Magazinrundschau

Im Nebel unser Irrtümer

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.09.2017. In A2 stellt Filmemacherin Marta Dzido die Frauen in der Solidarnosc-Bewegung vor. Linkiesta porträtiert den Kandidaten der Cinque Stelle für das Amt des Premiers, den 31-jährigen Luigi Di Maio. Der Guardian erzählt, wie Luxemburg die Ausbeutung des Weltalls vorantreibt. In El Espectador denkt Hector Abbad über die Möglichkeiten Gesichtserkennung nach. Der New Yorker bewundert die phantastischen 3-D-Haute-Couture Iris van Herpens. Die LRB feiert die bislang beste Filmdoku über den Vietnamkrieg vor.

New Yorker (USA), 25.09.2017


Iris van Herpen, aus der Haute-Couture-Kollektion Aeriform Winter 17/18

In der aktuellen Ausgabe des Magazins bestaunt Rebecca Mead die Kreationen der niederländischen Modedesignerin Iris van Herpen, die sich von Kabelbäumen im Kernforschungszentrum CERN in Genf inspirieren lässt und 3-D-Druck mit Handnäharbeit verbindet: "Auch wenn van Herpen als eine der innovativsten und konsequentesten Modedesignerinnen gilt, sehen ihre Arbeiten oft eher wie moderne Skulpturen aus. Sie liebt Formen, die die Anatomie herausfordern, und hat Abendkleider mit Eiszapfen aus Akryl entworfen und Tops aus flambiertem Eisengeflecht. Ihre Progammhefte beschreiben stolz das Konzeptuelle der Kleider: In ihrer Show 'Biopiraterie' von 2014 hieß es: 'Genpatente werden verkauft; besitzen wir unseren Körper noch?' Damals ließ sie künstliche Feueropale in seidene Kleider einnähen, die wie sich replizierende Zellen über den Körper wanderten. Van Herpens Arbeit vereint neueste Technologie und Handwerkskunst … Das surrealste ihrer Kostüme war der 'Samurai', ein schwarzer Bodysuit mit Hand-, Fuß- und Kopfteilen, auf den Dutzende Regenschirm-Speichen genäht waren. Die Trägerin des Kostüms war die Pina-Bausch-Tänzerin Clémentine Deluy.  Sie sah monströs aus damit, umgeben von einem zitternden Kranz aus Stacheln, der all ihre Bewegungen verstärkte."

Aus der Sommerkollektion von Amaka Osakwe
Alexis Okeowo porträtiert die Designerin Amaka Osakwe, die im religiös-konservativen Nigeria arbeitet, wo sich Christen und Muslime in einer Sache einig sind: dass eine anständige Frau züchtig gekleidet zu sein hat. "Osakwes Kleider - für Kunden, die sie sich leisten können - sind beides, Rüstung und Lingerie: einschüchternd und zugleich einladend, mit starken Linien und weichem Material. Sie reflektieren ihr Bewusstsein, dass nigerianische Frauen pausenlos darüber verhandeln, wie hart oder wie weich sie in einer patriarchalen Gesellschaft sein können. 'Ich lebe das ja auch, und ich habe immer noch keine gültige Formel dafür gefunden', sagt Osakwe. 'Ich glaube, keine Frau hat das, und jede Frau trifft eine Wahl auf Kosten von etwas anderem.'"

Weitere Artikel: Burkhard Bilger stellt den Plumassier Eric Charles-Donatien vor, einen Mann, der Kleider und Accessoires aus Federn entwirft. Eva O'Leary besucht die Beautycon in Los Angeles, wo an zeitgenössischen Ideen für Makeup gebastelt wird.

Außerdem: James Wood las Jenny Erpenbecks "meisterhaften" Roman "Go, Went, Gone". Sheila Heti stellt die Schweizerisch-italienische Autorin Fleur Jaeggy vor. Emily Nussbaum sah im Fernsehen erste Folgen von "The Deuce". David Remnick las "What Happened", Hillary Clintons Rückblick auf den Wahlkampf. Anthony Lane sah im Kino Darren Aronofskys "Mother!" und "Battle of the Sexes" von Jonathan Dayton und Valerie Faris. Lesen dürfen wir außerdem Jonas Hassen Khemiris Erzählung "As You Would Have Told It to Me (Sort Of) If We Had Known Each Other Before You Died".
Archiv: New Yorker

A2 (Tschechien), 18.09.2017

Lucie Zakopalová unterhält sich mit der polnischen Filmemacherin und Autorin Marta Dzido, die dem Thema "Die Frauen der Solidarność" 2015 einen Dokumentarfilm (Trailer) und jetzt auch ein Buch widmete. Dzido stellte in ihren Nachforschungen fest, dass die Solidarność-Bewegung zur Hälfte aus Frauen bestand und maßgebliche Schritte von Frauen bewirkt wurden - die anschließend komplett in Vergessenheit gerieten. Schon an den Verhandlungen am Runden Tisch 1989 war nur eine einzige Frau beteiligt. Als ein Beispiel erinnert Dzido an Ewa Ossowská, die damals als Neunzehnjährige die Arbeiter dazu bewegte, den Streik nicht schon am dritten Tag wieder abzubrechen. "Auf den Fotos sehen wir ein zierliches Mädchen im weiten Pulli, das zur Menge spricht, die ihr aufmerksam zuhört (…) Wir haben sie lange gesucht und erst bei Neapel gefunden. Es stellte sich heraus, dass sie 1996 emigrieren musste, weil sie keine Arbeit fand und ihre Kinder nicht ernähren konnte. Es hat mich schockiert, die Geschichte einer Heldin der antikommunistischen Opposition zu hören, die gezwungen ist, das freie Polen zu verlassen, um über zehn Jahre als Putzfrau zu arbeiten. Und leider wiederholt sich diese Geschichte."
Archiv: A2

Linkiesta (Italien), 18.09.2017

"Das Ende einer Ära ist der Anfang einer neuen Epoche", schreibt Emanuele Buzzi im Corriere: Beppe Grillo will bei den kommenden italienischen Wahlen nicht als Premier kandidieren, sondern begnügt sich bei den Cinque Stelle mit der Rolle der grauen Eminenz und schickt den 31-jährigen Luigi Di Maio vor, den Francesco Cancellato in einem kleinen Essay in Linkiesta als "Selbstporträt des heutigen Italien" beschreibt - ein keineswegs immer vorteilhaftes Porträt, denn Di Maio war lange arbeitslos, und man machte sich über ihn lustig, weil er Chile und Venezuela verwechselte und mit den italienischen Konjunktiven nicht immer zurechtkommt. Und doch sollte man ihn nicht unterschätzen, meint Cancellato und zählt vier Gründe auf. Einer davon: Er ist gerade mit seinen Schwächen so repräsentativ: "Wer ihn und seine Schwächen angreift, nimmt es mit der Mehrheit der Italiener auf. Mokieren Sie sich über ihn, weil er keinen Abschluss hat? Dann vergessen Sie nicht, dass wir in der Rangfolge europäischer Länder in diesem Punkt an vorletzter Stelle stehen." Und nebenbei steht er "für alles, was in den letzten Jahren bei uns bestraft wurde: Er ist jung, der jüngste Kandidat für den Posten des Premiers, den es je gab, ernannt zudem im Moment der höchsten Jugendarbeitslosigkeit. Und er ist aus dem Mezzogiorno, in dem Moment, wo sich die Schere zwischen Nord und Süd so weit geöffnet hat wie nur je."
Archiv: Linkiesta

Cincinnati.com (USA), 19.09.2017

Sechzig Journalisten, Fotographen und Filmemacher haben auf cincinnati.com eine Woche lang in ihren Gemeinden in einer großen Multimediareportage die Heroin-Abhängigkeit dokumentiert, die sich seit einiger Zeit wie eine Epidemie durch die ganze USA zieht, und in vielen snapshotartigen Szenen beschrieben, was sie gesehen haben. Allein in dieser  Woche, vom 6. bis zum 10. July 2017 wurden in Cincinnati 18 Herointote und 180 Überdosen gemeldet: "Wir haben diese Arbeit mit so vielen Reporten gemacht - die wir in Gerichtsverhandlungen, Gefängnisse, Entzugseinrichtungen, auf die Straßen und zu Familien schickten, die jemanden an Heroin verloren haben - um das wahre Ausmaß der Epidemie sichtbar zu machen. Das unheimlich groß ist. Die Epidemie betrifft, direkt oder indirekt, jeden von uns. Das hat nichts mit Herkunft, Geschlecht, Alter oder finanziellem Hintergrund zu tun. Sie erreicht jedes Viertel, jede Gemeinde, jede Stadt, ganz egal wo. Und sie fordert unser Gesundheitssystem, die Krankenhäuser und Entzugseinrichtungen enorm."
Archiv: Cincinnati.com

Guardian (UK), 18.09.2017

Bisher macht das kleine Luxemburg sein Geld vor allem als Steueroase, jetzt aber, berichtet Atossa Araxia Abrahamian, setzt es auf eine neue Geschäftsidee: Die Ausbeutung des Weltalls. Zusammen mit der Firma Planetary Resources erforschen die Luxemburger die Möglichkeit, aus Asteroiden Rohstoffe zu gewinnen: "Da Firmen wie Planetary Resources auf das kosmische Landgrabbing vorbereiten, bietet Luxemburg seinen winzigen terrestrischen Sitz, um den Kapitalismus ins Weltall zu katapultieren. Früher war das All eine Arena für große nationale Erkundungen, für private Unternehmen ohne staatliche Rückendeckung war sie zu kostspielig, zu komplex und gefährlich. Aber jetzt stoßen private Firmen dazu und werfen Fragen auf, die bis vor kurzem nur hypothetische oder reine Gedankenexperimente waren: Wer darf Anspruch anmelden auf einen Asteroiden und das in ihm steckende Vermögen? Sollte das Weltall dem Wohl 'der gesamten Menschheit' dienen, wie es in den internationalen Verträgen der sechziger Jahre festgeschrieben wurde? Oder ist solcher Idealismus veraltet? Wie bemisst man den Nutzen? Und funktioniert der Trickle-Down-Effekt auch in der Schwerelosigkeit?"

Weiteres: Zu lesen ist außerdem ein Auszug aus Helen Epsteins Buch "Another Fine Mess", das der von Uganda aus operierenden Tutsi-Armee RPF eine Mitverantwortung am Genozid von 1994 in Ruanda zu belegen versucht. Oona A Hathaway and Scott J Shapiro zeichnen nach, wie das Verbot, einen Angriffskrieg zu führen, mehr und mehr aufgeweicht wird.
Archiv: Guardian

Buzzfeed (USA), 18.09.2017

Erleichtert, knapp dem gemeinsamen Pilates entkommen zu sein, dass Annie Clarke alias St. Vincent für das Interview angesetzt hatte, aber auch erschöpft von den Machtspielen porträtiert Laura Snapes die amerikanische Sängerin und Multi-Instrumentalistin, deren neues Album Masseducation Mitte Oktober erscheint. Clarke ist im Gespräch mit Snapes sehr persönlich, erzählt vom Ruhm, ihrem Vater, der wegen Betrugs zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt wurde, und anderen Problemen, die sie zu ihrem teils sehr melancholischen neuen Album 'Masseducation' inspiriert haben: "Selbstbesessenheit wie die ihre wird oft als angeberisch oder pathologisch interpretiert, aber mit der Zeit wurde das Selbstbewusstsein, das die jüngere, ängstlichere Clark spielen musste, zu etwas Realem. In 'Masseducation', einem sehr popig fließenden Album, kann man dieses neue Selbstbewusstsein ganz genau hören. Es ist ihr bisher bestes Album, dabei hat St. Vincent nie schlechte Alben gemacht. Es sind manchmal etwas raue, berauschende Synthiepopstücke, die geleitet werden von ihrer kristall-scharfen Gitarre. Obwohl Clarke vorher schon viele Balladen geschrieben hat, war keine bisher so brutal und schön wie auf diesem Album. Sein Taumeln zwischen Apocalypse und Ekstase zeigt, wie es sich anfühlt, wenn einen die letzten Jahre in den Kopf getreten haben."

Archiv: Buzzfeed
Stichwörter: St. Vincent, Gitarre, Buzzfeed

El Espectador (Kolumbien), 16.09.2017

"Dein Gesicht morgen." Héctor Abad macht sich Gedanken über die aktuellen und künftigen Möglichkeiten der Gesichtserkennung: "Der Economist berichtete neulich, Michal Kosinski von der Stanford University sei es gelungen, ein Artificial Intelligence-Programm dazu zu befähigen, dem Gesicht eines Menschen abzulesen, ob dieser hetero- oder homosexuell orientiert sei. In Russland und China wiederum kann man mittlerweile in manchen Restaurants mithilfe enstprechender Programme seine Rechnung mit einem bloßen Lächeln in die Kamera bezahlen. Ebenso genügt ein Foto, um herauszufinden, wie jemand heißt, und wer ein bisschen mehr bezahlt, erfährt auch, wie viel der Abgebildete verdient, was seine Hobbys sind und wie es um seine Kreditwürdigkeit steht. Bis vor kurzem verdeckten bloß die Frauen der Taliban oder schamhafte Verbrecher (wie etwa ETA-Terroristen) ihr Gesicht mit Burkas, Strumpfmasken oder schwarzen Sonnenbrillen. Vielleicht werden schon bald Millionen ihrem Beispiel folgen, weil sie nicht nur nicht wollen, dass eine Maschine weiß, wo sie geboren sind, wie viel sie verdienen und was sie wollen, sondern auch nicht, wovor sie Angst haben, was sie nicht sind und was sie nicht wollen."
Archiv: El Espectador

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.09.2017

Im vergangenen Monat besuchte der russische Präsident Wladimir Putin Ungarn - in diesem Jahr bereits das zweite Mal -, um als Ehrenpräsident des Judo-Weltverbandes den Judo-Weltmeisterschaften in Budapest beizuwohnen. Es gab beim Besuch eine gemeinsame ungarisch-russische Regierungssitzung und die Universität Debrecen verkündete die Verleihung der Ehrenbürgerschaft an den russischen Präsidenten. Zunächst protestierte der Philosoph Mihály Vajda, der seinen Titel Professor Emeritus zurückgab, danach meldeten sich mehrere Lehrstühle zu Wort und schließlich wurde eine Petition von zahlreichen Universitätsangehörigen zur Verhinderung der Verleihung unterzeichnet. Auch der Philosoph und Hochschullehrer András Kardos distanziert sich von der Entscheidung der Universitätsleitung: Sie "schädigt den Ruf der Universität, denn Putin wird als Vorbild für die Bürger der Universität ausgerufen. Damit verkörpert die Universität - anstatt eine freie und autonome Lehranstalt zu sein -  den sich aktuellen politischen Interessen unwerfenden, institutionalisierten Servilismus."

London Review of Books (UK), 21.09.2017

Die Dokumentarfilmer Ken Burns und Lynn Novick haben für PBS eine zehnteilige Dokumentation über den Vietnamkrieg gedreht, und David Thomson feiert die Doku, die ab heute auch auf arte läuft, als den schlichtweg besten Film, den er je gesehen hat. Unerbittlich und untheatralisch erzählt er keine geordnete Geschichte, meint Thomson, sondern stellt sich dem Chaos: "In Vietnam tappte jeder im Dunkeln, in einem Tunnel. Diese Umhüllung hieß Einsamkeit, 'Gib dein Bestes' oder 'Folge den Befehlen' - es galt, den Krieg und die Befehle zu überleben. Nach dem Film schwirrt einem der Kopf, von der unanständigen Arroganz der Politik und dem hilflosen Gehorsam der Menschen, die dorthin mussten. Es gab vernünftige Aktionen, die Menschen in den Wahnsinn trieben, und Pannen, die Sinn ergaben. Die Tet-Offensive von 1968 war ein Desaster für den Norden, was die militärischen Verluste anging, aber der Anblick des Vietcong in den Straßen von Saigon entsetzte die Amerikaner. Ihnen war erzählt worden, dass sie am Gewinnen wären. Kaum ein Amerikaner kam unverändert zurück. Noch Jahre später erschossen sich die zurückgekehrten Veteranen. Noch mehr vietnamesische Leben waren zerstört, und Vietnam als Ganzes hat sich bis heute nicht erholt... 'The Vietnam War' ist kein schmackhaftes Serienfutter für gequälte Linke, es ist Diagnose in Form von Autopsie. Die Botschaft schleicht sich in uns ein: In einem verheerten Land ist der Humanismus die Narrenversion des Überlebens, eine Idee, die sich im Gras verliert, im Dschungel und im Nebel unser Irrtümer."

Der ewig bleidigte Pankaj Mishra liest recht hämisch Bücher von Edward Luce, David Goodhart und Mark Lilla über den Niedergang des westlichen Liberalismus in Zeiten von Trump und Brexit: "Die Sehnsucht nach der guten alten Zeit bestimmt die Intellektuellen der Ostküste heute so sehr wie die vornehmen Leute, die im Süden die Ehre von General Robert E. Lee verteidigen. Es bleibt abzuwarten, ob Amerika, Britannien, Europa und der Liberalismus wieder groß werden. Es scheint aber offenkundig, dass der Rassist im Weißen Haus und viele seiner Kritiker am gleichen Ziel arbeiten: die Schließzeiten ihrer westlichen Gärten hinauszuzögern."

Weitere Artikel: Thomas Meaney schüttelt den Kopf über die verschnarchten deutschen Medien, die nicht ahnen, dass es auch ihre Aufgabe wäre, ein bisschen politisches Feuer in den Wahlkampf zu bringen. Stattdessen zelebrierten sie unermüdlich "die kluge, starke, geduldige, geerdete, trockene, mitfühlende, taffe, realistische wissenschaftliche, Opern liebende, Bismarckhafte Wunderkanzlerin, mit der man nichts falsch machen kann". Anne Enright schreibt über Frauen im Literaturbetrieb.

Vanity Fair (USA), 14.09.2017

Mit Denis Villeneuves "Blade Runner 2049" kommt demnächst ein Sequel von Ridley Scotts lange schlecht beleumundetem, auf VHS schließlich zum Kultklassiker avancierten Science-Fiction-Film "Blade Runner" von 1982 in die Kinos. Ein Anlass für Michael Schulmann, auf die anstrengende und zermürbende Produktion des Originals, einer sehr freien Adaption eines Romans von Philip K. Dick, zurückzublicken. Unter anderem geht es um die Frage, ob die von Harrison Ford gespielte Figur des Replikantenjägers Deckard - eine Amerikanisierung von Descartes - selbst ein künstlicher Mensch ist. Ridley Scott flirtete bereits frühzeitig mit der Idee (und bekräftigt sie heute in Audiokommentaren), Harrison Ford hingegen war dagegen: "'Ich war der Ansicht, dass das Publikum jemanden auf der Leinwand braucht, mit dem es sich auf menschliche Weise emotional verbunden fühlen kann', sagt der Schauspieler. Sie waren in eine Zwickmühle geraten. Doch auf einmal begann Scott damit, visuelle Hinweise in den Film zu bugsieren, die nahelegten, dass Deckard kein Mensch war - und das, ohne es seinem Star zu sagen. In der Mitte des Films träumt Deckard im Alkoholrausch von einem Einhorn, das durch einen Wald galoppiert. In der letzten Szene hinterlässt ihm Gaff, ein weiterer Replikantenjäger, ein Origami-Einhorn vor der Wohnungstür - ein Zeichen dafür, dass seine innersten Gedanken tatsächlich implantiert gewesen sind. Als sie die Szene drehten, roch Ford den Braten und schrie: 'Herrgottnochmal, ich habe doch gesagt, dass ich kein Replikant bin!'"

Dazu passend: Für GQ hat sich Chris Heath mit Harrison Ford, der berüchtigt dafür ist, sich in Interviews von seiner mürrischsten Seite zu zeigen, für eine ausführliche Home Story getroffen. In "Blade Runner 2049" spielt seine alte Figur ebenfalls eine Rolle - die Hauptrolle hat jedoch Ryan Gosling, der auf dem Set zu spüren bekam, dass der 75-jährige Schauspieler noch immer ziemlich gut zuschlagen kann. "'Sein Gesicht hätte einfach nicht dort sein sollen, wo es war', sagt Ford dazu. 'Sein Job bestand darin, außerhalb meiner Reichweite zu sein. Mein Job war es, sicherzustellen, dass der Fausthieb durchgezogen wurde. Aber wir waren in Bewegung und die Kamera bewegte sich auch, ich musste also den Kamerawinkel mitbedenken, damit der Hieb auch gut aussah. Wissen Sie, ich habe über hundert Mal zugeschlagen - und ihn nur einmal getroffen.' ... 'Er erzählte mir später, dass Sie ihn danach mit einer Flasche Scotch in der Garderobe besucht haben.' - 'Das tat ich.' - '... und ihm ein Glas einschenkten und mit dem Rest der Flasche wieder verschwanden.' - 'Und? Was zur Hölle - hat er ernsthaft erwartet, dass ich ihm die ganze Flache überlasse? Wissen Sie, ich war eigentlich davon ausgegangen, dass ein Drink die Sache aus der Welt schaffen würde. Das reichte ja wohl auch.'"
Archiv: Vanity Fair

Eurozine (Österreich), 13.09.2017

Eurozine bringt einen Essay von Douglas Kerr aus der September/Oktober-Ausgabe des Nachrichtenmagazins New Eastern Europe. Kerr porträtiert Joseph Conrad als einen der profiliertesten Chronisten und Kritiker des Imperialismus, noch dazu einen, der nicht in seiner Muttersprache Polnisch schrieb: "Abgesehen von den Pionieren, den Führern, den Kriminellen, den Visionären, wie Lingard in der Malay-Trilogie oder Kurtz in 'Heart of Darkness', war Conrad interessiert am ausführenden Personal der Herrschaft, den Arbeitern, die die Post brachten, die Geschäfte unterhielten, den Transport übernahmen. Als Seefahrer galt ihm eine Schiffscrew als Ideal der Arbeit und Gemeinschaft … Überall auf der Welt sah und bewunderte Conrad Leute, die ihre Arbeit machten, auch wenn er ihr Ideal des Dienens verdächtigte, auf unrealistischen Vorstellungen zu beruhen. Für diese Leute war Arbeit eine Art, nicht über die Motive und Methoden des imperialistischen Unternehmens nachzudenken, dem sie dienten. 'Wenn du dich so mit den Dingen an der Oberfläche beschäftigst', sagt Marlow in 'Heart of Darkness', 'verschwindet die Wirklichkeit aus dem Blick. Die innere Wahrheit bleibt verborgen - zum Glück.' … Conrad ist einer der größten Chronisten der geteilten, ungleichen Welt der Imperien. Doch wie jeder große Schriftsteller, schuf er Fiktion, die nicht umhin konnte, immer auch zu zeigen, was die Menschen eint."
Archiv: Eurozine

New York Times (USA), 17.09.2017

Der Aufmacher der neuen Ausgabe des New York Times Magazines klingt alarmistisch. Jim Rutenberg vermeldet einen neuen "Propagandakrieg" Russlands gegen den Westen. Ob der Fall Lisa in Deutschland, Brexit oder die amerikanischen Präsidentschaftswahlen, Plattformen wie der staatsfinanzierte Auslandsfernsehsender RT (ehemals Russia Today) oder das Nachrichtenportal Sputnik haben die Finger im Spiel, meint Rutenberg. Dabei unterscheidet sich Erscheinungsbild und Programmgestaltung von RT qualitativ oft kaum von konventionellen meinungsstarken Kabelnachrichten, lernt er. Im Zuge seiner Recherchen landet er schließlich bei John Kelly, Gründer der "Social Media"-Marketing- und Analysefirma Graphika, der seit 2007 die sozialen Medien im Iran und in Russland analysiert sowie die Verbreitung von Fake News in den Sozialen Medien untersucht. "In Netzwerk der fake news steht RT weit oben auf seiner Liste der Accounts, denen die Leute am häufigsten folgen, erklärt Kelly, aber es ist nicht der populärste. Es steht auf Platz 117 von etwa 12.000 Accounts, die er verfolgt. RTs Webseite war die von Fake-News-Konsumenten am zwölfthäufigsten zitierte Quelle, vor der New York Times und der Washington Post aber hinter Breitbart und Infowars. Interessanter ist, wer RT folgt. Es zieht substantielle Leser aus allen Quadranten von Kellys Fake-News-Universum an - Anhänger von Trump wie Anhänger von Bernie Sanders, Unterstützer von Occupy Wall Street wie Libertäre - das macht RT zu etwas besonderem. 'Die Russen pumpen nicht nur den rechten Flügel auf', sagt Kelly. 'Sie pumpen auch den linken Flügel auf - sie pumpen praktisch die Ränder auf, auf Kosten der Mitte.'"
Archiv: New York Times