Magazinrundschau
Analyse muss jetzt eine Moral haben
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
09.12.2008. In Al Ahram ruft Aijaz Zaka Syed den Muslimen zu: Es ist Zeit, den Terroristen entgegenzutreten. In Atlantic ruft Gao Xiqing den Amerikanern zu: Seid nett zu euren Gläubigern. In Przekroj verkündet Lech Walesa (was wir nie bezweifelt haben): Ich kann nur Erster sein. In Nepszabadsag weiß Laszlo Lengyel: Ungarn ist Letzter. Im Merkur erklärt Dina Khapajewa, wie der russische Kriegsmythos die Erinnerungen an den Gulag verdrängen soll. Im TLS geißelt George Brock den Hang zum Moralisieren im heutigen Journalismus.
Al Ahram Weekly (Ägypten), 03.12.2008

Die arabische Welt hat die Türkei lange als Handlanger des Westens betrachtet. Es wäre an der Zeit, diesen Blick zu ändern, meint Mustafa El-Labbad, Direktor des Al-Sharq Centre for Regional and Strategic Studies (mehr hier). "Die türkische Gesellschaft hat einen hohen Preis bezahlt für die kritische Entscheidung, sich nach Westen zu orientieren und säkulare Werte anzunehmen. Doch eine objektive Beurteilung dieser Gesellschaft heute, 85 Jahre nach Gründung der Republik, legt nahe, dass diese Entscheidung größtenteils richtig war. Sicher, die Regierung hat den Säkularismus oft zum Extrem getrieben. Doch muss man zugeben, dass die säkularen Werte trotz der Mängel zu einem parlamentarischen Mehrparteiensystem geführt haben und dass die friedliche Rotation ziviler Autorität den Aufstieg einer Partei zur Macht erlaubt hat, die einen islamischen Hintergrund hat. Für sich spricht auch der enorme wirtschaftliche und politische Fortschritt der Türkei, vor allem, wenn man dies mit dem generellen Niedergang der arabischen Welt vergleicht."
Amin Howeidi, ehemaliger Außenminister und Geheimdienstchef Ägyptens, erzählt, wie er am Tag der Vereidigung von Barack Obama mit Gaddafi zusammensaß und zu ihm sagte: "'Wissen Sie, dass heute der amerikanische Präsident vereidigt wird?' Der libysche Führer sagte, er wisse das. Ich wies darauf hin, dass in unseren Ländern die Macht nur mit dem Tod des amtierenden Führers wechselt, nicht wenn die Verfassung es vorschreibt. Und wenn ein Wechsel der Verfassung widerspricht, ändern wir die Verfassung, damit sie für den neuen Machthaber passt. Gaddafi kicherte und wollte mich nach Libyen einladen, um etwas mehr darüber zu sprechen. Aus irgendeinem Grund kam die Einladung nie."
Außerdem: Nehad Selaiha ist unbeschreiblich froh, dass im Al-Hanagar-Theater endlich wieder Aufführungen stattfinden, nachdem es zwei Jahre geschlossen war - angeblich wegen Renovierungsbedarf, aber wohl eher, weil die ganze Richtung (unabhängige Theatergruppen, junge Künstler, Experimente) nicht passt (Selaiha hat in diesem Jahr zwei mal darüber geschrieben: hier und hier). Rania Khallaf interviewt mit klopfendem Herzen die 69-jährige Theaterikone Samiha Ayoub. Gamal Nkrumah lobt die Dynamik und den kritischen Geist junger afrikanischer Filmemacher beim Cairoer Filmfest.
Outlook India (Indien), 15.12.2008

(Der Artikel ist auf Deutsch in der SZ erschienen.)
Außerdem: Das ganze Heft ist ausschließlich den Anschlägen in Mumbai gewidmet. In der Titelgeschichte schreibt Pranay Sharma über die Möglichkeit eines Krieges zwischen Indien und Pakistan. Noch ist niemand wirklich dafür, aber die Unzufriedenheit mit der Reaktion Pakistanis und auch mit den Amerikanern, die nicht genug Druck auf Pakistan ausübten, ist groß: Sharma zitiert den ehemaligen Diplomaten M.K. Bhadrakumar: "Wir haben nicht erwartet, dass [Condoleezza] Rice hierher kommt und uns sagt, dass sowohl Indien als auch Pakistan Opfer des Terrorismus sind. Wir haben mehr erwartet." Amir San beschreibt die - erst entsetzten, dann wütenden - Reaktionen in Pakistan. Payal Kapadia beschreibt die Auswirkungen des Anschlags auf die jüdische Gemeinde in Mumbai. Die pakistanische Journalistin Nasim Zehra ärgert sich über die indische Ich-stelle-keine-Fragen-Berichterstattung.
Merkur (Deutschland), 01.12.2008

Weitere Artikel: Gustav Seibt erklärt seine Liebe zu Amerika. Robert J. Lieber erteilt selbstbewusst allen Theorien vom Niedergang der USA eine Absage (hier der Artikel im amerikanischen Original). Ulrike Ackermann untersucht am Beispiel Georgiens Europas seltsame Sehnsucht nach Neutralität.
Times Literary Supplement (UK), 26.11.2008
George Brock hat eine vierbändige Anthologie mit Reportagen seit Herodot gelesen - Robert Fox' "Eyewitness to History" - und macht sich Gedanken über die Zukunft des professionellen Journalismus. Das Internet, schreibt er, bereichert den Journalismus, auch wenn er den Professionellen das Leben schwer macht. Zeitungen werden überleben, wenn sie ihre Arbeit mit etwas mehr Selbstkritik betrachten. "Viele Medienkritiker glauben, dass die Aufhebung der Trennung von Fakten und Kommentar die Ursünde ist und dies erklärt, was schief läuft. Aber Zeitungen und verstärkt Radios haben dem Journalismus eine dritte Funktion hinzugefügt: Seriöser Journalismus enthält Informationen (Neuigkeiten) und Sinnstiftung (Kontext, Erklärung und, entscheidend, Auswahl). Jetzt halten es Reporter - und nicht nur Kolumnisten - außerdem für ihre Aufgabe, uns zu erzählen, was akzeptabel ist und was nicht. Analyse muss jetzt eine Moral haben. Wenn Reporter praktizieren, was Martin Bell so beschrieb: 'ein Journalismus der sich ebenso kümmert wie informiert', dann geht das über Sinnstiftung hinaus. Bell mag sparsam sein mit seinem Kümmern, aber nicht alle seine Nachahmer sind es. Was viele Leser, Zuschauer und Hörer ärgert, ist, dass moralisches Urteilen zur Routine geworden ist. Verachtung ist zur Gewohnheit geworden."
Elet es Irodalom (Ungarn), 28.11.2008

Przekroj (Polen), 04.12.2008

El Pais Semanal (Spanien), 07.12.2008
Kenneth Roth, Präsident von Human Rights Watch, kritisiert im Interview mit Gabriela Canas die USA und Deutschland. "Zugegeben, die USA waren nie eindeutige Verteidiger der Menschenrechte, und trotzdem haben sie dazu beigetragen, diese voranzubringen. Die Bush-Ära war jedoch eine Katastrophe - seitdem hat dieses Land ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wie soll man die Folter kritisieren, wenn man selbst foltert? Wie das Verschwindenlassen von Menschen, wenn man es selbst praktiziert?" Auch zu Deutschland findet Roth klare Worte: "Deutschland ist der Hauptverantwortliche für die ungerechtfertigte Aufhebung der EU-Sanktionen gegen Usbekistan nach dem Massaker von Andischan (s. a. hier). Die deutsche Außenpolitik gegenüber den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wird bestimmt durch die Absicht, sich den Zugang zu Gas und Erdöl zu sichern. Die Menschenrechte werden dafür zurückgestellt, das ist wirklich sehr enttäuschend."
New Yorker (USA), 15.12.2008

Weiteres: James Wood bespricht eine Sammlung der frühen Erzählungen von Richard Yates: "Revolutionary Road, The Easter Parade, Eleven Kinds of Loneliness" (Everyman?s Library). Antony Lane sah im Kino das Action-Drama "The Wrestler" von Darren Aronofsky mit Mickey Rourke als ehemaligem Wrestling-Star Randy Robinson, "The Reader", die Verfilmung von Bernhard Schlinks Roman "Der Vorleser" durch Stephen Daldry, und das Priesterdrama "Doubt" von John Patrick Shanley.
Zu lesen ist außerdem die Erzählung "The Woman of the House" von William Trevor und Lyrik von Michael Dickmann und Jonathan Aaron.
Point (Frankreich), 04.12.2008

Gazeta Wyborcza (Polen), 06.12.2008

Außerdem: Rafal Kalukin versucht dem Mythos Walesa mit Ironie beizukommen. "Jeder, der einige Jahre in Polen gelebt hat, musste sich mit dem Mythos Walesa auseinandersetzen und sich einen eigenen Walesa basteln. Seine komplexe Biografie hilft dabei, diese Bilder nach Gusto zusammenzustellen. Es gibt so viele Walesas, wie es Polen gibt. Der echte ist dabei weniger wichtig. Besser noch, er verschwindet ganz, um nicht zu stören." Interessant liest sich auch das Interview mit Frankreichs Außenminister Bernard Kouchner, der zugibt, anfangs nicht geglaubt zu haben, dass ein Katholik eine Revolution machen könnte.
Spectator (UK), 06.12.2008

Nouvel Observateur (Frankreich), 04.12.2008

Zu lesen ist außerdem ein Interview mit Robert Badinter, der zehn Jahre nach der feierlichen Begehung des 50. Jahrestags der UN-Menschenrechtscharta eine ernüchternde Bilanz zieht: "Was für ein Rückschritt seither!" Ebenfalls in einem Gespräch lotet der Historiker Pascal Blanchard, der sich in seinen Büchern mit dem Verhältnis von Körper und Hautfarbe sowie der französischen Kolonialpolitik beschäftigte, nach der Wahl von Barack Obama die Chancen für eine "postrassischen Gesellschaft" aus.
Economist (UK), 08.12.2008

Außerdem erfahren wir, was dafür und dagegen spricht, dass das Internet demnächst in der "Exaflut" zu vieler Daten ertrinkt, die vor allem wegen neuer Videodienste anschwillt. (Der Artikel gibt in der Tendenz eher Entwarnung.) Und dann noch: Die große Liste der wichtigsten Bücher des Jahres 2008.
Dissent (USA), 08.12.2008

Nepszabadsag (Ungarn), 06.12.2008

The Atlantic (USA), 01.12.2008

Im Aufmacher schreibt Henry Blodget aus einer ungewöhnlichen Perspektive über Finanzblasen: Als berühmter Aktienanalyst bei Merrill Lynch hat er während der Internetblase seine Klienten gegen die Wand gefahren und wurde vom damaligen New Yorker Generalstaatsanwalt Eliot Spitzer wegen Betrugs angeklagt. Die jetzige Immobilienblase hat Blodget als Journalist und Hausbesitzer erlebt und festgestellt, dass man auch zu früh aussteigen kann: Sein Haus, das er 2003 verkaufte, verdoppelte seinen Wert noch einmal, bevor die Blase platzte. "Wenn man genug Blasen erlebt hat, lernt man am Ende immerhin etwas wertvolles. Ich habe zum Beispiel gelernt, dass es zwar schmerzt, zu früh auszusteigen, aber es schmerzt weniger als zu spät auszusteigen. Wichtiger noch, ich habe gelernt, dass fast all unsere gewöhnlichen Weisheiten über Finanzblasen falsch sind." Und das erklärt er dann ausführlich.
Außerdem: Benjamin Schwarz singt eine Hymne auf das "epochale" neue Buch des Oxforder Archäologen Barry Cunliffe, "Europe Between the Oceans".
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