Außer Atem: Das Berlinale Blog

Berlinale 8. Tag

Von Thekla Dannenberg, Lukas Foerster, Ekkehard Knörer
13.02.2009. Baek Seung-Bins "Members of the Funeral" beerdigt Ich liebe Dich. "Deutschland 09" - ein gemischtes Vergnügen, nur nicht im Bordell. Dokumentiert das Leben in den Bergen Montanas aus der Perspektive eines Schafs: Lucien Castaing-Taylors "Sweet grass". Da sitzen dann Michel Piccoli, Bruno Ganz und Irene Jacob im Hotel herum, schwingen große Reden, blicken bedeutungsvoll in die Luft und sind plötzlich nichts anderes mehr als Altlasten des Autorenkinos einer vergangenen Zeit: Theo Angelopoulos' "The Dust of Time".
Beerdigt Ich liebe Dich: Baek Seung-Bins "Jangryesigeui member - Members of the Funeral" (Forum)

"Members of the Funeral" bleibt bis zum Schluss rätselhaft. Nur andeutungsweise erzählt Regisseur Baeck Seung-Bin (Bild) seine vertrackt-verschachtelte Geschichte um den Tod und die Trauer, subtil bleiben die Erklärungen, die Bilder distanziert. Es geht um eine Familie, von der der Tod Besitz ergriffen hat. Der Vater hat den Selbstmord seines von ihm heimlich geliebten Schwimmtrainers nie verkraftet, er arbeitet als Sportarzt und sucht nach jungen Sportlern, denen er sich als Vater anbieten kann. Die Mutter kann ihrem intellektuellen Großvater nicht verzeihen, der ihre Ambitionen, Krimiautorin zu werden, zunichte machte: Gebildete Frauen, dozierte er, seien am besten hinter einem Bankschalter aufgehoben. Nun zertrümmert sie als Literaturlehrerin die Avancen ihrer eigenen Schüler. Die Tochter versucht, den Tod zu begreifen und ihm vielleicht seinen Schrecken zu nehmen, indem sie Leichen herrichtet. Aber auch wenn sie noch so viele Leichen pflegt oder tote Tiere fotografiert, kommt sie dem Geheimnis des Todes doch nicht näher.

Nun sitzen sie da und sollen den Jungen Roh Hee-Joon beerdigen, der für sie alle zum guten Geist geworden ist: für den Vater zum Sohn, für das Mädchen zum Freund und für die Mutter zum literarischem Protege: Sein erster Romanentwurf heißt "Members of the Funeral" und handelt von einer seltsamen Familie, die der Tod nicht aus seinen Klauen lässt.


Wer oder was auf dieser seltsamen Beerdigung eigentlich zur Ruhe kommen soll, werden wir nie ganz begreifen: die bösen Geister der Vergangenheit, die Angst vor dem Tod oder die Hoffnung auf ein glücklicheres Leben. In der bizarrsten Szene des Film graben der Junge und das Mädchen im Wald eine einzelne Hand aus, der auch noch Mittel- und Ringfinger fehlen. Dies sei in der Gebärdensprache das Zeichen für "Ich liebe Dich", erklärt der Junge. Das Mädchen buddelt die Hand wieder ein, fotografiert das Grab mit ihrer Polaroid-Kamera und schreibt auf das Bild: "Hier liegt Ich liebe Dich."
Thekla Dannenberg
Baek Seung-Bin: "Jangryesigeui member - Members of the Funeral". Mit Lee Ju-Seung, Yoo Ha-Bok, Park Myung-Shin und Kim Byul. Republik Korea 2008, 100 Minuten. (Vorführtermine)


Deutschland im Ernst: Der Sammelfilm des aktuellen deutschen Filmbetriebs zur Lage der Nation ist ein gemischtes Vergnügen, außer im Bordell (Wettbewerb, außer Konkurrenz)

"Gemischtes Vergnügen", nicht Omnibus-Film, sollte von Rechts wegen die Genre-Bezeichnung lauten. Hier, jetzt, als Wettbewerbsbeitrag, aber außer Konkurrenz: "Deutschland 09", Großversammlung des deutschen Filmbetriebs; dahinter als spiritus rector der große Vorsitzende Tom Tykwer. Die Idee: 13 RegisseurInnen bringen in 13 Filmen deutsche Gegenwart auf die Leinwand. Das Ergebnis fällt verdammt unterschiedlich aus. Nicht einmal so sehr in der, sagen wir es so verschnarcht, wie es denn auch ist: Grundbefindlichkeit. Gesellschaftskritik, im Zweifel von links, wird fast durchweg geübt, mal ernsthaft, mal komisch, in aller Regel aber doch: eher schlicht im Gemüt.

Das Hochnotpeinliche kommt in die Klammer, es soll nur kurz beim Namen genannt sein. (Nicolette Krebitz, die Sandra Hüller als Ulrike Meinhof, Jasmin Tabatabai als Susan Sontag und Helene Hegemann als Helene Hegemann völlig sinnloserweise als Unvollendete aufeinandertreffen lässt; Sylke Enders, die uns mit kitchen-sink-Blödsinn der dämlichen Art kommt; Wolfgang Becker, der sich, was schrecklich daneben geht, an Gegenwarts-Satire versucht). In die nächste Klammer kommt das eher Egale oder nur Seltsame (Fatih Akin lässt Murat Kurnaz noch einmal sprechen; Hans Steinbichler lässt Josef Bierbichler die FAZ verbrennen und die Redaktion erschießen, weil sie die Fraktur abgeschafft hat (sic!); Hans Weingartner re-inszeniert mit der üblichen Aufdringlichkeit den Fall des fälschlich des Terrorismus verdächtigten Gentrifizierungstheoretikers Andrej Holm; Isabelle Stever führt Streitschlichtung im Kindergarten vor und in Tom Tykwers virtuosem, aber eher hohlem Beitrag reist Benno Fürman als Geschäftsmann durch die Welt).


Der Rest darf raus aus der Klammer, weil er Interessantes versucht und weil es mehr oder minder auch gelingt. Mit Angela Schanelecs "Erster Tag" eröffnet der Film. Ein Gedicht in ruhigen Bildern, statischen Einstellungen, Berlin am Morgen, Menschen, die früh auf sind und dann, kurz sind fast aggressive Streicher zu hören, dann schweigen sie wieder, man hört Tier-Gekrächze, Natur ohne Menschen und am Ende als Schriftbild ein Text von Rolf Dieter Brinkmann übers Weitergehen der Dinge. Ein Auftakt wie ein langsames Einatmen: das ist sehr schön. Am Ende "Seance" von Christoph Hochhäusler, der sich auf die Spuren Chris Markers begibt mit einem in Bildern von Fotos und einzelnen Dingen erzählten Gedankenspiel vom Blick der Menschen zurück auf die Erde vom Mond. Hoch-modern in Musik, Ton und Herangehen, für mich allerdings trägt der Text diesen Ernst nicht so ganz. Völlig anders und als auf beknackte Weise in der Tat komischer Kontrapunkt an zweiter Stelle Dani Levy, dessen surreale Komödie sich manches von Woody Allens Kurzfilm "Oedipus Wrecks" abgeguckt hat und alles an antisemitischen und anderen deutschen Traumata so sehr auf die Spitze treibt, dass sein Sohn Joshua nicht nur wie Ozons Ricky durch die Gegend fliegt, sondern dann unter Nazis im Osten auch noch den Arm zum Hitlergruß hebt.


Bleibt Dominik Graf, der gemeinsam mit Matthias Gressmann einen klugen und sich immer stärker verdichtenden Essayfilm gegen den Versuch gedreht hat, Vergangenheit architektonisch vergessen zu machen. Eine Polemik gegen Fassadenarchitektur, die kaum nostalgisch gemeint ist, sondern nur gegen die Lüge ist, die in Stahl und Glas von Bauten nicht zuletzt am Potsdamer Platz steckt; gegen das Aus-dem-Blick-Drängen des Gewöhnlichen und des Schmutzigen. Dagegen stellt er in dokumentarischen Bildern ganz gewöhnliche Wohnhäuser, stellt er Brachen und Stadtlandschaften im Abseits, spürt er die politische Absicht, die hinter all dem steckt, ganz präzis auf. Den Text seines Essays, der gar nichts verrätselt, spricht er selbst. Sein Film endet mit einer Feier des Moments, den nur die Kamera und der Film festhält. Inhalt und Form finden bei Graf zu einem menschenfreundlichen Pathos, das so nur er kann - und an dem nicht das kleinste bisschen Behauptung ungedeckt bleibt.


Der Höhepunkt der unebenen Deutschland-Rolle ist Romuald Karmakars Film, der schlicht und ergreifend das beste ist, was im ganzen Wettbewerb überhaupt zu sehen war. Die Kamera gleitet ohne Drumrum durch Räume, die sofort als die eines Bordells zu erkennen sind. Aus dem Off eine Stimme, sie spricht Deutsch mit starkem Akzent und wohin das alles so will, erschließt sich erst nach und nach. Der Mann, den wir hören, erzählt aus seinem Leben, und zwar als Betreiber des Bordells, in dem wir und die Kamera bis fast ganz zuletzt auch verbleiben. Und, oh boy, hat er was erlebt. Er erinnert sich an ehemalige Mitarbeiterinnen und beklagt den Niedergang der Arbeitsmoral deutscher Prostituierter in den letzten Jahrzehnten.

Er schildert, wie geblasen, gefickt und gevögelt wurde auf jede erdenkliche Art und auch auf dem Sofa, auf dem er nun so unschuldig sitzt. Und wie er selber immer gern mitgevögelt hat hunderte Mal. Karmakar fragt immer weiter, aus dem Off, und bekommt die an diesem Ort alltäglichen Dinge zu hören, Dinge, die das sind, was die Nachtseite deutschen Alltags zu nennen absurd wäre. Unfassbar komisch ist das in der Mischung aus Nüchternheit der Schilderung und dem Grotesken der beschriebenen Vorgänge. Hinaus läuft es auf eine Hymne des Mannes, der - wie wir nun erfahren - aus dem Iran stammt und dort auch beerdigt sein möchte, auf Deutschland. Danke, Deutschland, sagt er und in dieser Affirmation eines fremden Heimatlands aus dem Mund ausgerechnet dieses Mannes liegt, steckt dann tatsächlich in nuce die ganze Wahrheit über das Land, in dem wir leben.
Ekkehard Knörer
Deutschland 09, 13 kurze Filme zur Lage der Nation. Regie: Fatih Akin, Wolfgang Becker, Sylke Enders, Dominik Graf, Martin Gressmann, Christoph Hochhäusler, Romuald Karmakar, Nicolette Krebitz, Dani Levy, Angela Schanelec, Hans Steinbichler, Isabelle Stever, Tom Tykwer, Hans Weingartner. Deutschland 2009, 151 Minuten (Alle Vorführtermine)


Dokumentiert das Leben in den Bergen Montanas aus der Perspektive eines Schafs: "Sweetgrass" (Forum) von Lucien Castaing-Taylor und Ilisa Barbash

Zu Beginn ein Special Effect mit Schaf. Die Kamera beobachtet ein Schaf beim Weiden. In Großaufnahme. Es kaut, bewegt den Kopf hin und her, die Glocke um seinen Hals bimmelt. Irgendwann dreht es sich langsam in Richtung Kamera. Als es genau in dieselbe blickt, hört es mit einem Mal auf zu kauen, der Hals bewegt sich nicht mehr, die Glocke verstummt. Jetzt ist da nur noch ein starrer Schafskopf zu sehen mit ausdruckslosen Augen.

Der Ethnologe Lucien Castaing-Taylor ist drei Sommer lang zwischen 2001 und 2003 einer Gruppe von Schäfern im Absaroka-Beartooth-Gebirge in Montana gefolgt und hat den Alltag eines - zumindest in den USA - aussterbenden Berufsstandes für die Nachwelt festgehalten. Gleichzeitig ist "Sweetgrass" ein Film über Schafe.


Wunderbar ist in dieser Hinsicht vor allem der erste Teil, der das Leben auf der Schafsfarm aus der Perspektive des Schafs, nicht des Schäfers beschreibt. Schafe rennen hinter einer Futtermaschine her, die eine Grasspur hinterlässt. Schafe werden geboren und mühsam aufgepäppelt. Schafe werden geschoren. Dass Schafe direkt nach der Schur absurd aussehen, wusste man vielleicht. Was für eine Tortur diese Schur aber darstellt, in erster Linie für das Tier, in zweiter aber auch für den Menschen, das konnte man zwar ahnen, aber es in Casting-Taylors Film zu sehen, ist doch etwas anderes.

Als Ethnologien gilt Castaing-Taylors Hauptinteresse natürlich dem Mensch, nicht dem Tier. Später rücken denn auch die Schäfer in den Mittelpunkt von "Sweetgrass". Raue Burschen sind das, viele stammen aus Norwegen, was Anlass zu kleineren Späßen bietet. Diese Schäfer haben ein instrumentelles und dennoch respektvolles, manchmal rührendes Verhältnis zu den Tieren. Die Schafbabys werden ziemlich rabiat durch die Gegend geworfen und auf verfügbare Mütter verteilt. Eines der Babys bleibt übrig und muss von Menschenhand mit Nahrung versorgt werden. Der Schäfer steckt ihm einen Schlauch ins Maul, der mit einer Milchspritze verbunden ist. Dann drückt er dem kleinen Schaf in Windeseile die Ration in den Rachen und presst dabei den Schafsmund mit seinen Fingern zusammen.


Später begleitet Castaing-Taylor Schäfer und Schafsherde auf einer ausgedehnten Reise durchs Gebirge. Die Kamera beobachtet die Handgriffe, wenn ein Zelt fürs Nachtlager aufgeschlagen wird oder sie filmt die Schäfer bei der Jagd auf Bären, die die Herde bedrohen. Auf der Tonspur kommentieren die Schäfer lakonisch-poetisch ihr mühseliges Tagwerk. Wenn sie in ihren Cowboyhüten vor der Berglandschaft stehen, dann muss der Film die Westernbilder nicht lange suchen, sie ergeben sich unmittelbar und automatisch. Man hat das dann aber doch schnell verstanden: Diese Schäfer sind die letzten Cowboys und wie die Cowboys, so werden auch die Schäfer irgendwann verschwinden.

Insgesamt nicht mehr ganz so schön ist der Film, wenn er sich den Tieren, die jetzt nur noch anonyme Herde sind, ab- und den Menschen zuwendet. Aber mindestens eine ganz fabelhafte Passage gibt es doch noch: Einer der Schäfer ist seiner Arbeit gehörig überdrüssig geworden. Während er die störrischen Tiere einen Berg hinauf treibt, überhäuft er sie und, weil er schon einmal dabei ist, auch die Schäferhunde, mit einer Fluchkaskade nach der anderen. Oben angelangt, greift er zum Mobiltelefon und ruft seine Mutter an. Er beschwert sich bei ihr ausgiebig, minutenlang über das aufreibende Leben, das er führen muss. Er könne nicht mehr, wenn das so weitergehe, werde er in ein paar Jahren zum Krüppel. Er würde diese Berge so gerne lieben, doch inzwischen hasse er sie immer mehr. Schließlich legt er auf und ein breites Grinsen legt sich auf sein Gesicht. "Es macht mir Spaß, sie zu quälen", erklärt er der Kamera und macht sich wieder auf den Weg zu seinen Schafen, den nächsten Fluch auf den Lippen.
Lukas Foerster
Lucien Castaing-Taylor, Ilisa Barbash: "Sweetgrass". Dokumentarfilm. USA 2009, 115 Minuten. (Alle Vorführtermine)


The Dust of Autorenkino: Theo Angelopoulos findet aus dem Kunsthandwerk nicht mehr heraus (Wettbewerb)

Ein Film aus einer anderen Zeit. Das einzige, was auf Gegenwart verweist, sind Ausstattungsdetails: Handys, LED-Bildschirme, Automodelle. Ansonsten könnte "The Dust of Time" problemlos aus den Siebzigern stammen, aus der Zeit also, in der Theodoros Angelopoulos seine größten Erfolge feierte. Elegische tracking shots durch ornamental ausgestaltete Kulissen, majestätische Musik, Nebel und alte Männer, Tarkowski lugt um die Ecke und natürlich vor allem Angelopoulos' eigene Filmografie.


Angelopoulos ist ein Säulenheiliger des europäischen Autorenkinos. Bekannt wurde der Grieche mit dem spröden, komplexen, hochpolitischen und vierstündigen Geschichtspanorama "The Travelling Players". Heute sind Angelopoulos-Filme internationale Großprojekte mit Starbesetzung. Diesmal sind unter anderen mit von der Partie: Willem Dafoe, Michel Piccoli, Bruno Ganz und Irene Jacob.

Ich würde diesen neuen Film gerne verteidigen. Schließlich ist da einer, das ist schon immer noch zu erkennen, der Geschichte als etwas begreift, auf das ein Film nicht problemlos zugreifen kann, sondern an das er sich vorsichtig, auf Umwegen herantasten muss. Allein: Ich kann es einfach nicht. Vielleicht ist "The Dust of Time" ohnehin ein Film, der von Anfang an nur für Angelopoulaner gedacht war.


Zunächst fehlt dem Film in jeder Hinsicht das richtige Maß. Ganz weit holt Angelopoulos aus: Polen, UdSSR, Griechenland, Israel, Italien, USA, Berlin, Vietnam, Mauerfall, Stalin, Watergate, Jahrtausendwechsel. Alles muss mit rein, nichts bleibt hängen.

Und nichts lässt der Film aus: Beispielsweise wird schon der Titel literalisiert, es liegt also tatsächlich irgendwann der Staub der Geschichte in der Gegend herum. Der Cast wird bis aufs äußerste gefordert: Bruno Ganz schwadroniert immer wieder etwas vom dritten Flügel des Engels daher, Willem Dafoe läuft bei einer anderen Gelegenheit durch ein symbolträchtiges Tableau voller kapputter Fernsehgeräte. Irene Jacob ist nicht nur deshalb eine Fehlbesetzung, weil der Film sie als Willem Dafoes Mutter verkaufen möchte. Michel Piccoli behält noch am ehesten seine Würde.

Worum geht es eigentlich? So einfach ist das nicht auszumachen. Dafoe gibt einen Filmregisseur namens A., welcher die Lebensgeschichte seiner Eltern Spyros (Michel Piccoli) und Eleni (Irene Jacob) verfilmen möchte, die es mal dahin, mal dorthin und immer wieder in die Gesellschaft des deutschen Juden Jacob (Bruno Ganz) verschlagen hat. Die Erzählungen, die sich um diese vier und eine Reihe weiterer Figuren spinnen, beginnen vor den Toren von Cinecitta, sie sind ungeheuer komplex, erstrecken sich über mehrere Zeitebenen und sind beim ersten Ansehen kaum komplett aufzuschlüsseln.


Die erste Stunde des Films konzentriert sich auf den Lebens- und Leidensweg von Spyros, Eleni und Jacob von den Fünfzigern bis Ende der achtziger Jahre. In dieser Phase gelingen Angelopoulos ab und an eindrucksvolle Sequenzen. Direkt nach Stalins Tod beispielsweise versammelt sich im Film eine Menschenmenge vor einer Statue des Diktators. Während die Nachricht von dessen Hinscheiden verlesen wird, schwebt die Kamera, die sich zunächst auf Augenhöhe der Zuhörer befindet nach oben und registriert schließlich aus der Perspektive des nun doppelt toten Steinstalin, wie sich die einstigen Untergebenen in alle Himmelsrichtungen verteilen. Es sind zwar wenige Aufnahmen, die eine derartige Wucht besitzen, aber in ihnen steckt das Versprechen eines Kinos, das in "The Dust of Time" endgültig aus der Bahn geraten zu sein scheint.

Schon in diesem ersten Abschnitt fügt sich wenig ineinander. Unerträglich wird der Film dann in der Fast-Gegenwart, in Berlin. Dort finden noch einmal alle zusammen und zerbrechen gemeinsam an der Geschichte. Da sitzen dann Michel Piccoli, Bruno Ganz und Irene Jacob im Hotel herum, schwingen große Reden, blicken bedeutungsvoll in die Luft und sind plötzlich nichts anderes mehr als Altlasten des Autorenkinos einer vergangenen Zeit. Jede Geste ist größer als die vorhergehende und je größer die Geste wird, desto hohler ist sie gleichzeitig.
Lukas Foerster
Theo Angelopoulos: "I skoni tou chronou - The Dust Of Time". Mit Willem Dafoe, Bruno Ganz, Michel Piccoli, Irene Jacob. Griechenland 2008, 125 Minuten. (Alle Vorführtermine)


Beißt nicht: Adrian Biniez' "Gigante" (Wettbewerb)

Jara ist ein Wal von einem Mann, die Fülle ist halb Muskel, halb Wampe. Unverkennbar: "Gigante", der Titel des Films, bezieht sich auf ihn. Auf den zweiten Blick freilich zeigt sich: der Flaum auf der Oberlippe, das leicht Täppische seiner Bewegungen, das Riesenbabyhafte seines Gemüts. "Jarita", Jarachen, nennen ihn die Kollegen im Supermarkt und zurecht. Dort nämlich arbeitet er, gehört zum Sicherheitspersonal, tritt seinen Dienst nach Schließung des Ladens an. Am Überwachungsmonitor sitzt er. Zwar sind keine Kunden mehr im Laden, aber auch auf die Putzfrauen, die gerne dies und das mitgehen lassen, gilt es ein Auge zu haben.


Jarita allerdings übertreibt genau das: das Haben eines Auges auf eine Putzfrau. Aus Langeweile zunächst, könnte man sagen, lässt er sich vom coup de foudre ereilen. Ein Blick auf die leeren Gänge des Ladens und, voila, ein Liebesobjekt. Die Putzfrau Julia findet ihren Romeo. Mit der tapsigen Anhänglichkeit eines Welpen (im Körper eines Fleischerhunds) folgt er Julia fortan. Mit Blicken, mit Schritten, mit Schlägen (ein Welpen, das seine Kraft unterschätzt) durch den Supermarkt, durch die Stadt. Montevideo ist die Stadt, die wir so, am Rande immerzu, kennenlernen, an ihrem Strand, Hochhäuser im Hintergrund, endet der Film.

Man kann seinen Vorspann als Allegorie von "Gigante" nehmen: Erst knallt er rein, rote Schrift nur auf schwarzem Grund, zunächst riesig die Buchstaben, man erkennt sie nicht, dann treten sie, lesbar werdend, in den Hintergrund. Ungefähr so, nur von Anfang an zarter, ist auch der Film. Die ersten Bilder, Schnitt für Schnitt durch den Supermarkt, scheinen ein Versprechen auf große Themen: Arbeitsmarkt, Überwachungsblick, der Laden als Apparat, nüchterne Aufnahmen, Ausschnitte, der Betrachter wird hineingeworfen in die Bilder des Films.

Dann treten Konturen hervor, die Liebesgeschichte und aller Rest ist nur Miniatur. Die Miniaturen, die er auf dem Weg dahin zeichnet, sind mal billige Scherze, mal nette Einfälle - und mehr als das sind sie nie. Der einzige Akkord, den der Film kennt, ist von bittersüßer Freundlichkeit und beim ersten Mal vernimmt man ihn noch gern. Spätestens nach der dritten oder vierten Wiederholung jedoch wäre einem eine Abwechslung doch sehr angenehm. Und ein Heavy-Metal-Riff hier und da hilft da gar nichts, sondern macht nur deutlich, dass "Gigante" auch dann nicht beißen will, wenn mal ein bisschen lauter bellt.
Ekkehard Knörer
Adrian Biniez: "Gigante". Mit Horacio Camandulle, Leonor Svarcas, Nestor Guzzini, Federico Garcia, Fabiana Charlo, Ernesto Liotti, Diego Artucio, Carlos Maria Lissardy. Uruguay, Deutschland, Argentinien, Niederlande 2008, 84 Minuten.


Dräut: Peter Stricklands
"Katalin Varga"


"Katalin Varga", der Debütfilm des Briten Peter Strickland, ist totaler Murks. Er unterscheidet sich aber vom Rest-Murks, der wie üblich den Berlinale-Wettbewerb zu einer so freudlosen Angelegenheit macht, und zwar dadurch, dass er Ambitionen hat. Wohin genau die gehen, lässt sich nach Ansicht des corpus delicti nicht mehr ermitteln, hörbar und spürbar sind sie schon.
Der Film dräut. Bevor er einen Schritt tut, bevor er sein schwerfälliges Rache-Maschinchen anwirft, dräut er schon. Auf der Tonspur und auch im Bild. Auf der Tonspur rumort es mit leicht anindustrialisierten Ambient. Auf der Bildspur rumort es mit Schärfeverlagerungen der auffälligen Art. Dieses Rumoren und Dräuen befällt den Film, der sonst karpatische Berglandschaften oder darstellerische Gesichtslandschaften fokussiert, von Zeit und Zeit, man kann darauf warten.


"Katalin Varga" hat eine Protagonistin, die heißt wie der Film. Sie hat einen Sohn und ihr Mann ist nicht dessen Vater. Als er das erfährt, verstößt er sie, schließlich sind wir hier in Osteuropa. (Warum eigentlich? Peter Strickland ist Brite und einen guten Grund, warum er seine finstere Geschichte in den finsteren Osten verlegt, wird man lange suchen müssen.) Als Verstoßene zieht sie aus, mit dem Sohn, um Rache zu nehmen. Zu Fuß und auf einer Pferdekutsche sind Mutter und Sohn unterwegs durch Berglandschaften und Gesichtslandschaften. Dazwischen dräut es verlässlich.

Am Feuer machen die Menschen Osteuropas Musik. Darauf bringt Katalin einen, der mit ihr schlafen will, um. Dann kommt sie da an, wo sie hinwollte. Hier wird die Vorgeschichte erzählt. Die zentrale Szene des Films spielt auf einem Ruderboot. Wir sehen Katalin Vargas Gesicht und dahinter drehen sich verschwommen Wasser und Wald. Dann wirbelt der wahre böse Vater seinen Sohn durch die Luft. Ihm wird nicht verziehen oder vielleicht doch. Die Rache, die Katalin nehmen will, jedenfalls nimmt einen anderen Ausgang als geplant. Gut ist er nicht. Auch einen zweiten Ausgang nimmt der Film. Auch der ist nicht gut.
Ekkehard Knörer
Peter Strickland: "Katalin Varga". Mit Hilda Peter, Norbert Tanko, Tibor Palfy, Sebastian Marina, Melinda Kantor. Rumänien, Großbritannien, Ungarn 2008, 84 Minuten.