Magazinrundschau
Die Magazinrundschau
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.01.2004. Reportajes erinnert an die freundschaftlichen Besuche Jorge Luis Borges' bei General Pinochet. In Atlantic Monthly ruft Kenneth M. Pollack die US-Regierung angesichts nicht vorhandener Massenvernichtunswaffen im Irak zur Selbstkritik auf. Im Express spricht Martin Scorsese über Blues. Dem New Yorker wurde bei der Betrachtung eines Bergsteigerfilms ziemlich schwindlig. Die NY Times Book Review bespricht den neuesten Theroux und porträtiert Franco Moretti. Das TLS feiert das 19. Jahrhundert als Goldenes Zeitalter der Homosexualität.
Reportajes (Chile), 11.01.2004
Wider das Vergessen: Die Rezension eines Romans des peruanischen Schriftstellers Alonso Cueto (mehr) nutzt Mario Vargas Llosa, um in Reportajes, dem Magazin der chilenischen Tageszeitung La Tercera (kostenlose Anmeldung nach einfacher Registrierung), besorgt darauf hinzuweisen, dass gerade einmal drei Jahre nach der abenteuerlichen Flucht Präsident Alberto Fujimoris und seines "Chefberaters" Vladimiro Montesinos eine wachsende Zahl von Peruanern sich nach den angeblich besseren Zeiten unter deren chaotisch-korruptem Regime zurückzusehnen beginne - noch bevor eine wie auch immer geartete Aufarbeitung dieser jüngsten Vergangenheit überhaupt hat einsetzen können. Cuetos Roman "Grandes Miradas" erzählt mit fiktionalen Mitteln die authentische Geschichte des peruanischen Richters Cesar Diaz Gutierrez, der nicht mehr und nicht weniger wollte, als seinen gesetzlichen Auftrag erfüllen, und, wie kaum anders zu erwarten, mit dem Leben dafür bezahlen musste.
In einem anderen Beitrag schildert Marcelo Soto das widersprüchliche Verhalten von Jorge Luis Borges einerseits angesichts des chilenisch-argentinischen Konfliktes von 1978 wie auch des Falkland-Krieges 1982 - beide Male zögerte Borges nicht, den Vorwurf des "Vaterlandsverrats" auf sich zu nehmen und sich eindeutig gegen den Einsatz militärischer Mittel auszusprechen -, andererseits in Bezug auf das Regime General Pinochets, dessen Machtübernahme Borges als selbst erklärter Antikommunist nicht nur ausdrücklich begrüßte, sondern dem er auch 1976 und 1977 freundschaftliche Besuche abstattete, bei denen er sich eitig feiern und hofieren ließ und der Presse erklärte, Pinochet erscheine ihm eine "excelente persona", außerdem sei man in Chile genau wie in Argentinien und Uruguay damit beschäftigt, die Freiheit und Ordnung zu retten. (In die Zeit zwischen diesen beiden Chile-Reisen Borges' fällt die Verschleppung von Juan Gelmans - s. o. Clarin - damals 19 Jahre alter und im achten Monat schwangerer Schwiegertochter Maria Claudia Garcia Irureta Goyena von Argentinien nach Uruguay, wo man sie vor ihrer Ermordung noch ihr Kind zur Welt bringen ließ, um es einem uruguayischen Polizistenehepaar zu übergeben, das selbst keine Kinder bekommen konnte.)
In einem anderen Beitrag schildert Marcelo Soto das widersprüchliche Verhalten von Jorge Luis Borges einerseits angesichts des chilenisch-argentinischen Konfliktes von 1978 wie auch des Falkland-Krieges 1982 - beide Male zögerte Borges nicht, den Vorwurf des "Vaterlandsverrats" auf sich zu nehmen und sich eindeutig gegen den Einsatz militärischer Mittel auszusprechen -, andererseits in Bezug auf das Regime General Pinochets, dessen Machtübernahme Borges als selbst erklärter Antikommunist nicht nur ausdrücklich begrüßte, sondern dem er auch 1976 und 1977 freundschaftliche Besuche abstattete, bei denen er sich eitig feiern und hofieren ließ und der Presse erklärte, Pinochet erscheine ihm eine "excelente persona", außerdem sei man in Chile genau wie in Argentinien und Uruguay damit beschäftigt, die Freiheit und Ordnung zu retten. (In die Zeit zwischen diesen beiden Chile-Reisen Borges' fällt die Verschleppung von Juan Gelmans - s. o. Clarin - damals 19 Jahre alter und im achten Monat schwangerer Schwiegertochter Maria Claudia Garcia Irureta Goyena von Argentinien nach Uruguay, wo man sie vor ihrer Ermordung noch ihr Kind zur Welt bringen ließ, um es einem uruguayischen Polizistenehepaar zu übergeben, das selbst keine Kinder bekommen konnte.)
Clarin (Argentinien), 11.01.2004
![](/cdata/fliess/B2/Q52/A6884/clarin.jpg)
Ein anderer Beitrag bietet einen Ausschnitt aus dem Vorwort von Harold Bloom (mehr hier und hier) zur neuesten englischen Übersetzung des "Don Quijote". Gewohnt launig schiebt Bloom seine Lieblingsspielsteine Dante, Shakespeare und Cervantes samt den Protagonisten ihrer "unirdisch-übermenschlich" großen Werke auf dem Papier hin und her und formuliert u. a. die folgende Relation: "Ich wäre lieber Falstaff oder Sancho als eine Version von Hamlet oder Don Quijote - Alter und Krankheit haben mich gelehrt, dass sein wichtiger ist als wissen. Der Ritter von der traurigen Gestalt und Hamlet sind beide im höchsten Grade draufgängerisch, Falstaff und Sancho legen ein gewisses Maß an Klugheit an den Tag, wenn es um Mut geht." (Derselbe Auszug aus dem Vorwort ist auch im Guardian erschienen)
The Atlantic (USA), 01.01.2004
Das neue Atlantic Monthly ist zwar noch gar nicht online, aber wir haben bei Arts & Letters Daily bereits einen Link darauf gefunden. Kenneth M. Pollack, Autor eines Buchs, das im Vorfeld des Irak-Kriegs äußerst einflussreich war, äußert sich hier über in einem riesigen Essay zur Frage der nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen im Irak und der Desinformation durch die amerikanische Regierung. Seine Conclusio: "Die US-Regierung muss gegenüber der Weltöffentlichkeit eingestehen, dass sie sich über Saddams Massenvernichtungswaffen geirrt hat. Und sie muss zeigen, dass sie gewillt ist, weitreichende Maßnahmen zu ergreifen um die Probleme, die zu diesem Irrtum führten, zu korrigieren. Irak wird nicht die letzte Herausforderung der Außenpolitik sein, in der aufgrund zweideutiger Informationen Entscheidungen getroffen werden müssen." (Hier und hier Essays von Pollack über den Irak aus Foreign Affairs).
Outlook India (Indien), 19.01.2004
![](/cdata/fliess/B2/Q15/A6879/outlook.jpg)
"Hoffnung - endlich". In der Titelgeschichte geht es um die behutsame, hoffentlich wegweisende Annäherung zweier schlagkräftiger Erzfeinde: Auf dem Gipfel der Südasiatischen Vereinigung für Regionale Zusammenarbeit Saarc in der vergangenen Woche trafen sich die Staatschefs Indiens und Pakistans, Vajpayee und Musharraf, und ließen gar ein gemeinsames Papier erarbeiten - noch keine Garantie für Frieden und Zusammenarbeit, aber angesichts des brodelnden Konflikts der vergangenen Jahre ein enormer Schritt nach vorn, findet zumindest V. Sudarshan, der mit seinem Text ein Paket von Analysen und Kommentaren einleitet.
Ansonsten: schlechte Nachrichten. Indien ist bereitwilliger Müllschlucker des Westens; jedes Jahr, hat Anupreeta Das in Erfahrung gebracht, werden illegal 100.000 Tonnen Giftmüll importiert, darunter große Mengen quecksilber- und asbesthaltiger Materialien, die unkontrolliert in schlecht ausgerüsteten Recyclinganlagen verschwinden. Das meiste kommt aus den "sogenannten entwickelten Ländern", schreibt Das und prophezeit, wenn das so weiter geht, einen kurzen Weg von der Müllhalde zum Friedhof. Und Harsh Kabra berichtet von einem Schwarzen Montag in der Gelehrtenstadt Pune, wo vor Wochenfrist eine Gruppe von 150 wütenden Randalierern das altehrwürige Bhandarkar Oriental Institute stürmte und riesigen Schaden im einzigartigen Bestand von raren Büchern und Manuskripten anrichtete.
Economist (UK), 09.01.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q14/A6880/economist.jpg)
Aufschlussreich könnte in dieser Hinsicht auch das mysteriöseste Buch der Welt sein, doch es will sein Geheimnis einfach nicht preisgeben, seufzt der Economist und berichtet über das Buch, das im 16. Jahrhundert dem böhmischen König Rudolph II. gehörte und neben wunderlichen Abbildungen 234 Seiten "schön geformten, aber vollkommen unverständlichen Text" enthält. Bislang hat es allen Entschlüsselungsversuchen standgehalten, doch ein neues Verfahren scheint vielversprechend zu sein. Aber vielleicht gilt ja auch hier: Nicht in Verb in Nomen denken.
In weiteren Artikeln erfahren wir, warum Osama Bin Laden allen Grund zur Freude hat (weil Al-Qaida mit einem "Krieg gegen den Terrorismus" nicht beizukommen ist), welches Profil der optimale Selbstmordattentäter hat (jung, männlich, ledig, religiös und arbeitslos), und schließlich, dass David Frums und Richard Perles neo-konservatives Buch über eine neue Weltordnung ("An End to Evil") zeigt, dass George Bush doch intelligenter ist als seine Berater.
Nur in der Printausgabe zu lesen: Trouble an deutschen Hochschulen und Arnold Schwarzenegger überrascht Kalifornien.
Spiegel (Deutschland), 12.01.2004
![](/cdata/fliess/B2/Q13/A6882/spiegel.jpg)
Nur im Print: ein den Beitrag über Polen ergänzendes Interview mit Präsident Aleksander Kwasniewski über "das Verhältnis zur Europäischen Union" und "die Spannungen zwischen Polen und Deutschland", sowie ein Interview mit Edgar Bronfman und Israel Singer über Judenfeindlichkeit in Europa. Der Titel weiß diesmal: "das Land braucht Akademiker künftig mehr denn je" und fragt, ob Studiengebühren dabei helfen werden.
New Yorker (USA), 19.01.2004
![](/cdata/fliess/B2/Q19/A6886/ny.jpg)
Weitere Artikel: James Kaplan porträtiert den TV-Komiker und Miterfinder von "Seinfeld", Larry David. Das "schroffe Genie" wurde für seine Comedy-Serie "Curb Your Enthusiasm" (soviel wie "Bremsen Sie Ihre Begeisterung") mit einem Emmy ausgezeichnet. Zu lesen ist eine neue Erzählung von George Saunders, Hilton Als schwärmt von der neuen Revue "Kiss My Brass" mit Bette Midler ("immer noch göttlich"), Roger Angell stellt einen Dokumentarfilm über den ehemaligen Verteidigungsminister Robert S. McNamara unter Kennedy und Johnson vor, die "einen Gejagten und einige Wahrheiten über den Krieg" zeigt. Ben Greenman bespricht den neuen Roman "The Man in My Basement" von Walter Mosley und Joan Acocella freut sich über die Wiederentdeckung Joseph Roths.
New York Times (USA), 11.01.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q12/A6878/nyt.jpg)
"Literary Occasions", eine Auswahl kritischer Essays von N.S. Naipaul (mehr) der vergangenen 40 Jahre hat Lynn Freed großes Vergnügen bereitet. "Hinter dem Werk - als eine Art Treibstoff - steckt etwas was man Wut nennen könnte. Es ist die Art Impuls, die Art von bedingungslosem Drang, mit der Sprache zur Wahrheit durchzudringen."
In ihrer wunderbaren Last-Word-Kolumne denkt Laura Miller diesmal über die berüchtigte Schreibblockade und ihre weniger bekannte Schwester Hypergraphia (Schreibzwang) nach. Eine Kur hat sie auch schon, zumindest fürs Erstere. "Denken Sie sich ein grandioses, langfristiges, weltveränderndes Projekt aus wie den guten alten 'Großen Amerikanischen Roman'". Und schon wird alles Andere ein Kinderspiel.
Aus den weiteren Besprechungen: Auf den Titel hat es Anne Tyler (mehr) mit "The Amateur Marriage" (erstes Kapitel) geschafft. William Pritchard hält den Roman, in dem Tyler das Auf- und Ab eines Paares von 1941 bis 2001 verfolgt, für ihr "bisher ehrgeizigstes Werk". Stephen Orgel hat drei neue Bücher über Shakespeare gelesen und ist beeindruckt, wie alle Verfasser es schaffen, dem bekannten Sujet noch etwas Originelles abzugewinnen. Etwas undurchsichtig urteilt James Traub über William Shawcross' polemische Rechtfertigung für den aggressiven außenpolitischen Kurs der USA. "Allies" sei ein wichtiges Buch, nicht so sehr wegen dessen, was der eigentlich liberale Internationalist Shawcross das so geschrieben habe, "sondern dass er es überhaupt geschrieben hat".
Außerdem in dieser inhaltsreichen Ausgabe ein Porträt über Franco Moretti: Der Professor für vergleichende Literaturwissenschaft in Stanford scheint ein wenig der Mann der Stunde zu sein. In Italien bringt er eine fünfbändige neuartige Enzyklopädie des Romans heraus (die FAZ berichtete neulich). In den USA und Britannien macht er durch ein dezidiertes Plädoyer für quantitative Methoden in der Literaturwissenschaft von sich reden, das er in der New Left Review veröffentlichte (mehr hier und hier).
Im New York Times Magazine porträtiert Peter Maass den offensichtlich brillantesten neuen Kopf der Kriegsforschung, Major John Nagl, selbst Veteran des ersten Golfkriegs, der dann in Oxford studierte und sich auf das jetzt im Irak so aktuelle Thema des Counterinsurgency spezialisierte. (Zwei Essays von Nagl hier. Hier sein Buch.)
Times Literary Supplement (UK), 09.01.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q23/A6887/tls.jpg)
Eigentlich könnte man doch genauso gut eine Doktorarbeit über seinen Billardtisch schreiben, provoziert Ferdinand Mount zu Beginn seiner in Auszügen zugänglichen Besprechung eines Buches über die Geschichte der britischen Verfassung (mehr), um sich anschließend um so faszinierter von den sechzehn "sehr informativen" Beiträgen des von Vernon Bogdanor herausgegebenen Buches zu zeigen. Als ein Ergebnis seiner Lektüre findet es Mount merkwürdig, dass die britische Regierung sich von einem Herzstück der Gesetzgebung zu einer "gewöhnlichen Diskussionsrunde unter politischen Freunden" entwickelt habe, zitiert er Anthony Seldon. Das Resultat ist eine sich in "laschen Wellenbewegungen" vollziehende Anhäufung von Entscheidungen, die den Rezensenten "mehr an Mayonnaise als an die Festigkeit eines Rahmenwerks" erinnert.
Außerdem freut sich Bernard O'Donoghue in seiner auszugsweisen veröffentlichten Besprechung ausgewählter Werke von Penelope Fitzgerald (mehr) über die fehlende Eitelkeit der Autorin und über die "freundliche Güte", mit der die Autorin die Welt betrachte. Und Peter Mandler bezweifelt, dass sich die britische Geschichte alphabetisch ordnen lässt und listet Auffälligkeiten und Fehler des von Mark Garnett und Richard Weight verfassten Buches auf.
Nouvel Observateur (Frankreich), 08.01.2004
![](/cdata/fliess/B2/Q9/A6881/nouvelobs.jpg)
Und noch ein Interview: Anlässlich des Erscheinens der französischen Ausgabe seines Buchs "Tour de France", eine Essaysammlung über französische Küche, Lebensart und Literatur, erklärt der britische Schriftsteller Julian Barnes (mehr), was er von Tony Blair hält. "Er hat es eher als John Major geschafft, ein wahrer Nachfolger von Maggie Thatcher zu werden. Blair hat genau wie sie einen ausgesprochenen Geschmack am Krieg." Der Grund, warum er trotzdem nicht dauerhaft in Frankreich leben möchte: die "zweifelhafte Qualität des Beaujolais Nouveau. Man hat sogar in England aufgehört, ihn zu trinken."
Vorgestellt wird außerdem "L?Esquive", der zweite Film von Abdellatif Kechiche (mehr). In der Komödie entdecken Vorstadtjugendliche die "Spiele der Liebe", indem sie für ein Schulfest das gleichnamige Stück von Marivaux einstudieren.
Express (Frankreich), 08.01.2004
![](https://www.perlentaucher.de/cdata/fliess/B2/Q16/A6877/express.jpg)
Interessant auch eine lange Reportage von Vincent Hugeux über die Zustände auf Haiti im Jahr der Revolutionsfeierlichkeiten: "La trahison d'Aristide".