Im Kino

Ständig knallende Schüsse

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh, Friederike Horstmann
12.11.2014. Das Gespenst des Neoliberalismus geht um in Dan Gilroys Thriller "Nightcrawler". Einen konzeptuell streng durchkonstruierten Skiurlaub zeigt Ruben Östlunds "Höhere Gewalt".


Die Rhetorik der Motivationstrainings, die Rhetorik der Bewerbungsgespräche, all den neoliberalen Sprachschrott hat Lou Bloom (Jake Gyllenhaal) soweit verinnerlicht, dass er nicht mehr nur wie ein Mittel zum Zweck, wie eine Performance zur Selbstvermarktung wirkt, sondern in der manischen Dringlichkeit, mit der es zum besten gegeben wird, mit dem Sprecher verschmilzt, eins wird: Man kann alles erreichen, alles schaffen - solange man hart arbeitet, hartnäckig seinen Weg geht, sich in den Dienst einer Sache stellt, niemals vom Ziel abweicht, große Entwürfe wagt, Chancen beim Schopfe packt und skrupellos umsetzt. Wenn Bloom selbst noch, gelinde gesagt, mäßigen Jobs mit dieser Programmatik lautstark hinterher rennt, passt klein Blatt Papier mehr zwischen ihn als Subjekt und das Mindestanforderungsprogramm an jeden Arbeitnehmer in prekären Zeiten. Passend, dass Gyllenhaal sich für diesen Film zum Dörrobst ausgehungert hat, sodass seine Augen ganz besonders intensiv hervortreten und geisterhaft in die Welt glupschen: Ein Gespenst geht um in der Welt - das Gespenst des Neoliberalismus. Und dieser Bloom ist dessen eindringlichste Konkretion.

Wer so spricht, sieht keine Gesellschaft mehr, erkennt ihren Wert nicht, nicht den Schutzraum, den sie da, wo sie funktioniert, bieten kann. Dass Erfolg nie nur eine Sache hartnäckig verfolgter Ambitionen ist, sondern auch eine der Rahmenbedingungen und sozialen Fügungen, bleibt diesem Nachtwanderer Bloom, wie auch der Ideologie, die er vertritt, verborgen. Er ist zugleich der vollkommene Konformist und der vollkommene Individualist im schlechtesten Sinne des Wortes: Eigenbrötlerisch, gesellschaftlich unverantwortlich und uneingebunden - und doch nur die Entsprechung dessen, was vom Einzelnen abverlangt wird. Soziale Bindungen sind für ihn nur aus Perspektive ihres Marktwertes interessant, lässig-freundlicher Umgang mit Menschen findet dort statt, wo es der Beförderung der eigenen Position dient. Mitmenschen sind Mittel zum Zweck. Ein entfernter Verwandter von Travis Bickle, Scorseses Taxi Driver, mit dem Unterschied, dass Bickle sich seiner Position im gesellschaftlichen Off völlig bewusst war, während Bloom sich geradezu affirmativ zu den gesellschaftlichen Zumutungen positioniert, sie umarmt und sich selbst als dazu passenden, idealen Menschen sieht. Er entspricht ja nur, in aller rasender Konsequenz, den Anforderungen.



Inwiefern? Indem er einen Markt sieht und diesen bedient: Ein nächtlicher Unfall auf den Straßen von Los Angeles und die im Nu präsenten Kamerateams, die Aufnahmen des Geschehens binnen kürzester Zeit an die lokalen Fernsehstationen verhökern, lassen ihn begreifen, dass das Geld in dieser Stadt buchstäblich auf der Straße liegt. Mit billigem Equipment und der Soziopathen eigenen, ganz besonderen Skrupellosigkeit rückt er den Unfällen und deren Opfern eindrücklich auf den Leib, stößt sich mit Ellbogenmentalität in die inneren Strukturen der Fernsehsender - und hilft schließlich, als er mehr von seinem Job versteht, bei den Unfällen durch Handanlegen nach. Was am Ende zählt, ist der Marktwerkt des blutigen Abbildes einer längst von Partikularinteressen überformten Realität. Als Bloom auf seiner Nachtpirsch mit seiner Kamera einen kaltblütigen Mord dokumentiert, verstrickt er sich zusehends in die Ermittlungen, die er schließlich nach seinem eigenen Interesse dirigiert - die Kamera stets in Griffnähe.

"Nightcrawler" rückt auf geradezu klaustrophobisch enge Nähe an seine Figur. Einen äußeren Andockpunkt, an den sich die Empörung und Entrüstung über diese Figur innerhalb des Films festmachen ließe, verweigert Regisseur Dan Gilroy mit aller Konsequenz: Die kaputte Welt, die er zeigt, ist total, sie erhebt bis zum galligen Ende universellen Geltungsanspruch, ohne dass der Film sich selbst mit ihr gemein machen würde.

Lediglich die so ruhigen wie klaren, präzisen Digitalbilder, die Kameramann Robert Elswit diesem so endlosen wie profillosen Los Angeles abtrotzt, bieten eine Art ästhetische Distanz zu Blooms mitunter schäbig anzusehenden Crash-Movies. Gerade in dieser Ahnung von Differenz und Distanz liegt der Hoffnungsschimmer, den sich "Nightcrawler", wenn auch leise, gönnt: Vielleicht gibt es noch die Aussicht auf eine Alternative zu einer Welt, in der sich ausnahmslos alles einem Marktwert unterzuordnen hat. Die Konsequenz, mit der "Nightcrawler" die Mechanismen dieser Welt auf den Punkt zuspitzt, macht ihn zum adäquaten Horrorfilm zur gegenwärtigen Zeit.

Thomas Groh

Nightcrawler - USA 2014 - Regie: Dan Gilroy - Darsteller: Jake Gyllenhaal, Michael Papajohn, Marco Rodriguez, Bill Paxton, Ann Cusack, Rick Garcia - Laufzeit: 117 Minuten.

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Alles beginnt mit hübschen Familienfotos zu Beginn des Skiurlaubs in den französischen Alpen. Hoch in den Bergen im Nobelwintersportquartier posiert eine schwedische Familie für einen penetranten "photograph touristique". Er produziert Erinnerungsbilder direkt vor der Alpenkulisse. Doch schon am ersten Urlaubstag wird die landschaftliche Idylle gestört, der Schein des bloß Naturhaften freigelegt: Zahlreiche Maschinen organisieren Bewegungen und Transporte. Pistenraupen und Liftanlagen lärmen. Ihre Motorengeräusche produzieren Dissonanzen. Inmitten der eindrucksvollen Berglandschaft dröhnen Detonationen. Schallkanonen sind auf der Tonspur von Anfang an und permanent präsent. Sie sollen die Lawinengefahr testen und kontrolliert die Schneemassen ins Rutschen bringen. Die ständig knallenden Schüsse hallen ohrenbetäubend zwischen den hoch aufragenden Felsmassiven. Ihr Donnern stiftet Unsicherheit und eine Unheilsatmosphäre. Zusätzlich werden die Bilder mit den drastischen Klangeffekten aus Antonio Vivaldis "L"estate" unterlegt, mit Akkordbrechungen und virtuosen Tonleitern, die sich hektisch in höhere Tonlagen hinaufschrauben, um ihrerseits heftige Naturereignisse zu vertonmalern.

Am zweiten Tag wird die vordergründige Bergidylle vollends erschüttert: Gemeinsam sitzt die Familie beim Mittagessen auf der Restaurantterrasse mit Panoramablick, als plötzlich eine Lawine auf sie zurast. Zunächst werden Smartphones gezückt, um das spektakuläre Naturschauspiel zu filmen. Aber als die Schneemassen mit voller Wucht weiter wachsen und rasend näher kommen, bricht Panik aus. Überstützt ergreift der Vater die Flucht, während die Mutter sich schützend über die beiden Kinder legt und im weißen Nebel verschwindet. Aus der digitalen Schneewolke erklingen schrille Schreie. Erst langsam formieren sich aus dem weißgrauen Bild schemenhafte Schattenbilder. Als sich der Dunst lichtet, kehrt der Vater, als sei nichts gewesen, zum Tisch zurück. Zwar sind alle körperlich unversehrt, doch ist nichts mehr wie es vorher war. Die unterschiedlichen Reaktionen der Eltern verrücken das Familiengefüge, hinterlassen Schock und Scham, stellen sämtliche Gewissheiten in Frage: Vertrauen und Verantwortung, Identitäten und Geschlechterrollen. Dies produziert ebenso Ängste, wie es Emanzipationen andeutet.



Ständig wechseln Launen, Tränen werden vorgetäuscht und Versprechen gebrochen. Die Kinder streiken, werden störrisch und quengelig. Ebba verstört die mangelnde Courage ihres Mannes. Sie kann es nicht lassen, vor wechselndem Publikum Tomas mit seinem Verhalten zu konfrontieren und zu erzählen, dass er sie und ihre Kinder in einer Notsituation im Stich ließ. Befreundete Paare müssen die Rolle von Amateurtherapeuten übernehmen. Lange leugnet Tomas sein eskapistisches Verhalten und manövriert sich in eine Feigheit zweiter Ordnung. Wie schon in der allerersten Szene des Films versucht er, ein Bild zu bewahren. Ein idealisiertes Bild, das scheitern muss. Als kammerspielartiger Kosmos ist das moderne, in sich abgeschlossene Hotel immer wieder Austragungsplatz für Diskussionen über unterschiedliche Sichtweisen, über Überlebensinstinkt, Moral und Verantwortungsgefühl.

Formale Strenge zeigt sich auch in der Struktur des Films: Östlund unterteilt ihn in fünf Kapitel, gliedert die Urlaubstage von Ankunft bis Abreise. Als visuelle Interpunktion trennen Schwarzbilder und Zwischentitel den Erzählablauf. Routinen werden gezeigt, Muster freigelegt: Aufstehen, frühstücken, Ski fahren, abends Freunde treffen und danach die Zähne elektrisch putzen. Innen surren batteriebetriebene Bürsten, draußen rattern Raupen, um die Piste zu präparieren. Östlund nutzt die täglichen Routinen, um Verschiebungen im Verhalten der Familie zu verfolgen: Vor dem Vorfall ist die vierköpfige Familie gemeinsam im Badezimmer. Alle tragen eine einheitliche Skiunterwäsche in Knallblau. Nach dem Vorfall putzen erst noch zwei, dann am übernächsten Abend nur noch einer alleine die Zähne. Dementsprechend verbleicht die Kleidung zu hellgrauen und weißen Tönen.

Die Kamera observiert das fragile Verhältnis der Figuren in wechselnde Perspektiven: In Innenräumen sind die Aufnahmen vornehmlich statisch und streng kadriert, Symmetrien bestimmen das tableauhafte Abendtafeln mit Familie oder Freunden. Während des Skifahrens werden diesen festen Einstellungen gelegentlich durch begleitende Kamerabewegungen aufgebrochen. Östlund zeigt Verfehlung und Verrat im spärlich fahlen Winterlicht. In seiner nicht wirklich wirtlichen Welt entfärben sich die Farben in Außenaufnahmen zu Weiß, in Innenräume überwiegen Töne in Braun und Anthrazit - ein Film in getrübter Farbintensität. Wie das durchdesignte Hotel wirken die professionell kadrierten und farbkorrigierten HD-Bilder oftmals kontrolliert und kühl. Die vielen statischen Einstellungen und das sterile Ambiente des Hotels erzeugten eine entsprechend unbehagliche Atmosphäre. Zur Sterilität gehören karge Badezimmer mit grauen Granitplatten und lange Flure, deren hölzerne Verstrebungen zu geometrischen Formen hin aufgelöst werden. Im hermetischen Hotelkomplex bewegen sich die Figuren durch menschleere Gänge oder stehen vor verschlossenen Türen und in Fahrstühlen. Farbe, Licht und Schauplätze formen einen penetrant unterkühlten Lebensraum. Nur momenthaft wird die nüchterne Laboranordnung durch Verspieltheiten gebrochen. Östlund setzt auf ein streng durchkonstruiertes Konzept, auch auf die Gefahr hin, die Geduld ob all der distanziert sezierenden Blicke und stilistischen Redundanzen zu überspannen.

Friederike Horstmann

Anmerkung der Redaktion: Der Start des Films ist um eine Woche auf den 20. November verschoben worden!

Höhere Gewalt - Schweden 2014 - Originaltitel: Turist - Regie: Ruben Östlund - Darsteller: Johannes Kuhnke, Lisa Loven Kongsli, Clara Wettergren, Vincent Wettergren - Laufzeit: 118 Minuten.