sehr glückliche Ehe mit Arendt und rekapiuliert all die philosophischen Diskussionen, die er mit ihr geführt. Und in dieser Erinnerung behält er meistens recht oder zumindest das letzte Wort. FAZ-Rezensentin Susanne Klingenstein hat dieses Buch sehr berührt gelesen, als einen furchtbar traurigen Text über eine gescheiterte Liebe. In der Zeit notiert Elisabeth von Thadden ein wenig betreten, wie Anders sich in der Rückschau permanent Recht gibt, und doch war auch sie eingenommen von dem Buch, das in einem zweiten Teil eine bewegende Skizze der beiden Leben bietet, die so viele bittere Wendungen nahmen. Für sie die "merkwürdigste Neuerscheinung des Frühjahrs".